Produktdetails
  • Verlag: Umschau Buchverlag
  • Seitenzahl: 189
  • Deutsch
  • Abmessung: 310mm
  • Gewicht: 1365g
  • ISBN-13: 9783829564175
  • ISBN-10: 3829564171
  • Artikelnr.: 10671068
Autorenporträt
Edda Neumann-Adrian studierte Geschichte, Literatur und Sprachen. Sie schreibt über europäische Länder und über Indien. Zahlreiche Publikationen über bayerische Themen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.01.2003

Drum prüfe, wer sich ewig bindet
Die Mitgliedsländer der Europäischen Union brauchen ein Recht auf Austritt aus dem Club

VON KAREN HORN

Darüber, ob bedingungslose Hingabe überhaupt je ein Verhalten darstellt, das der angeborenen Würde des Individuums entspricht, mag man streiten. Eine vollständige Bedingungslosigkeit würde wohl nur wenige Befürworter finden. So unterwirft der Volksmund die eheliche Hingabe zumindest einem klaren Eingangstest: "Drum prüfe, wer sich ewig bindet." Die persönliche, private Sphäre ist aber auch die einzige, in der bedingungslose Hingabe - an etwas oder an jemanden - überhaupt je sinnvoll entstehen und bestehen kann. Ein anonymes Kollektiv, ein Staatsgebilde zum Beispiel, ist zu der gebotenen Emotionalität nicht fähig; es ist ein Objekt, kein Subjekt.

Staatliche Kollektiventscheidungen seien fast immer etwas anderes als die vollständige Summe expliziter Individualentscheidungen, bilanziert Detmar Doering, künftiger Leiter des Liberalen Instituts der Friedrich-Naumann-Stiftung. Denn wo Mehrheiten entscheiden, besteht keine Einstimmigkeit, werden Minderheiten aus politischem Pragmatismus überrollt. Um so vorsichtiger gilt es mit jeder Form der staatskollektiven Hingabe umzugehen.

Diese Grundüberlegung scheint immer dann aus dem Blick zu geraten, wenn es um die Frage einer neuen Verfassung für die Europäische Union geht. Besonders vor dem Hintergrund der Erweiterung ist das erstaunlich: Die Beitrittskandidaten, die sich einigermaßen auf die Hinterbeine stellen müssen, um den "Acquis communautaire" zu erfüllen, sollten eigentlich Interesse daran haben, sich vor bösen Überraschungen ihrer Mitgliedschaft im europäischen Club zu schützen.

Nicht nur weil die Entscheidungsträger vielleicht falsch gerechnet haben. Auch die generelle Interessenlage eines Landes kann sich ändern. So sind die Staaten Osteuropas nach dem agrarpolitischen Schulterschluß des französischen Staatspräsidenten Jacques Chirac mit Bundeskanzler Gerhard Schröder in Kopenhagen zu dem Schluß gekommen, mit dieser Deckelung der Agrarausgaben leben zu können. Doch wie die Lage für alle Beteiligten in einigen Jahren aussehen wird, vermag niemand zu beurteilen.

Um so verständlicher wäre es, wenn die Kandidaten ihr Beitrittsgesuch an die Bedingung knüpften, den Club auch wieder verlassen zu dürfen, falls die Mitgliedschaft nicht hält, was sie verspricht: an das "Recht zum friedlichen Austritt" aus der Union, wie Detmar Doering das in der Unionsverfassung zu verankernde Sezessionsrecht umschreibt, oder mindestens zum "Opting Out" aus einzelnen Bereichen gemeinschaftlicher Politik. Mit der Unverbindlichkeit von Verpflichtungen hat das nichts zu tun.

Dasselbe gilt auch für die Altsassen. Es steht einem Staat nicht an, sich in bedingungsloser Hingabe an einen anderen oder mehrere andere zu binden. Die Regierungen an der Spitze eines jeden Staats, in ihrer Eigenschaft als politische Bevollmächtigte eines Wahlvolks, sind rechenschaftspflichtig - und Rechenschaftspflicht ist das Gegenteil der Bedingungslosigkeit, wie sie allenfalls im Privatleben existieren mag. Gerade im Fall eines Beitritts zu einem Staatenbund sind es die Politiker der Bevölkerung schuldig, nicht nur eine nachvollziehbare Begründung ihres Tuns zu liefern, sondern auch die Bedingungen klar zu definieren, unter denen die Clubmitgliedschaft aufrechterhalten oder eben wieder aufgekündigt wird.

Ein Sezessionsrecht oder die Möglichkeit des Opting Out vergrößert den eigenen Spielraum jedes Gliedstaats und schützt die Minderheiten besser. Der Notausstieg übt immerhin einen heilsamen Druck auf die Union aus. Wie Doering schreibt, wird den Gliedstaaten damit ein echtes Machtmittel in die Hand gegeben, um auf supranationaler Ebene die Anwendung des Subsidiaritätsprinzips durchzusetzen und der schleichenden Zentralisierung Einhalt zu gebieten. Sowohl auf politischer als auch auf ökonomischer Ebene erhielte der Wettbewerb damit wieder eine größere Chance. "Auch in Hinsicht auf die bevorstehende Ost-Erweiterung der EU sollte ein verankertes Sezessions- oder Austrittsrecht keineswegs als ein desintegrierender, sondern sogar eher als ein stärkender Faktor betrachtet werden." Ein Austrittsrecht würde sogar die Integrationsbereitschaft stärken, weil man den Folgen von Fehlentwicklungen letztlich noch entkommen könnte.

Allerdings darf eine Sezession oder ein Opting Out nicht "ad hoc und ohne Bedingungen" möglich sein, wie die Würzburger Ökonomen Norbert Berthold und Michael Neumann betonen: Das würde opportunistischem Verhalten - im Fachjargon "Hold-up" - Tür und Tor öffnen. "Es gleicht dem Fall eines Versicherungsvertrags, den die Versicherung bei Schadenseintritt mit sofortiger Wirkung ohne Zahlung der Versicherungsleistung kündigt." Aber das muß ja nicht sein. Konditionen sind immer Verhandlungssache.

Norbert Berthold/Michael Neumann, Opting-Out-Klauseln und der Europäische Einigungsprozeß: Eine sezessionstheoretische Analyse. Wirtschaftswissenschaftliche Beiträge des Lehrstuhls für Volkswirtschaftslehre, Wirtschaftsordnung und Sozialpolitik, Nr. 56/2002, Universität Würzburg.

Detmar Doering, Friedlicher Austritt. Braucht die Europäische Union ein Sezessionsrecht? Centre for the New Europe, Trier 2002.

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