studiert zu haben. Selten aber scheint jener Satz aus Kleists Schrift über das Marionettentheater, der einem Rezensenten bei solchen Gelegenheiten stets einzufallen pflegt, so angebracht wie zur Beschreibung der Leichtigkeit und Anmut, mit der Glowinski seine schlimmen und deprimierenden Gegenstände in einer Form abhandelt, die an ihrem Ursprung Damenmoden, Galopprennen, Saloninterieurs und Premierenempfänge zu beschreiben hatte.
Glowinski schreibt Feuilletons über seine Erinnerung an die beiden Terrorsysteme, die seine Heimat im letzten Jahrhundert verwüstet haben - und darüber, wie sie heute in den Charakterdeformationen, Marotten und Spleens seiner Zeitgenossen weiterleben. "Echos vergangener Jahre" heißt die erste Abteilung seines Buchs, dessen polnische Ausgabe umfangreicher ist als die von Martin Pollack kongenial übersetzte deutsche Auswahl. Seine Mathematiklehrerin wird da porträtiert, ein Vertrauensmann der studentischen Selbstverwaltung, der in Wirklichkeit wohl für die Staatssicherheit arbeitete, ein Judenhasser, der dem Erzähler in einem Warschauer Friseursalon der neunziger Jahre begegnet, ein für das Schöne (und die Schönen) begeisterter Spitzel, ein Professor für Marxismus, Zugbekanntschaften, kommunistische Agitatoren der fünfziger Jahre, die Karnevalsstimmung, die in einem bestimmten Abschnitt des Trauerzugs für den großen Stalin durch das zerstörte Warschau ausbrach. Glowinskis Erinnerung an die Deportation seiner Familien ins Warschauer Getto ist in der zweiten Abteilung unter dem Titel "Reisemischungen" untergebracht.
Es sind embryonale Romane, die sich - ganz wie Kleists Anekdoten und Geschichten - im Kopf des Lesers weiterspinnen und entfalten, wenn man das Buch zugeklappt hat. Der mit dem zehn oder elf Jahre alten Michal Glowinski ins Waisenhaus deportierte Junge, der sich während der langweiligen, heimwehkranken und angsterfüllten Bahnreise an seiner Sammlung von Heiligenbildchen, die er jedem zeigt, festhält, sie aber wenig später plötzlich zerreißt und auf ihnen herumtrampelt (der Autor berichtet das dann nur noch vom Hörensagen) - er ist ein später Nachfahre jenes Ägypterkönigs Psammenit, von dem Herodot berichtet und an dessen merkwürdigem Verhalten Benjamin seine Theorie des Erzählers exemplifiziert hat. Der besiegte Psammenit betrachtet den Triumphzug des Perserkönigs Kambyses, in dem sein Sohn und seine Tochter mitgeführt werden, mit unbewegter Haltung. "Als er aber danach einen von seinen Dienern, einen alten, verarmten Mann, in den Reihen der Gefangenen erkannte", erzählt Herodot, "da schlug er mit den Fäusten an seinen Kopf und gab alle Zeichen der tiefsten Trauer."
Wir werden nie herausbekommen, warum Psammenit gerade beim Anblick jenes alten Mannes zusammenbrach, warum der kleine Junge im Waisenhaus auf seinem einzigen und kostbarsten Besitz herumtrampelte. Aber es wird nie aufhören, uns zu interessieren und zu beschäftigen. Andere von Glowinskis Erinnerungsfeuilletons sind eindringliche Charakterstudien, exquisite Meisterstücke einer "Kunst soziologischer Feinmalerei" (Michael Rutschky). Wer zum Beispiel "Mundek" gelesen hat, das Porträt eines antisemitischen Geheimdienstmanns, der dem Autor in den späten neunziger Jahren durch einen nationalistischen Hetzartikel wieder ins Gedächtnis kam, der wird sich an dieses Stück immer erinnern, wenn man sich darüber wundert, welchen Haß und welche Bosheit totalitäre Ideologie und Systeme aus völlig unbedeutenden und fast bemitleidenswert mittelmäßigen Menschen hervorlocken können.
Überhaupt hat Glowinski einen einfühlsamen Blick für die Dämonie der Mittelmäßigkeit. "Es gibt eine Menge phantastischer E.T.A.-Hoffmann-Figuren unter den Angestellten vorgerückten Alters. Irgendwo sind sie steckengeblieben und erfüllen seitdem ununterbrochen banale Funktionen, die alles andere als unheimlich sind. Dennoch ist es, als seien diese Menschen in eine Aura des Grauens gehüllt. Sie strömt von den verwesten Kräften aus, die innerhalb der bestehenden Ordnung keinen Ausweg gefunden haben", schrieb Kracauer in seinem Angestellten-Buch, mit dem Glowinskis Porträts totalitärer Beamte, Spitzel und Propagandisten auch im literarischen Rang vergleichbar sind. "Denn es waren gerade diese enttäuschten, verbitterten Menschen voller Neid und Ressentiments, die sich am leichtesten mißbrauchen ließen. Und wenn es so war, wie ich vermute, dann erscheint seine Biographie völlig logisch. Ich hatte stets Mitleid mit ihm empfunden, weil ihm in seinem Leben offenbar nie etwas gelungen war, doch gleichzeitig hatte er von Anfang an meine tiefe Abneigung geweckt", heißt es bei Glowinski über eine solche E.T.A-Hoffmann-Gestalt aus dem volksrepublikanischen Polen.
Das literarisch Schönste an diesen kleinen, zugleich leichten und schwermütigen Stücken sind ihre Schlußsätze. "Das verspätete Essen, mit dem mich meine Mutter erwartete, nahm ich mit großem Appetit zu mir" - da hat der Erzähler an Stalins Trauerzug teilgenommen; wir spüren in einem schlichten Satz, wieviel Halt die Familien dieser belagerten europäischen Zivilgesellschaft während all jener Besatzungen gegeben haben. "Im Waggon waren nur ein paar Personen verblieben, die mit mir am Danziger Bahnhof in Warschau eingestiegen waren." "Ich sah ihn nie wieder, und ich erinnere mich nicht an seinen wirklichen Namen." Sanft, aber unerbittlich werden wir von solchen Sätzen in unser eigenes Leben entlassen. Glowinskis Schlußsätze klingen, als seien sie von Sebastian Haffner und Hermann Lenz gemeinsam erfunden - oder besser: für den Abschluß dieser zugleich poetischen und soziologischen Novellen gefunden - worden.
In diesen schönen Schlüssen, die bedeutungsvoll ins Ungefähre auslaufen, summiert sich Glowinskis dokumentarisch-poetische Verfahrensweise. Wie Proust, den er schon im Titel seines Buchs zitiert, arrangiert er nichts. "Ich beuge mich immer wieder über den Brunnen der Erinnerung, doch manchmal finden sich in diesem Brunnen, wenn er auch nicht ganz leer ist, bloß unbestimmbare, labile, schwer greifbare Stoffe, die Verwirrung hervorrufen und private (und nicht nur private) Mythen und Illusionen stiften."
Michal Glowinski: "Eine Madeleine aus Schwarzbrot". Aus dem Polnischen übersetzt von Martin Pollack. Jüdischer Verlag, Frankfurt am Main 2003. 170 S., geb., 19,90 [Euro].
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