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Ein Panorama deutscher Geschichte von 1848 bis heute
Berlin 1989, Wendezeit. An der durchlässig gewordenen Mauer entlang gehen zwei alte Männer, groß und hager der eine, klein und gedrungen der andere. Ein ungleiches, ein komisches Paar: der Bürobote Theo Wuttke, genant Fonty, und sein »Tagundnachtschatten« Hoftaller, der ewige Spitzel. Beider Erinnerungen reichen über große Distanzen, beide leben Vorgängern nach, beiden ist Vergangenheit so nahe und gegenwärtig wie die sich überstürzenden Tagesereignisse...
Aus der Gegenüberstellung ungewöhnlicher Lebensläufe und politischer Verläufe
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Produktbeschreibung
Ein Panorama deutscher Geschichte von 1848 bis heute

Berlin 1989, Wendezeit. An der durchlässig gewordenen Mauer entlang gehen zwei alte Männer, groß und hager der eine, klein und gedrungen der andere. Ein ungleiches, ein komisches Paar: der Bürobote Theo Wuttke, genant Fonty, und sein »Tagundnachtschatten« Hoftaller, der ewige Spitzel. Beider Erinnerungen reichen über große Distanzen, beide leben Vorgängern nach, beiden ist Vergangenheit so nahe und gegenwärtig wie die sich überstürzenden Tagesereignisse...

Aus der Gegenüberstellung ungewöhnlicher Lebensläufe und politischer Verläufe entsteht ein Panorama deutscher Geschichte zwischen der Märzrevolution von 1848 und unseren Tagen, eine jede Chronologie sprengende Folge farbiger Bilderbogengeschichten von einst und jetzt.
Autorenporträt
Grass, Günter
Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Danzig geboren, absolvierte nach der Entlassung aus amerikanischer Kriegsgefangenschaft eine Steinmetzlehre, studierte Grafik und Bildhauerei in Düsseldorf und Berlin.

1956 erschien der erste Gedichtband mit Zeichnungen, 1959 der erste Roman, Die Blechtrommel. 1999 wurde Günter Grass der Nobelpreis für Literatur verliehen. Bis zu seinem Tod am 13. April 2015 lebte Günter Grass in der Nähe von Lübeck. Sein gesamtes literarisches Werk ist auch bei dtv erschienen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 19.08.1995

Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft
Da muß doch ein Zusammenhang bestehen - Günter Grass legt seinen Roman zur Wiedervereinigung vor · Von Gustav Seibt

Eines Tages faßte sich die Deutsche Literatur ein Herz und sprach zur Deutschen Literaturkritik: "Jahrelang hast du mich getadelt und gequält bis aufs Blut, weil ich keine gute deutsche Literatur mehr produziere. Jetzt habe ich mir etwas einfallen lassen. Ich erfülle dir, liebe Kritik, deinen innigsten Wunsch. Sage mir, was du willst, und du sollst es haben." Dieses verlockende Angebot stürzte die Deutsche Literaturkritik in bange Zweifel. Was sollte sie sich wünschen? Den großen Gesellschaftsroman der Bundesrepublik? Den ewigjungen Liebesroman? Das postmoderne Verwirrspiel auf Weltniveau? Packende Unterhaltung? Schließlich antwortete die Deutsche Literaturkritik: "Ich wünsche mir von dir, Deutsche Literatur, den kritischen Zeitroman zu unserer jüngst erlebten Vergangenheit! Ich will den großen Geschichtsroman zur Wiedervereinigung.",Das hat sich gleich", rief erleichtert die Deutsche Literatur, "da fliege ich sofort zu unserem Nationalautor Günter Grass, der ohnehin auch im nächsten Jahr auf den Nobelpreis hofft, und bestelle ihm deinen Wunsch." Und so geschah es. Grass konnte einem so schmeichelhaften Auftrag nicht widerstehen, zumal die Deutsche Literatur durch den Lorbeer wirklich etwas von internationaler Anerkennung und längst fälligem Nobelpreis murmelte. Grass ahnte nicht, welche Quälerei damit ihren Anfang genommen hatte.

Zuerst war er guter Dinge. Man mußte nur die richtigen Bestandteile zusammensuchen: eine zustimmungsfähige Hauptfigur, symbolträchtige Schauplätze, die rechte, zwischen Kritik und Liebe vermittelnde Gesinnung und viel, viel historischen Stoff. Den ersten, entscheidenden Hinweis könnte Frau Ute gegeben haben, die es, wie die Widmung vor dem fertigen Buch mitteilt, "mit F. hat..." Fontane! Natürlich! Altpreußischer Ironiker, dabei Hugenottenenkel, nationalgesinnter Liberaler, Plauderer von Rang, schwebend zwischen Links und Rechts, Klassiker, aber nicht beschwerlich, nicht zuletzt ein Erzähler von und für Frauen. "Kolossal überzeugend", muß Grass sich, schon im unverwechselbaren Fontane-Ton denkend, gesagt haben, "werde den Deutschen ihre jüngsten Geschichten schön in die vergessenen Zusammenhänge rücken, Spott, Trauer hineinmischen und einen Schuß Weisheit."

Ein paar kleinere Probleme mußten freilich gleich im Vorfeld gelöst werden. Theodor Fontane lebte von 1819 bis 1898. Wie konnte man ihn in die Gegenwart bringen? Ganz einfach: Man läßt ihn wiederauferstehen, genau hundert Jahre nach dem ersten Fontane, im Jahre 1919. Also erfand Grass einen Mann namens Theo Wuttke, der es nicht nur, wie Ute, mit Fontane hat, allerdings bis zum Marottenhaften und Spinösen, sondern auch aussieht wie er, seinen Charakter hat, sich als seinen Wiedergänger empfindet und wie Fontane aus Neuruppin stammt. "Sein Spitzname sei Fonty", dachte sich Grass, und so geschah es. Auch das Titelproblem war leicht gelöst: Grass nahm einfach jenes Fontane-Zitat, das auch der kennt, der sonst gar nichts von diesem Autor weiß, und schrieb über sein Buch: "Ein weites Feld". Ist nicht auch die deutsche Geschichte ein weites Feld, über das man mit dem alten Briest endlos sinnieren könnte?

Also Fonty. Es mußte wohl sein. Denn Wuttke, das hätte doch nur nach einem Spinner geklungen. Fonty aber darf eine unklare Identität haben: Teils ist er Wuttke, teils die Verkörperung von Fontanes Nachleben, zumal sonst alles stimmt: Fonty-Wuttkes Ehe gleicht aufs Haar der Fontanes, seine Familienverhältnisse sind dieselben, er verfügt über das Gedächtnis des historischen Fontane, ja er weiß mehr als selbst die Mitarbeiter des Potsdamer Fontane-Archivs. Am Schluß kommt sogar heraus, daß Wuttke ein direkter Nachfahre des historischen Fontane ist, aus der Liebschaft mit jenem Mädchen stammend, die das Vorbild der Lene in "Irrungen, Wirrungen" wurde.

Das Fontane-Archiv ist in Grass' Roman die Instanz, die die ganze Geschichte erzählt, gleichsam ihr kollektives Gedächtnis. Die Leute vom Archiv erforschen Fontanes Leben im neunzehnten Jahrhundert, und sie nehmen Anteil an der Parallellaufbahn ihres Freundes Wuttke-Fonty durch das zwanzigste, durch Weimarer Republik, Drittes Reich, DDR und Wiedervereinigungszeit. Grass, der nach den ersten Einfällen schwer ins Basteln und Konstruieren gekommen sein muß, hat sich dafür entschieden, seine Geschichte nicht etwa chronologisch durch die beiden Jahrhunderte zu verfolgen oder einfach die beiden Leben parallel laufen zu lassen. Nein, er schränkte die erzählte Zeit auf einen Zeitraum von zwei Jahren ein, der vom 30. Dezember 1989 - Fontane-Fontys Geburtstag - bis zum Herbst 1991 reicht. In diesen zwanzig Monaten läßt er seinen Fonty durch das Berlin nach der Maueröffnung streichen, die Gegenwart kommentieren, das Vergangene erinnern, die Epochen vergleichen, sein Leben und das seines Vorbilds resümieren - alles in einem erbarmungslosen Plauderton, der nicht nur sagt, was er sagt, sondern immer auch zu verstehen gibt: Hört her, was für ein formidabler preußisch-französischer Causeur ich bin!

Als Grass' Erfindung so weit gediehen war, könnten der Deutschen Literatur, die ihm hin und wieder über die Schulter blickte, Zweifel gekommen sein, ob das ganze Konstrukt nicht zu kompliziert für die Deutsche Literaturkritik und vor allem für das Lesepublikum würde, das doch nicht nur belehrt, sondern auch unterhalten werden will. Aber nein, die Sache hatte mittlerweile eine eigene Dynamik gewonnen, und Grass setzte noch eins drauf. Fontane, schön und gut, aber wo blieben da die Schattenseiten und die Abgründe der deutschen Geschichte? Grass erinnerte sich an Faust und Mephisto, an Don Quixote und Sancho Pansa, an Schlemihl und seinen Schatten, und er befand, es sei nicht gut, seine Hauptfigur allein zu lassen. Jetzt wurde es ganz kompliziert.

Grass stellte seinem Fonty nämlich noch einen Begleiter an die Seite, einen Mann namens Hoftaller, der aber eigentlich Tallhover heißt und aus einem 1986 erschienenen Roman von Hans Joachim Schädlich stammt. Dieser Hoftaller soll schon im neunzehnten Jahrhundert gelebt und bereits den historischen Fontane auf Schritt und Tritt begleitet haben. Hoftaller nämlich, geboren 1819, im Jahr der Karlsbader Beschlüsse gegen die nationalliberale Bewegung, ist der ewige, alle Systeme und Epochen überlebende Spitzel, Polizei-Informant, Gestapo- und Stasi-Mitarbeiter. Er ist Fontys "Tagundnachtschatten", ein fast gesichtsloser Homunkulus, noch irrealer als der wiedergeborene Fontane, zynisch immer der jeweiligen Macht dienend, Fontane mit seinen jugendlichen revolutionären Fehltritten und seinen Ehebrüchen, Fonty mit seinen in den Westen ausgereisten Söhnen erpressend. Nie weicht er ihm von der Seite.

Aus diesen Elementen - dem erzählenden Archiv, dem historischen Fontane, dem Wiedergänger Wuttke-Fonty und dem bösen Homunkulus Hoftaller - hat Grass sich die Erzählmaschine zusammengebaut, in die er nur oben seine historischen Zettelkästen einfüllen mußte, damit unten dann der große Geschichtsroman zur deutschen Nation fertig herauskomme. Stoff für nahezu achthundert Seiten füllte er oben ein, drehte an der Mühle, und unten kam Blatt um Blatt heraus. Es muß eine furchtbare Schinderei gewesen sein, ein wahre Galeerenarbeit, dieses Einfüllen und Drehen, dieses Abarbeiten von hartkörniger Materie. Und je länger man liest, desto lauter meint man ein mahlendes Geräusch zu hören, ein Schraben, Schaben und Ächzen: Unser täglich Blatt gib uns heute.

Grass hat allen Anspruch auf unser Mitgefühl. Unendlich viel mußte gesichtet und ausgewertet werden. Zunächst die Werke und die Biographie Theodor Fontanes. Die Materialbeherrschung, die Grass hier erreicht hat, ist beeindruckend. Nichts wird ausgelassen, die Briefe nicht, die Erinnerungsbände, die Kriegsbücher, die Wanderungen, die Romane. All das hat Wuttke-Fonty stets abrufbar im Kopf und zitiert es bei allen erdenklichen Gelegenheiten. Diesem Fonty hat Grass einen so symbolträchtigen Lebenslauf gegeben, daß sich ihm solche Gelegenheiten ununterbrochen bieten: Er ist Soldat im Zweiten Weltkrieg und gelangt dabei in die französischen Herkunftsgebiete der Familie Fontanes. Danach arbeitet er im Reichsluftfahrtministerium, vermutlich vor allem, um nach der Wende 1990 in dasselbe Gebäude als Angestellter der Treuhand zurückkehren zu können. In der DDR-Zeit lebt er am Prenzlauer Berg, in der Nachbarschaft der aufsässigen und Stasi-unterwanderten Künstlerszene. Er ist nicht nur in der Fontane-Forschung tätig, sondern auch für den Kulturbund, für den er anspielungsreiche Fontane-Vorträge in der ganzen DDR-Provinz hält.

Grass muß frühzeitig die Furcht befallen haben, daß sein Roman die Leser nicht nur durch die allzu vertrackte Konstruktion überfordern könne, sondern auch durch die enzyklopädische Wissensfülle, die in diese aufwendige Maschinerie eingeführt werden mußte. Also wird alles erklärt. Und tatsächlich erzeugt dieses ständige Erklären und Verdeutlichen erfolgreich den Eindruck, daß man es mit einem intellektuell äußerst schlichten Buch zu tun hat. Am 9. November 1990 schickt er seinen Fonty samt Hoftaller in die Braunkohlegebiete der Lausitz. Symbol, Symbol, denkt da der Leser dieses Kapitels, das "Am Abgrund" überschrieben ist. Er könnte glauben, diese Überschrift und das Datum des Ausflugs reichten aus, und der Erzähler könnte sich damit begnügen, leblose Mondlandschaften, düstere Himmel und bedrückendes Schweigen auszumalen. Doch weit gefehlt: Grass muß uns alles sagen, muß sagen, daß der 9. November ein "tragisches, düsteres, blutiges, so übles wie verfluchtes Datum" ist, muß mitteilen, daß die ausgeräumte Kohlengrube vor seinen Figuren ein "Abgrund wie ein offenbartes Verhängnis" sei, muß Hoftaller verkünden lassen "Altlasten nennt man uns. Los, Fonty! Hinsehen!" Ja, ja, wir schauen ja schon hin.

Alles in diesem Buch ist Absicht, nichts ist Anschauung. Nietzsche sagte, sogenanntes historisches Denken arbeite nach dem Schema: "Die Uhr schlägt, das Käuzchen ruft, da muß doch ein Zusammenhang bestehen." Grass läßt ununterbrochen die Uhr schlagen und das Käuzchen rufen, ja die ganze Konstruktion seines Romans ist darauf angelegt, Uhrenschlagen und Käuzchenschrei ständig aufs ominöseste zusammenklingen zu lassen. Fonty-Wuttke ist 1942 Soldat in Frankreich, und auch Fontane war, allerdings als Kriegsberichterstatter 1870/71, in Frankreich: Da muß doch ein Zusammenhang bestehen. Die DDR-Volksarmee marschierte 1968 in der Tschechoslowakei ein; und Preussen führte 1866 Krieg in Böhmen (Fontane schrieb darüber): Da muß doch ein Zusammenhang bestehen. Göring fuhr im Paternoster des Reichsluftfahrtministeriums, und auch Ulbricht benutzte diesen Paternoster im selben, zum Haus der Ministerien mutierten Gebäude, und noch später trifft Fonty den Treuhand-Chef Rohwedder wieder in diesem Paternoster: Da muß doch ein Zusammenhang bestehen.

Doch bleiben diese mit beständigen bedeutungsvollen Seitenblicken auf den Leser herausgestellen Parallelen ominös. Eigentlich können sie immer nur eines bedeuten: daß die deutsche Geschichte der letzten zweihundert Jahre eine unheilvolle Kontinuität aufweise, die sie zu ständigen Wiederholungen zwinge. "Hab ich ja immer gesagt", ruft Fonty auf den letzten Seiten, "im Prinzip ändert sich nichts." Sollte das der ganze Sinn des dauernden Gebimmels und Gekrächzes sein?

Der Erzähler Günter Grass muß sich bei der Verfertigung dieses Romans auf heroische Weise selbst verleugnet haben. Man stelle sich nur vor, er hätte die Geschichte eines Verrückten erzählt, der sich einbildet, Fontane zu sein, und mit dieser Psychose die beiden deutschen Diktaturen überlebt. Was hätte das für eine Geschichte von Weltflucht, Realitätsverlust, bildungsbürgerlicher Phantasterei, Gefühlserstarrung und politischer Verantwortungslosigkeit ergeben können! Hätte Grass sich dafür entschieden, nicht Allegorien, ein paar mühsam beatmete Symbolfiguren, in den Mittelpunkt seines Romans zu rücken, sondern einen zwar kranken, aber dafür vorstellbaren Menschen, dann wäre ihm vielleicht auch die deutsche Geschichte dieser letzten Jahrzehnte in ganz anderer Weise zugänglich geworden. Dieser malade Fonty hätte ein Gegenstück des Zwerges Oskar Matzerath aus der "Blechtrommel" werden können, und mit seinem grotesken Blick hätte Grass eine pathologische Betrachtung der deutschen Geschichte der letzten Jahrzehnte viel beklemmender und überzeugender vorführen können. Auch manche der eher läppischen und wichtigtuerischen Vergleiche aus der Fontane-Welt, wie der, die Treuhand-Chefin Birgit Breuel sei eine neue Frau Jenny Treibel, hätten in einem Wahnsystem ihren bescheidenen Witz.

Aber Grass wollte eben nicht ein idiosynkratisches Erzählwerk schaffen, sondern seinem inneren Auftrag genügen, der deutschen Literatur ihren großen Geschichtsroman zu liefern. So hat er ein in Meinungen vollständig aufgehendes Werk geschrieben, eine gigantische Symbolmaschine zur Herstellung beliebiger Bedeutung. Was aber war zuerst? Der Verzicht darauf, eine Geschichte zu erzählen, oder der Entschluß zur politischen Allegorie nach ideologischen Vorgaben? Je länger man dieses von vordergründigsten Absichten bestimmte Buch liest, desto klarer wird: Grass hätte die von Anschauung genährte Geschichte eines Lebens in der DDR gar nicht schreiben können, weil ihm eigene Erfahrungen fehlen.

Denn historisch ist dieser Roman auch deshalb, weil er selbst die Gegenwart und die jüngste Vergangenheit so behandelt, als hätte der Erzähler sie nicht selbst erlebt, sondern nur den Quellen entnommen. Im Kern spielt Grass' Buch in Jahren, von denen alle seine Leser eigene Eindrücke haben. Und doch findet sich zu Mauerfall, Währungsreform, Abwicklung und Wiedervereinigung nichts, was über die Meinungen und die Bilder der Medien und der Wortführer in dieser Zeit auch nur im Ansatz hinausreichte. Man hat es tausendmal gehört, daß die DDR ein "Schnäppchen" gewesen sei, daß die Abwicklung "Ausverkauf" bedeutet habe, daß die Wiedervereinigung "Anschluß" war. Soll Grass diese Meinungen haben und behalten; als Essenz eines Kunstwerks sind sie etwas dünn.

Wenn er aber schon keine Anschauung von der DDR hat, so hätte Grass doch, mag man glauben, mit so viel Kenntnis ein schönes Fontane-Büchlein schreiben können, leicht mimetisch-parodistisch wie das "Treffen in Telgte", das die Barockliteratur auf unsere Zeit spiegelte. Aber Grass hat es eben gar nicht mit Fontane. Eine peinlichere Mesalliance als die zwischen dem gemütlichen, breiten Erzähler, der Grass in seinen besten Momenten ist, und dem verschwätzten Schweiger Fontane hätte man sich nicht ausdenken können. Senken wir einen Mantel der Nachsicht über dieses imitierte Fonty-Geschnarre, diesen falsch lockeren Telegrammstil, der alles "kolossal ridikül" findet und grundsätzlich "werde" statt "ich werde" sagt.

Nein, haben wir lieber Nachsicht. Man hat Günter Grass auf einen falschen Weg gelockt. Irgendwann hat man ihn glauben lassen, er sei der repräsentative Nationalschriftsteller in der Nachfolge Thomas Manns, und er habe die Pflicht, das Leben der Nation insgesamt mitzuleben und nachzugestalten. Und jetzt legt er Auftragswerke vor, Planerfüllungen, will belehren und bessern und fürs Ganze einstehen. So wurde der Roman "Ein weites Feld", dieses Zeugnis bester Absichten, heroischen Fleißes und der Abwesenheit jeglichen Kunstverstandes, eine Totgeburt, ein Monstrum. Man soll sich von der Literatur, dieser hinterhältigen alten Dame, eben nichts wünschen.

Günter Grass: "Ein weites Feld". Roman. Steidl Verlag, Göttingen 1995. 781 Seiten, geb., 49,80 DM.

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»Grass liest, wie er schreibt, entfaltet Satz für Satz seine präzise Sprachkraft von mitreißender Wucht.« Süddeutsche Zeitung »Nur ein von Grass gelesener Grass ist ein echter Grass.« DIE WELT