Max Frisch
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Entwürfe zu einem dritten Tagebuch
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Im August 2009 meldeten die Feuilletons eine Sensation: In einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Max-Frisch-Archivs in Zürich war das Typoskript eines bisher unbekannten Werks des Schweizer Autors gefunden worden: 184 Seiten, von Frisch auf Tonband diktiert, von seiner Sekretärin in die Maschine getippt. Der Autor selbst hatte auf der Titelseite notiert: "Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982".Max Frisch lebte zu dieser Zeit in New York, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Alice Locke-Carey, bekannt als "Lynn" aus der Erzählung Montauk. Ihr ist das Tagebuch 3 gewidmet, u...
Im August 2009 meldeten die Feuilletons eine Sensation: In einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Teil des Max-Frisch-Archivs in Zürich war das Typoskript eines bisher unbekannten Werks des Schweizer Autors gefunden worden: 184 Seiten, von Frisch auf Tonband diktiert, von seiner Sekretärin in die Maschine getippt. Der Autor selbst hatte auf der Titelseite notiert: "Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982".
Max Frisch lebte zu dieser Zeit in New York, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Alice Locke-Carey, bekannt als "Lynn" aus der Erzählung Montauk. Ihr ist das Tagebuch 3 gewidmet, und vermutlich fällt das abrupte Ende der Aufzeichnungen Mitte der achtziger Jahre mit der Trennung von der Amerikanerin zusammen. Die USA und die Schweiz, die Reagan-Administration und das belastete Verhältnis zu der um vieles jüngeren Frau, der Kalte Krieg und der Krebstod eines engen Freundes: Wie die beiden legendären, 1950 und 1972 erschienenen Tagebücher verzeichnet auch das Tagebuch 3 Augenblicksnotizen neben längeren reflexiven Passagen und hebt das scheinbar flüchtig hingeworfene Notat in den Rang des Literarischen: "Es gibt in Amerika alles nur eins nicht: ein Verhältnis zum Tragischen."
Max Frisch lebte zu dieser Zeit in New York, zusammen mit seiner damaligen Lebensgefährtin Alice Locke-Carey, bekannt als "Lynn" aus der Erzählung Montauk. Ihr ist das Tagebuch 3 gewidmet, und vermutlich fällt das abrupte Ende der Aufzeichnungen Mitte der achtziger Jahre mit der Trennung von der Amerikanerin zusammen. Die USA und die Schweiz, die Reagan-Administration und das belastete Verhältnis zu der um vieles jüngeren Frau, der Kalte Krieg und der Krebstod eines engen Freundes: Wie die beiden legendären, 1950 und 1972 erschienenen Tagebücher verzeichnet auch das Tagebuch 3 Augenblicksnotizen neben längeren reflexiven Passagen und hebt das scheinbar flüchtig hingeworfene Notat in den Rang des Literarischen: "Es gibt in Amerika alles nur eins nicht: ein Verhältnis zum Tragischen."
Frisch, Max
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung. Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erscheint Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.
von Matt, Peter
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern (Schweiz), studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich und Nottingham (England). Von Matt lehrte über 25 Jahre als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich und schreibt regelmässig Beiträge für die Frankfurter Anthologie. Von Matt lebt in Dübendorf bei Zürich.
Max Frisch wurde am 15. Mai 1911 in Zürich geboren und starb am 4. April 1991 an den Folgen eines Krebsleidens in seiner Wohnung in Zürich. 1930 begann er sein Germanistik-Studium an der Universität Zürich, das er jedoch 1933 nach dem Tod seines Vaters (1932) aus finanziellen Gründen abbrechen musste. Er arbeitete als Korrespondent für die Neue Zürcher Zeitung. Seine erste Buchveröffentlichung Jürg Reinhart. Eine sommerliche Schicksalsfahrt erschien 1934 in der Deutschen Verlags-Anstalt Stuttgart. 1950 erscheint Das Tagebuch 1946-1949 als erstes Werk Frischs im neugegründeten Suhrkamp Verlag. Zahlreiche weitere Publikationen folgten.
von Matt, Peter
Peter von Matt, geboren 1937 in Luzern (Schweiz), studierte Germanistik, Anglistik und Kunstgeschichte in Zürich und Nottingham (England). Von Matt lehrte über 25 Jahre als Professor für Neuere Deutsche Literatur an der Universität Zürich und schreibt regelmässig Beiträge für die Frankfurter Anthologie. Von Matt lebt in Dübendorf bei Zürich.
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© Andrej Reiser / Suhrkamp Verlag
Produktdetails
- Verlag: Suhrkamp
- Seitenzahl: 212
- Erscheinungstermin: 1. April 2010
- Deutsch
- Abmessung: 188mm x 117mm x 20mm
- Gewicht: 258g
- ISBN-13: 9783518421307
- ISBN-10: 3518421301
- Artikelnr.: 27942384
Herstellerkennzeichnung
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Auch auf Impotenz ist kein Verlass
Unverhofft ist er hier noch einmal zu hören, der Zeitgeist der frühen achtziger Jahre - von einem der Klassiker des Jahrhunderts: Max Frischs "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch".
Von Wolfgang Schneider
Der alte Max Frisch wurde zum Virtuosen der Verknappung und Aussparung, er entwickelte seine Schweizer Spielart der Lakonie. Immer spärlichere Werke wurden dem Misstrauen gegenüber dem Erzählen abgewonnen. Dass sein Tagebuch aus den Jahren 1982/83 nun als Zufallsfund veröffentlicht wird, hat angesichts dieser Tendenz zum allmählichen Verstummen und Verschwinden eine gewisse Logik. Der Autor hatte den aufgegebenen Text, weil er ihn für vernichtet hielt, für
Unverhofft ist er hier noch einmal zu hören, der Zeitgeist der frühen achtziger Jahre - von einem der Klassiker des Jahrhunderts: Max Frischs "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch".
Von Wolfgang Schneider
Der alte Max Frisch wurde zum Virtuosen der Verknappung und Aussparung, er entwickelte seine Schweizer Spielart der Lakonie. Immer spärlichere Werke wurden dem Misstrauen gegenüber dem Erzählen abgewonnen. Dass sein Tagebuch aus den Jahren 1982/83 nun als Zufallsfund veröffentlicht wird, hat angesichts dieser Tendenz zum allmählichen Verstummen und Verschwinden eine gewisse Logik. Der Autor hatte den aufgegebenen Text, weil er ihn für vernichtet hielt, für
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Nachlassverfügungen überhaupt nicht mehr in Betracht gezogen; vor einiger Zeit wurde in den Unterlagen seiner damaligen Sekretärin eine Abschrift gefunden. So kommt der späteste Frisch auf die Nachwelt: aus dem Abfall geborgen. Lakonischer geht's nicht; vielleicht hätte ihm das sogar gefallen.
Dabei enthält dieses Tagebuch durchaus nicht nur Mäßiges und Unfertiges, sondern auch sorgfältig bearbeitete und verdichtete Texte, große Passagen wie die Phantasmagorie vom "Lebensabendhaus". Groß ist allerdings auch Frischs Unlust an Worten und Meinungen; sie hemmt die literarische Arbeit. Schon die 1982 erschienene Erzählung "Blaubart" wird hier als "Fratze" und "gekonnte Grimasse" verworfen. "Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe"; "Ein fast unüberwindlicher Ekel vor der Schreibmaschine"; "Ich schüttle Sätze, wie man eine kaputte Uhr schüttelt." Mit meditativer Bewunderung schaut er dagegen einem alten Handwerker beim Bauen einer Mauer zu: diese "Zärtlichkeit mit einem Stein", diese "tätige Geduld", die er selbst als Autor mit schwerem Alkoholproblem nicht mehr aufbringt.
Die Begründung, die Frisch für die versiegende Produktivität gibt, kann nicht überzeugen: "Offenbar verdränge ich, was ich durch das Alter erfahre, und deswegen habe ich nichts zu sagen." In Wahrheit hat er die Erfahrung des Alters nie verdrängt, sondern sich schon in vergleichsweise jungen Jahren darauf gestürzt. Im "Tagebuch 1966-1971" gehören die Reflexionen über das Altern zum Stärksten; bereits in "Homo Faber" erlebt sich Walter Faber als auf suspekte Weise alt im Gegensatz zu seiner übermäßig jungen Freundin. Das Alter ist ein Stück gelebter Verfremdung und das Überspielen seiner Spuren eine Komödie - von daher so ungemein produktiv für Frischs psychologische Beschreibungskunst. Auch in diesem Tagebuch blitzen bisweilen in alter Weise dialektischen Pointen auf: Warum findet man sich mit dem Verlöschen der Sexualität im Alter nicht ab? "Weil auch auf Impotenz kein Verlass ist."
Ein verlässliches Leitmotiv ist der Tod: Sei es, dass dank der Rodearbeit eines Gärtners plötzlich der benachbarte Friedhof unvermutet ins Sichtfeld rückt, sei es, dass übler Aasgeruch aus dem Tessiner Keller aufsteigt - Schaden der Kühltruhe nach Gewitter. Oder sei es ein Zwischenfall in Ägypten, auf der letzten Reise mit dem unheilbar an Blasenkrebs erkrankten Freund Peter Noll, dem Frisch hier ein anrührendes Gedenken widmet.
Die Stimmungskunst in den Beschreibungen der Nil-Landschaft kontrastiert hart mit dem Protokoll eines Siechtums zum Tode. Noll erleidet einen Zusammenbruch; Frisch bestellt ein Rettungsflugzeug aus Zürich. Makabre Szene auf dem Weg zum Flugplatz: "Der arabische Fahrer hat verstanden, dass mein Freund sehr krank ist, und fährt langsam auf der holprigen Straße, dann aber zu langsam: vor uns ein arabischer Leichenzug; der Sarg, eine Kiste aus rohem Holz, getragen von sechs Männern, wackelt inmitten einer Sippe, die singt. Kein Überholen möglich." Das ist Frisch auf der Höhe seiner Kunst.
In der Abkehr von der "allwissenden" Erzählerposition hatte er einst seine artistische Form des Tagebuchs entwickelt: als fortlaufende Bewusstseinsstudie, als literarisches Labor, wo Ideen skizziert, wo Geschichten und Formen ausprobiert werden. Damit haben diese späten Aufzeichnungen nur noch wenig zu tun. Öfter wirken sie wie eine Nachschrift zur autobiographischen Prosa von "Montauk". Dort wurde - als Gegenmodell zu Frischs schuldverstrickten Ehen - von einer zwanglosen, unkomplizierten Liebe zu einer viel jüngeren Frau erzählt. "Lynn wird kein Name für eine Schuld": dieser Satz aus "Montauk" wird jetzt zitiert und ergänzt, bezogen auf das reale Vorbild Alice Locke-Carey, mit der Frisch wechselnd im New Yorker Loft und im Tessiner Landhaus lebt (F.A.Z. vom 3. April): "Wird Alice der Name für eine Schuld?" Zumindest baut sich von ihrer Seite eine Wand aus mal stummen, mal therapeutisch beredten Vorwürfen auf: "Stunden lang spricht sie von sich aus kein Wort, sie liest, und wenn ich etwas sage, zeigt sie mit keiner Miene, ob sie es gehört hat." Er dagegen hört geduldig zu, wenn Alice ihr "Daddy"-Problem analysiert, das sie auf Frisch und sein bevaterndes "Besserwissen" überträgt. Sie nimmt teil an Gruppentherapien und Psycho-Workshops - Frisch gibt die Berichte über die Gefühlsarbeit möglichst neutral wieder und fügt dann doch nicht ohne Befremden über die amerikanische Therapiekultur hinzu: "Am besten nehme ich es als Landeskunde."
Dabei versteht er sich nach wie vor als Fürsprecher der Emanzipation, nur stellt er auch Einbußen fest: "Zu sehen ist der notorische Katzenjammer, der zurzeit viele Lebensläufe mitteljunger Frauen kennzeichnet, da sie nur Liebhabern gegenüber sich nicht als Opfer fühlen und daher unter keinen Umständen für einen Partner da sein wollen oder können." Aber noch gibt es die Momente des Einverständnisses ohne störende Worte, etwa auf einer Bergtour: "Ich kann vollkommen glücklich sein . . . Wenn sie hundert Schritte vor mir wandert, als gehörten wir nicht zusammen, und wenn sie vor sich hin singt, bis sie plötzlich wartet, um mich nach dem Namen eines grotesken Pilzes zu fragen, den ich natürlich nicht kenne . . ."
Frisch hat nie zu den großen Unzeitgemäßen gehört. Vielmehr ist es eine Qualität dieses Schriftstellers, dass er den Zeitgeist in seinen Werken akkurat gespiegelt hat, ohne in der Sackgasse des bloß Modischen zu landen. Es gibt wenige Romane, in denen man das Aroma der zweiten Moderne der fünfziger und sechziger Jahre mit ihrem Ingenieursgeist und dem neuen interkontinentalen Lebensstil so nachschmecken kann wie in "Stiller" oder "Homo Faber". In den Dreißigern war auch Frisch erfasst von Wanderburschenseligkeit; im "Tagebuch 1966-1971" schlägt sich die forcierte Politisierung nieder. "Montauk" passte in die verkaterten Siebziger, die sich der zuvor revolutionär verworfenen Literatur auf dem Weg des Authentisch-Autobiographischen ("Neue Subjektivität") wieder annäherten. Kaum erstaunlich deshalb, dass sich dann auch der Zeitgeist der frühen achtziger Jahre im Tagebuch niederschlägt: nukleare Panik.
Nichts ist allerdings so schnell vergessen wie der Weltuntergang, der nicht stattgefunden hat. Während die apokalyptische Stimmung der Jahre vor 1914 im Nachhinein sehr angebracht erscheint, wurden die kollektiven Ängste der Achtziger widerlegt vom unerwartet konstruktiven Verlauf der Historie. Heute ist das Thema so entrückt, dass Frischs Ausführungen dem Herausgeber Peter von Matt fast peinlich erscheinen: "Selbst wenn man die frühen achtziger Jahre politisch wach erlebt hat, ist man überrascht von dem vehementen Empfinden eines unmittelbar drohenden Atomkriegs und der möglichen Vernichtung der ganzen Menschheit." Offenbar hat von Matt nicht zu den Millionen gehört, die damals in Europa auf Friedensdemonstrationen gingen. Oder zu den siebenhunderttausend, die - Frisch mittendrin - im Central Park protestierten und den (womöglich durch Computerpanne ausgelösten) Atomkrieg nur noch für eine Frage der Zeit hielten.
Frischs ambivalente Amerika-Faszination weicht in Zeiten des finalen Wettrüstens dem zornigen Antiamerikanismus. "Max, you hate my country": Mit diesem Ausruf wird Alice einmal zitiert. Es ist Wut über ungezügelten Kapitalismus und imperiale Arroganz, Hohn über das maskenhafte Dauerlächeln des amerikanischen Optimismus, der so schlecht zur eigenen Verbitterung passt: "Zuversicht als Tugend und Pflicht". Das Endzeit-Bewusstsein ist für Frisch zudem der letztgültige Anlass zum Schreiben - so war es schon, als er sich ein halbes Jahrhundert zuvor der Tagebuchform zuwandte: Der einberufene Soldat verfasste unter der Drohung des Zweiten Weltkriegs "für die letzte Zeit, die noch blieb", die Notizen der "Blätter aus dem Brotsack".
Ob Frisch der Publikation des Tagebuchs zugestimmt hätte, ist eine müßige Frage. Niemand kann im Ernst fordern, neuentdeckte Texte eines Klassikers des zwanzigsten Jahrhunderts unter Verschluss zu halten oder irgendwo als Marginalie zu verstecken. Auch wenn dies kein Meisterwerk ist - jeder Leser dieses Autors ist dankbar für das Buch, für den Ton, der hier unverhofft noch einmal zu hören ist, für Sätze von unverkennbarem Frisch-Zauber, für die Momente lapidarer Schönheit, wenn das zerquälte Bewusstsein zur Ruhe kommt: "Mittage am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken."
Max Frisch: "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 213 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Dabei enthält dieses Tagebuch durchaus nicht nur Mäßiges und Unfertiges, sondern auch sorgfältig bearbeitete und verdichtete Texte, große Passagen wie die Phantasmagorie vom "Lebensabendhaus". Groß ist allerdings auch Frischs Unlust an Worten und Meinungen; sie hemmt die literarische Arbeit. Schon die 1982 erschienene Erzählung "Blaubart" wird hier als "Fratze" und "gekonnte Grimasse" verworfen. "Es langweilt mich jeder Satz, den ich geschrieben habe"; "Ein fast unüberwindlicher Ekel vor der Schreibmaschine"; "Ich schüttle Sätze, wie man eine kaputte Uhr schüttelt." Mit meditativer Bewunderung schaut er dagegen einem alten Handwerker beim Bauen einer Mauer zu: diese "Zärtlichkeit mit einem Stein", diese "tätige Geduld", die er selbst als Autor mit schwerem Alkoholproblem nicht mehr aufbringt.
Die Begründung, die Frisch für die versiegende Produktivität gibt, kann nicht überzeugen: "Offenbar verdränge ich, was ich durch das Alter erfahre, und deswegen habe ich nichts zu sagen." In Wahrheit hat er die Erfahrung des Alters nie verdrängt, sondern sich schon in vergleichsweise jungen Jahren darauf gestürzt. Im "Tagebuch 1966-1971" gehören die Reflexionen über das Altern zum Stärksten; bereits in "Homo Faber" erlebt sich Walter Faber als auf suspekte Weise alt im Gegensatz zu seiner übermäßig jungen Freundin. Das Alter ist ein Stück gelebter Verfremdung und das Überspielen seiner Spuren eine Komödie - von daher so ungemein produktiv für Frischs psychologische Beschreibungskunst. Auch in diesem Tagebuch blitzen bisweilen in alter Weise dialektischen Pointen auf: Warum findet man sich mit dem Verlöschen der Sexualität im Alter nicht ab? "Weil auch auf Impotenz kein Verlass ist."
Ein verlässliches Leitmotiv ist der Tod: Sei es, dass dank der Rodearbeit eines Gärtners plötzlich der benachbarte Friedhof unvermutet ins Sichtfeld rückt, sei es, dass übler Aasgeruch aus dem Tessiner Keller aufsteigt - Schaden der Kühltruhe nach Gewitter. Oder sei es ein Zwischenfall in Ägypten, auf der letzten Reise mit dem unheilbar an Blasenkrebs erkrankten Freund Peter Noll, dem Frisch hier ein anrührendes Gedenken widmet.
Die Stimmungskunst in den Beschreibungen der Nil-Landschaft kontrastiert hart mit dem Protokoll eines Siechtums zum Tode. Noll erleidet einen Zusammenbruch; Frisch bestellt ein Rettungsflugzeug aus Zürich. Makabre Szene auf dem Weg zum Flugplatz: "Der arabische Fahrer hat verstanden, dass mein Freund sehr krank ist, und fährt langsam auf der holprigen Straße, dann aber zu langsam: vor uns ein arabischer Leichenzug; der Sarg, eine Kiste aus rohem Holz, getragen von sechs Männern, wackelt inmitten einer Sippe, die singt. Kein Überholen möglich." Das ist Frisch auf der Höhe seiner Kunst.
In der Abkehr von der "allwissenden" Erzählerposition hatte er einst seine artistische Form des Tagebuchs entwickelt: als fortlaufende Bewusstseinsstudie, als literarisches Labor, wo Ideen skizziert, wo Geschichten und Formen ausprobiert werden. Damit haben diese späten Aufzeichnungen nur noch wenig zu tun. Öfter wirken sie wie eine Nachschrift zur autobiographischen Prosa von "Montauk". Dort wurde - als Gegenmodell zu Frischs schuldverstrickten Ehen - von einer zwanglosen, unkomplizierten Liebe zu einer viel jüngeren Frau erzählt. "Lynn wird kein Name für eine Schuld": dieser Satz aus "Montauk" wird jetzt zitiert und ergänzt, bezogen auf das reale Vorbild Alice Locke-Carey, mit der Frisch wechselnd im New Yorker Loft und im Tessiner Landhaus lebt (F.A.Z. vom 3. April): "Wird Alice der Name für eine Schuld?" Zumindest baut sich von ihrer Seite eine Wand aus mal stummen, mal therapeutisch beredten Vorwürfen auf: "Stunden lang spricht sie von sich aus kein Wort, sie liest, und wenn ich etwas sage, zeigt sie mit keiner Miene, ob sie es gehört hat." Er dagegen hört geduldig zu, wenn Alice ihr "Daddy"-Problem analysiert, das sie auf Frisch und sein bevaterndes "Besserwissen" überträgt. Sie nimmt teil an Gruppentherapien und Psycho-Workshops - Frisch gibt die Berichte über die Gefühlsarbeit möglichst neutral wieder und fügt dann doch nicht ohne Befremden über die amerikanische Therapiekultur hinzu: "Am besten nehme ich es als Landeskunde."
Dabei versteht er sich nach wie vor als Fürsprecher der Emanzipation, nur stellt er auch Einbußen fest: "Zu sehen ist der notorische Katzenjammer, der zurzeit viele Lebensläufe mitteljunger Frauen kennzeichnet, da sie nur Liebhabern gegenüber sich nicht als Opfer fühlen und daher unter keinen Umständen für einen Partner da sein wollen oder können." Aber noch gibt es die Momente des Einverständnisses ohne störende Worte, etwa auf einer Bergtour: "Ich kann vollkommen glücklich sein . . . Wenn sie hundert Schritte vor mir wandert, als gehörten wir nicht zusammen, und wenn sie vor sich hin singt, bis sie plötzlich wartet, um mich nach dem Namen eines grotesken Pilzes zu fragen, den ich natürlich nicht kenne . . ."
Frisch hat nie zu den großen Unzeitgemäßen gehört. Vielmehr ist es eine Qualität dieses Schriftstellers, dass er den Zeitgeist in seinen Werken akkurat gespiegelt hat, ohne in der Sackgasse des bloß Modischen zu landen. Es gibt wenige Romane, in denen man das Aroma der zweiten Moderne der fünfziger und sechziger Jahre mit ihrem Ingenieursgeist und dem neuen interkontinentalen Lebensstil so nachschmecken kann wie in "Stiller" oder "Homo Faber". In den Dreißigern war auch Frisch erfasst von Wanderburschenseligkeit; im "Tagebuch 1966-1971" schlägt sich die forcierte Politisierung nieder. "Montauk" passte in die verkaterten Siebziger, die sich der zuvor revolutionär verworfenen Literatur auf dem Weg des Authentisch-Autobiographischen ("Neue Subjektivität") wieder annäherten. Kaum erstaunlich deshalb, dass sich dann auch der Zeitgeist der frühen achtziger Jahre im Tagebuch niederschlägt: nukleare Panik.
Nichts ist allerdings so schnell vergessen wie der Weltuntergang, der nicht stattgefunden hat. Während die apokalyptische Stimmung der Jahre vor 1914 im Nachhinein sehr angebracht erscheint, wurden die kollektiven Ängste der Achtziger widerlegt vom unerwartet konstruktiven Verlauf der Historie. Heute ist das Thema so entrückt, dass Frischs Ausführungen dem Herausgeber Peter von Matt fast peinlich erscheinen: "Selbst wenn man die frühen achtziger Jahre politisch wach erlebt hat, ist man überrascht von dem vehementen Empfinden eines unmittelbar drohenden Atomkriegs und der möglichen Vernichtung der ganzen Menschheit." Offenbar hat von Matt nicht zu den Millionen gehört, die damals in Europa auf Friedensdemonstrationen gingen. Oder zu den siebenhunderttausend, die - Frisch mittendrin - im Central Park protestierten und den (womöglich durch Computerpanne ausgelösten) Atomkrieg nur noch für eine Frage der Zeit hielten.
Frischs ambivalente Amerika-Faszination weicht in Zeiten des finalen Wettrüstens dem zornigen Antiamerikanismus. "Max, you hate my country": Mit diesem Ausruf wird Alice einmal zitiert. Es ist Wut über ungezügelten Kapitalismus und imperiale Arroganz, Hohn über das maskenhafte Dauerlächeln des amerikanischen Optimismus, der so schlecht zur eigenen Verbitterung passt: "Zuversicht als Tugend und Pflicht". Das Endzeit-Bewusstsein ist für Frisch zudem der letztgültige Anlass zum Schreiben - so war es schon, als er sich ein halbes Jahrhundert zuvor der Tagebuchform zuwandte: Der einberufene Soldat verfasste unter der Drohung des Zweiten Weltkriegs "für die letzte Zeit, die noch blieb", die Notizen der "Blätter aus dem Brotsack".
Ob Frisch der Publikation des Tagebuchs zugestimmt hätte, ist eine müßige Frage. Niemand kann im Ernst fordern, neuentdeckte Texte eines Klassikers des zwanzigsten Jahrhunderts unter Verschluss zu halten oder irgendwo als Marginalie zu verstecken. Auch wenn dies kein Meisterwerk ist - jeder Leser dieses Autors ist dankbar für das Buch, für den Ton, der hier unverhofft noch einmal zu hören ist, für Sätze von unverkennbarem Frisch-Zauber, für die Momente lapidarer Schönheit, wenn das zerquälte Bewusstsein zur Ruhe kommt: "Mittage am Bach, das Wasser ist kieselklar, aber kalt, die Felsen sind warm von der Sonne und die Luft riecht nach Wald, nach Pilzen, man hört nichts als das Wasser und es gibt nichts zu denken."
Max Frisch: "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch". Herausgegeben und mit einem Nachwort von Peter von Matt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2010. 213 S., geb., 17,80 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
Mögliche Einwände gegen die Publikation von Max Frischs "Entwürfe zu einem dritten Tagebuch" werden von Martin Meyer entschieden beiseite gewischt, ist der Band doch in seinen Augen ganz klar in der Machart seiner ersten beiden Tagebücher zusammengestellt. Also sind in diesem Band, der die Zeit von Februar 1982 bis April 1983 abdeckt und hauptsächlich zwischen New York und Frischs Erstwohnsitz im Tessin angesiedelt ist, wie gewohnt persönliche Betrachtungen und Befindlichkeiten mit politischen Einschätzungen und philosophischen Betrachtungen gemischt, lässt der Rezensent wissen. Die Beziehung zur sehr viel jüngeren Amerikanerin Alice Locke-Carey, mit der er zeitweise in Manhattan zusammenlebt und Beobachtungen zu den eigenen Alterserscheinungen prägen die Notate, wobei Meyer aufgefallen ist, wie viel "Hader" und offene Abneigung gegen Amerika diesen Aufzeichnungen zu entnehmen sind. "Humor" oder "Distanz zu sich selbst" darf man von Frisch auch in diesem Buch nicht erwarten, betont der Rezensent, der beinahe erleichtert wirkt ob der wesentlich "entspannteren" Einträge aus dem Tessiner Berzona. Hier findet Meyer zu seiner Freude eine an Stifter erinnernde Sprache, "nah an den Dingen, frei, empathisch" und die ist ihm ganz offensichtlich wesentlich sympathischer als die misanthropischen Nörgeleien aus Amerika.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Das letzte Buch von Max Frisch blieb ungeschrieben. Aber ... der Entwurf zu einer letzten Wahrheit ... dieses großen Autors, der liegt mit diesem Buch vor.« Volker Weidermann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20100328
»Dieses dritte Tagebuch enthält Notizen von einer Brillanz, wie man sie schon aus den ersten beiden Tagebüchern kennt. ... ein bewegendes Alterswerk, das, zu Lebzeiten veröffentlicht, ein würdiger, krönender Abschluss des Werks von Max Frisch gewesen wäre. Zum Glück lässt es sich jetzt lesen.«
Im August 2009 wurde im Max-Frisch-Archiv Zürich das Typoskript eines bisher unbekannten Werks des berühmten Schweizer Autors gefunden. Auf der Titelseite hatte Frisch selbst notiert: "Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982". Seine bisher erschienenen Tagebücher (1946 bis 1949 …
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Im August 2009 wurde im Max-Frisch-Archiv Zürich das Typoskript eines bisher unbekannten Werks des berühmten Schweizer Autors gefunden. Auf der Titelseite hatte Frisch selbst notiert: "Tagebuch 3. Ab Frühjahr 1982". Seine bisher erschienenen Tagebücher (1946 bis 1949 und 1966 bis 1971) zählen zu zentralen Werken seines Schaffens.
Nun liegen 19 Jahre nach seinem Tod die „Entwürfe zu einem dritten Tagebuch“ vor, die in den Jahren 1982/83 entstanden. Max Frischs Sekretärin, die die Texte vom Band oder am Telefon mitschrieb und übertrug, und auch der langjährige Leiter des Max-Frisch-Archivs an der ETH Zürich hatten bis zum Sommer des vergangenen Jahres die Veröffentlichung abgelehnt. Erst dann hatte der Stiftungsrat der Max-Frisch-Stiftung eine Publikation befürwortet. Dieses Rohmaterial hat der Suhrkamp-Verlag jetzt veröffentlicht.
Max Frisch lebte zu Beginn der 80er Jahre in New York, zusammen mit seiner Lebensgefährtin Alice Locke-Carey. Der Leser begegnete ihr bereits in seiner Erzählung „Montauk“, die 1975 erschien. Die komplizierte, intensive Liebesgeschichte des 71jährigen Autors zu der deutlich jüngeren Alice steht auch im Mittelpunkt dieser Tagebuchaufzeichnungen. Der abrupte Abbruch der Aufzeichnungen steht sicher im Zusammenhang mit der Trennung des Paares im Frühjahr 1983.
Dieses „Dritte Tagebuch“ setzt das Muster der ersten beiden Tagebücher fort: in mitunter bruchstückhaften Notizen oder in mehrseitigen Passagen, dann wieder in Momentaufnahmen und Erinnerungen äußert der Autor seine Gedanken und Ansichten. Hauptthemen sind dabei sein Verhältnis zu den Frauen und der gesellschaftspolitische Zustand der USA, jedenfalls wie er ihn als Europäer wahrnimmt. Die Angst vor einem neuen Krieg, der vor allem Europa treffen würde, ist ein ebenfalls ein Thema, das Frisch verschiedentlich erörtert. Auch Bemerkungen über seine Reisen und Wohnorte lässt er in seine Texte einfließen.
Literarische Betrachtungen finden sich selten, breiten Raum nimmt dagegen die Aus-einandersetzung mit Krankheit und Tod ein. So setzt er sich ausführlich mit dem Krebserkrankung des Schriftstellerkollegen Peter Noll auseinander. Max Frisch hatte seinen Freund in dessen letzten Monaten intensiv bei seinem Sterben begleitet.
In seinem begrenzten Umfang und in der unfertigen Form reicht dieses „Dritte Tagebuch“ natürlich nicht an seine Vorgänger heran, dennoch vermitteln Frischs Notierungen des alltäglichen Lebens und seine geäußerten Bekenntnisse dem Leser autobiografische Neuigkeiten zum Leben und Werk des Autors.
Manfred Orlick
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