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Die in Versen verfassten Memoiren Luo Yings (Pseudonym des gefeierten Dichters, Forbes Milliardärs und Bergsteigers Huang Nubo) führen den Leser in die Tiefen der Kulturrevolution (1966-1976), indem der Autor ihre Auswirkungen auf sein Leben in einem Akt persönlicher Courage mit erschütternder Präzision und Klarheit nachzeichnet. Die "Große Proletarische Kulturrevolution" stellt einen kritischen Punkt auf Chinas Weg ins Zeitalter der Moderne dar. Betroffen von ihren Folgen war eine Gesellschaft ebenso wie ein Junge, der in ihre malmenden Zahnräder geriet und zugleich zum Opfer und Täter der…mehr

Produktbeschreibung
Die in Versen verfassten Memoiren Luo Yings (Pseudonym des gefeierten Dichters, Forbes Milliardärs und Bergsteigers Huang Nubo) führen den Leser in die Tiefen der Kulturrevolution (1966-1976), indem der Autor ihre Auswirkungen auf sein Leben in einem Akt persönlicher Courage mit erschütternder Präzision und Klarheit nachzeichnet.
Die "Große Proletarische Kulturrevolution" stellt einen kritischen Punkt auf Chinas Weg ins Zeitalter der Moderne dar. Betroffen von ihren Folgen war eine Gesellschaft ebenso wie ein Junge, der in ihre malmenden Zahnräder geriet und zugleich zum Opfer und Täter der Kulturrevolution wurde. Mit Hilfe von Lyrik, die das Politische und das Persönliche, das Soziale und das Individuelle nebeneinanderstellt, beschreibt er, wie linksradikale Massenbewegungen und Fraktionskämpfe zutiefst das private Alltagsleben prägten. Düstere, jedoch eindringlich lebhafte Bildnisse seiner Mutter, seines Vaters, der Klassenkameraden und Mitarbeiter enthüllen dabei das Ausmaßdes unsagbaren Schadens, den die Gesellschaft davontrug. Den Autor bewegt nicht nur der Wunsch, mit Hilfe der Dichtung seine Erinnerungen dem Vergessen zu entreißen. Mehr noch ist es die alptraumhafte Ahnung, dass sich die darin enthaltenen Erfahrungen wiederholen können. Zu tief haben sie sich in die Denk- und Verhaltensmuster der Bevölkerung, aber auch der Elite, der Gewinner wie der Verlierer, eingegraben und leben dort als "Rotgardisten-Gene" fort.
"Erinnerungen an die Kulturrevolution" verschafft dem Innenleben eines von seinen Erlebnissen verfolgten Mannes Gehör und bezeugt eine traumatische Zeitspanne, die mit ihrer Ideologie die menschliche Individualität zu zerschmettern drohte. Luo Yings Lyrik verkörpert das lebendige und eloquente Zeugnis der Stimme eines Individuums, dem es gelang, den entsetzlichen sozialen und historischen Umständen standzuhalten.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.11.2017

Wenn Rotgardisten Karriere machen
Der Konzernchef Huang Nubo zeigt, wie die Dämonen der Kulturrevolution China noch heute heimsuchen

Als der Autor drei Jahre alt ist, bringt sich sein Vater um, weil er, der Parteifunktionär, es nicht ertragen kann, als Konterrevolutionär denunziert zu werden. Sechs Jahre später stirbt, völlig ausgelaugt, auch die Mutter; das neunjährige Kind ist ein von allen Lehrern und Kindern malträtierter Vollwaise, der selbst keiner Prügelei aus dem Wege geht. "Auf Geheiß schlugen mich die Mitschüler mit ihren hölzernen Speeren", schreibt er heute: "Kaum war ich runter vom Podium, griff ich einen Schemel und drosch ihnen die Schädel blutig."

Mit der Kulturrevolution wird der Autor dann ein "Krieger des Vorsitzenden Mao", und seine Rauflust bekommt eine übergeordnete Lizenz. Zusammen mit anderen Schülern zieht er in die Dörfer, um Großgrundbesitzer zu bekämpfen. Sie werfen einen alten Bauern zu Boden und treten gegen seinen Kopf. "Am folgenden Tag", heißt es ungerührt weiter, "sah ich die Kinder des Großgrundbesitzers einen Sarg tragen und Papiergeld verstreuen."

Chinesische Augenzeugenberichte wie dieser, die einem den Atem stocken lassen, sind in den letzten Jahrzehnten schon öfter in den Westen gelangt und haben auch ihm eine Vorstellung davon gegeben, was die Große Proletarische Kulturrevolution bei den Menschen weit unten an der Basis angerichtet hat. Doch eine solche Datumsangabe hat man in diesem Zusammenhang noch nicht gelesen: "8.11.2012, 03:50, Los Angeles, San Marino Boulevard 1416". Der Autor dieser Aufzeichnungen in freien, weder durch Reim noch durch Rhythmus gebundenen Versen nähert sich der Vergangenheit räumlich und hinsichtlich des Lebensstils aus maximaler Distanz. Er befindet sich in seiner Villa, auf Interkontinentalflügen oder auf Reisen in Kalifornien, wenn er vom Selbstmord seines gedemütigten Schuldirektors schreibt, von den öffentlichen Hinrichtungen von Konterrevolutionären, an denen er und seine Freunde begierig teilnahmen, von den tödlichen Messerstechereien zwischen Rotgardisten und den Rebellengruppen der Bergleute, von den Leichen der Getöteten, die von Müllsammlern aus dem Westkanal gefischt wurden.

Sein gegenwärtiger Status schwingt bei allen diesen grausamen Erinnerungen immer mit: Luo Ying ist das Dichterpseudonym für Huang Nubo, der als Chef des Immobilien- und Tourismus-Konzerns Zhongkun zu den reichsten Menschen Chinas gehört. Vor ein paar Jahren erregte er sogar international Aufsehen, als er versuchte, ein größeres Stück Land für ein Tourismus-Projekt in Island zu erwerben. Sein Vorleben als Beamter im kommunistischen Propagandaapparat erzeugte in Island den Verdacht, er handle als Instrument geostrategischer Interessen der Volksrepublik - der Kauf kam nicht zustande. In Deutschland wurde er durch sein Weltreise-Projekt bekannt, bei dem er im Lauf der Zeit alle Unesco-Weltkulturerbestätten besuchen will; unter dem Titel "Herr Huang in Deutschland" erschienen die mal enthusiastischen, mal erbosten Tagebuchnotizen über Begegnungen und Dienstleistungserfahrungen der ersten Station.

Ebenso ungewöhnlich wie der Status des Autors ist, dass er die furchtbare Geschichte bis heute fortschreibt. Die Menschen, die dem Ich-Erzähler bei seiner Karriere nach der Kulturrevolution in hohen Funktionen begegnen, sind alle von der Phase der entfesselten Gewalt versehrt: sei es als Opfer, die nun jede Gelegenheit nutzen, sich an anderen zu rächen, sei es als Täter, die misstrauisch alle Welt als Feind betrachten. "Um an vertrauliches Material zu gelangen", heißt es von einer Vizeabteilungsleiterin, "war sie imstande, den Schreibtisch des Ministers oder die Schubladen seines Sekretärs zu durchwühlen." Das ist eine Szene aus dem Inneren des Propagandaministeriums, in dem der Autor nach einem Studium der Literaturwissenschaften tätig war; danach wurde er Angestellter in einem Verlag und schließlich Unternehmer mit beträchtlichem Erfolg. Ein Unternehmer allerdings, der seine Identität mindestens genauso sehr in seiner Existenz als Dichter und als Bergsteiger vorfindet.

Frappierend ist, wie wenig er sich selbst bei der Schilderung der Machtkämpfe schont. Mit allen legt sich der Ich-Erzähler an, ohne Skrupel, seinerseits in schmutziger Wäsche zu wühlen, und mit allen Finten, die er als Jugendlicher gelernt hat, andere fertigzumachen. "Schlag zu! Sich als Rotgardist zu zeigen, entscheidet auch im 21. Jahrhundert über Sieg und Niederlage", schreibt er einmal. Seine Vogelperspektive als Autor vermengt sich mit der seiner Position im Apparat: "Ich habe ihre Personalakten gesehen, weiß, dass sich alle unaufhörlich bekämpft haben und bekämpft wurden, dass alle mal Täter, mal Opfer der Kampagnen waren."

Es ist ein einziger Klagegesang in Versen, eine "moderne Volksballade" nennt sie der Autor. Das Irritierende ist, dass bis zuletzt keine höhere Position sichtbar wird, von der her man sich über das Grauen beruhigen könnte - keine höhere Moral, keine Institution, kein Bewusstsein, das die Abgründe füllt und die Widersprüche auflöst. Der Autor selbst gibt nicht zu erkennen, dass er nun von einer gesicherten Warte aus auf frühere Irrungen zurückblickt; er hat auch nicht den Ehrgeiz, die Kulturrevolution oder auch seinen eigenen Aufstieg in deren strukturellen Voraussetzungen zu analysieren. Dennoch sind diese direkten, atemlosen Erlebnis-Substrate einer gewalttätigen Ära ein außergewöhnliches Dokument, und es erstaunt nicht, dass sie in China nicht veröffentlicht werden dürfen.

Übersetzt hat die Notizen Michael Kahn-Ackermann, der ehemalige Direktor des Goethe-Instituts in China. In seinem Vorwort bezeichnet er die in dem Buch geschilderten Schrecken als ein eher alltägliches Schicksal der Angehörigen von Huangs Generation. Den Autor selbst scheint vor allem die Sorge umzutreiben, dass sich die Geschichte wiederholen könnte: "In einer Zeit, wo die Chinesen den ,nackten Beamten' erfinden, ist eine Wiederkehr der Kulturrevolution jederzeit möglich." Man ahnt, welche Dämonen auch die Erfolgreichsten in China bis heute heimsuchen.

MARK SIEMONS.

Luo Ying: "Erinnerungen an die Kulturrevolution". Moderne Volksballade.

Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann. Georg Olms Verlag, Hildesheim 2017. 267 S., geb., 19,80 [Euro].

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