überbieten, lagern mehr und mehr Zuhörer ermattet in der Nähe der Bierquelle, auch in diesem Jahr.
Doch dann war da plötzlich diese Stimme: neu, alt, anders, eine überlegene, faszinierende Erzählerstimme, die direkt aus den goldenen Tagen des poetischen Realismus herüberzuschallen schien: Jan Koneffke trug aus seinem Roman "Eine nie vergessene Geschichte" vor. Man musste ihm folgen, sich hineinziehen lassen in die pommersche Familiensaga mit autobiographischen Zügen. So saß man vor der Bühne und wollte nicht, dass es aufhört: der souveräne Gestus, Sätze, bei denen jedes Wort am Platz ist, nostalgische Wendungen, die keineswegs betulich klingen, sondern in ihrer Authentizität wie Juwelen funkeln im wunderlich perfekten Text.
Über das gesamte Spektrum der deutschen Sprache scheint dieser Autor zu verfügen: Gegrollt, gegreint, getrotzt und sich gewappnet wird hier ebenso wie zur Befangenheit verurteilt, schaffuttert und sich in Rachsucht verbohrt. Vollends manifestiert sich Koneffkes stilistische Brillanz in dem Umstand, dass all dies wie mit leichter Hand hingeworfen wirkt - ein einziges Lesevergnügen. Voll von Symbolik ist dieser Roman und zugleich gänzlich unprätentiös, mit Ausnahme vielleicht zweier arg mythisch geratener Prophetenfiguren: einer immer richtig liegenden Wahrsagerin und einem zum Baum werdenden Schäfer. Auch dies nimmt man gerne hin. Das Buch ist angelegt als große, chronologische Rückblende. Es beginnt, den Erzähler sowie zwei Protagonisten einführend, mit einer Eruption des Todes: "Im August 1968, auf dem Weg zur Beerdigung eines Bekannten, der wie sie von der pommerschen Seenplatte stammte, kamen meine Großeltern bei einem Unfall ums Leben. Ein Mercedes zerquetschte bei Ahrensburg Großvaters Goggomobil mit dem Namen ,Limousine'." Ein prächtiger Einstieg: Wer hat sich nicht schon gewünscht, die eigenen Großeltern in deren Jugend zu treffen? Der Erzähler erfüllt sich den Wunsch im Falle der Kannmachers. Obwohl in deren Leben wenig Außergewöhnliches passiert, halten wir es bald für das Leben an sich, verfolgen jede Schicksalswindung, als beträfe sie uns.
Die Haupterzählung setzt ein im Jahre 1898. Das mit vier Söhnen - Friedrich, Ludwig, Julius und Felix - gesegnete Ehepaar Leopold und Clara Kannmacher lebt im kleinen, langweiligen Ostseeort Freiwalde. Claras Heimweh nach Stettin wird nicht eben dadurch gemildert, dass Leopold, ein bilderbuchhafter Schulmeister, allein für seine Kant-Exegese lebt und einzig seinem Freund Doktor Dehmel gegenüber aus sich herausgeht. Mit seinem stoischem Gleichmut verkörpert er das moralische Prinzip selbst, aber eben auch ein aufgeklärtes Deutschland, das einmal möglich schien. Leopolds Ethik prallt am Leben ab, verkehrt sich in Tragik: "Vom ewigen Frieden" ist just jenes erschütternde Kapitel überschrieben, in dem Sohn Julius ins Eis einbricht und darunter, von oben noch sichtbar, wegtreibt. Die ganze Nacht hackt der Schulmeister verzweifelt aufs Eis ein. Auch Friedrich, den ältesten Sohn, der sich 1914 von der Kriegsbegeisterung mitreißen lässt, kann der Vater nicht retten; er fällt in der Schlacht. Clara, sehr ihrem Bruder Alfred zugetan, einem Abenteurer und Nationalisten, das genaue Gegenteil ihres Ehemanns, hatte Friedrichs vitalistische Ansichten unterstützt und will seinen Tod nicht wahrhaben. Geistig verwirrt, verleumdet sie ihren Mann. Der aber hält weiter zu ihr, nicht nur aus Moral, auch aus Liebe. Leopold zerbricht endlich daran, dass ihm Alfred Clara entführt und - "Ich bin in einer Partei, die das Kranke, Verfaulte und Morsche vernichten will" - ins Irrenhaus einweist, aus dem es keine Rückkehr gibt. Die Erzählperspektive hat sich da bereits verlagert auf die beiden übrigen Söhne: Felix, eine sensible Natur, der das Zeug zum überragenden Pianisten hat, und Ludwig, der sich ausgerechnet in Felix' Freundin Emilie verliebt. Für Felix bleibt deren hysterische Schwester Alma. Mit feinem Gespür auch für das Ironische schildert der Autor diese Doppelliaison. Koneffke verleiht seinen Figuren, die Zeit- und Denkströmungen repräsentieren, scharfe Konturen; aber er gibt ihnen stets Raum, sich zu entwickeln. Selbst Nebenfiguren gesteht er eigene Erzählstränge zu, am deutlichsten im Falle des gutmütigen, aber egozentrischen rumänischen Klaviervirtuosen Victor Marcu. Diesem folgt Felix Kannmacher blind, in der trügerischen Hoffnung auf Förderung seines Talents. Die zurückgelassene Alma verbittert, wirft sich den Nationalsozialisten an den Hals und wird zur lebenslangen Plage für Ludwig und Emilie Kannmacher, jenes Paar, das 1968 im Auto den Tod findet. Nach der Flucht 1945 lebte man gemeinsam im holsteinischen Lehsahn. Wenn es neben den Kant-Referenzen ein Leitthema in diesem Buch gibt, dann ist es die utopische Macht der Musik: Immer wieder erspielt sich Felix am Klavier einen anderen Fortgang der Ereignisse, selbst als die Saiten längst zu Munition verarbeitet sind. Die narrative Matrix wird durch zwei gegenzügige Entwicklungen aufgespannt: Die eine führt, als Kontrafaktur der Ursündenerzählung, immer weiter fort vom halbwegs glücklichen Urzustand, durch alle Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts. Ihr Verkünder ist Postkutscher Weidemann: "Es kommt schlimmer, als es bereits ist." Aber der Weg führt auch wieder aufs aufgeklärte Paradies zu: Ludwigs Sohn Konrad entdeckt den Hausgott seines Großvaters neu und wird Philosophieprofessor. Auch wenn man nach 1945 unter dem "Reich der Zwecke" etwas anderes verstand als die Verbindung vernünftiger Wesen, kehrte allmählich doch ein Grundbegriff von Sittlichkeit zurück.
Alle missglückten Familienromane ähneln einander, aber die geglückten, von Fontane bis Julia Franck, ruhen in sich: Im Porträt einer Familie spiegelt sich das Antlitz einer Epoche wider. Wie und auf welchem Niveau Jan Koneffke aus pommerscher Sicht ein Panorama der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts entwirft, das ist große, größte Erzählkunst.
Jan Koneffke: "Eine nie vergessene Geschichte". Roman. DuMont Verlag, Köln 2008. 320 S., geb., 19,90 [Euro].
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