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Produktdetails
  • Verlag: Herder, Freiburg
  • 2. Aufl.
  • Seitenzahl: 238
  • Abmessung: 219mm x 145mm x 25mm
  • Gewicht: 436g
  • ISBN-13: 9783451261015
  • Artikelnr.: 24662681
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.10.1996

Wasser aus Wittenberg
Schorlemmer kocht auch nicht anders

Friedrich Schorlemmer: Einschärfungen. Zum Menschsein Heute. Herausgegeben von Ewald Müller. Verlag Herder, Freiburg 1996. 190 Seiten, 32,- Mark.

Friedrich Schorlemmer: Selig sind die Verlierer. Herausgegeben von Meinhard Schmidt-Degenhard. pendo-verlag, Zürich 1996. 160 Seiten, 24,- Mark.

"Eine scharfsinnige Gesellschaftsanalyse mit prophetischer Perspektive" verspricht der katholische Herder-Verlag, doch die von fremder Hand zusammengetragenen Predigten, Notate, Vorträge, Essays und Aphorismen des "Erzprotestanten" Friedrich Schorlemmer aus den Jahren nach der Wende sind von sehr unterschiedlicher Schärfe, Bedeutung und Eindringlichkeit. Analytisch scharfsinnig ist der Pfarrer aus Wittenberg vor allem dann, wenn er die Befindlichkeit der ehemaligen DDR-Bürger und die dadurch bedingten Schwierigkeiten beim Zusammenwachsen der Ost-und Westdeutschen erörtert. "Aus der Ferne liebt es sich leichter", bemerkt Schorlemmer treffsicher. "Das Zusammenleben im Motzki-Alltag ist tausendmal komplizierter."

Der prominente Bürgerrechtler führt den fortdauernden Ost-West-Gegensatz nicht nur auf die vierzigjährige Teilung Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auf tieferliegende historische und sozialpädagogische Gründe zurück. Doch Zweifel sind erlaubt. War die DDR wirklich mit dem protestantischen, war die alte Bundesrepublik wirklich mit dem katholischen Erbteil deutscher Geschichte nahezu deckungsgleich? Gehören nicht auch die Norddeutsche Tiefebene, die Hansestädte, gehören nicht auch Hessen und Schwaben zu den "evangelischen Kernlanden"?

Zu Zeiten der DDR-Diktatur war Martin Luthers Bekennermut gegenüber Kaiser und Papst ein Vorbild und ein Ansporn für Schorlemmer und seine Wittenberger Gemeinde. Aber es fragt sich, ob die beständige Berufung auf das lutherische Beispiel und die reformatorische Umgestaltung auch unter den gegenwärtigen Bedingungen ausreicht, um den aktuellen Gang der Weltgeschichte in seiner ganzen Vertracktheit zu begreifen und daraus Maximen für das politische Handeln in heutiger Zeit abzuleiten. Schorlemmers wittenbergischer Horizont erscheint, bezogen auf die globalen Probleme unserer Tage, eng, allzu eng. Wenn von der Kraft des Glaubens bei der Überwindung von Kommunismus und Gewaltherrschaft gesprochen wird, dann sollte auch vom polnischen Papst und von den afghanischen Mudschaheddin die Rede sein. Die Niederlage des Stalinismus war nicht auf Deutschland beschränkt, sie war ein weltrevolutionärer Prozeß.

In den siebziger und frühen achtziger Jahren hat Friedrich Schorlemmer wichtige Beiträge zur Theologie der Befreiung in der DDR geleistet. Er ist dafür mit gutem Grund 1993 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet worden. Seine alttestamentarische Gradlinigkeit, seine Bibelfestigkeit und sein streitbarer Umgang mit den Heiligen Schriften ziehen auch Skeptiker in seinen Bann. Er vermag gekonnt zu streiten, etwa mit Walter Jens und anderen modernen Bibelübersetzern, die bestrebt sind, die Worte der Offenbarung unentwegt zu glätten und zu entschärfen. Überzeugend ist Schorlemmers Interpretation des lutherischen Menschenbildes, das dem Bösen seinen ausdrücklichen Platz in der Seele eines jeden einzelnen zumißt und dem Idealismus der neudeutschen Gutmenschen entschieden widerspricht. Dagegen lassen seine allzu versöhnlichen Urteile über Bertolt Brecht, Christa Wolf, Heiner Müller und andere "Edelkommunisten" - im Gegensatz zu den "Machtkommunisten" - jene "Klarheit im Urteil" vermissen, die Schorlemmer von anderen wiederholt als Voraussetzung für eine "produktive Streitkultur" einfordert. Allzu wohlwollend ist auch seine Einstellung zur westdeutschen Friedensbewegung seligen Angedenkens. Daß ihre Vordenker und Anhänger gegenüber den Mitstreitern in der DDR bis auf einzelne Ausnahmen jede Solidarität verweigert haben, fällt bei der Nachlese des streitbaren Lutheraners unter den Tisch.

Am allerwenigsten überzeugt Schorlemmers allzu einfache Ableitung von Luther zu Lafontaine, von der Reformation zur Sozialdemokratie. Seine Gedanken zur Erneuerung der SPD und zu den Aufgaben der Sozialdemokraten in den neuen Bundesländern bleiben blaß. Schorlemmer philosophiert allgemein sozialdemokratisch über den "Sinn und Wert der Arbeit" und kommt zu den Schluß, Luther und der junge Marx hätten in diesem Punkt nahezu dasselbe gesagt. Ob aber die Arbeit den "entscheidenden Faktor bei der Menschwerdung" ausmacht und ob nicht auch andere Wege wie Bildung, Läuterung, Frömmigkeit, Demut und Hingabe zum Menschsein führen können, bedarf auch im Hinblick auf andere Kulturen zumindest einer Nachprüfung.

In welcher Weise können solche Ansichten und Einsichten bei der Lösung der aktuellen Arbeitslosenprobleme helfen? Schorlemmer fordert Arbeit für alle, eine gerechte Verteilung der Arbeit und Vollbeschäftigung, aber trotz aller Beredsamkeit kommt er über eine Anhäufung gewerkschaftlicher und politisch korrekter Gemeinplätze kaum hinaus. "Wasser ist Leben" betitelt der Herausgeber einen Festvortrag Schorlemmers vor Vertretern der Wasserwirtschaft am Schluß des Bandes. So schließt sich der Kreis, und es wird deutlich, daß der vielbeschäftigte Referent aus Wittenberg auch nur mit Wasser kocht.

Viele Gedankengänge aus der Herder-Veröffentlichung kehren zum Teil wörtlich in einem Gesprächsbuch wieder, das der Frankfurter Rundfunkjournalist Meinhard Schmidt-Degenhard im Zürcher Pendo-Verlag nach mehreren Interviews mit Friedrich Schorlemmer redigiert und ediert hat. Das Bändchen muß auch erklärte Schorlemmer-Freunde enttäuschen, denn über weite Strecken kommt überhaupt kein Dialog zustande, der dem Befragten Gelegenheit gegeben hätte, sein Gedankengebäude wenigstens im Rohbau zu entwickeln. Statt dessen befragt der eifrige Herausgeber den Pfarrer aus Wittenberg wie einen Guru zu tausendundeinerlei Weltproblemen, zu Bosnien und zu Tschetschenien, zu Gorbi und zur Stasi, zur Arbeitslosigkeit und zur Ausländerpolitik, zum Elend in der Dritten Welt und zur Verderbtheit des gewöhnlichen Kapitalismus. Bei dieser Anlage bleibt auch dem Gescheitesten kaum anderes übrig, als das Weltelend im allgemeinen und im besonderen zu beklagen, Betroffenheit zu bekunden und seine politische Korrektheit möglichst querdenkerisch unter Beweis zu stellen. PETER SCHÜTT

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