Jean aber, der Erzähler dieser Geschichte, ist derart von Selbstverachtung zerfleischt, dass er das Feuer seines Herzens löschen möchte. Er, der Kolonialbeamte, reist also von Liebesweh zerrüttet an Bord der Europe in den Tschad, wo er eine neue Stelle antreten soll. Und wo er zu vergessen hofft.
René Maran wurde 1887 auf Martinique geboren, er studierte Jura in Bordeaux, arbeitete wie sein Vater für die französische Kolonialverwaltung und verbrachte einige Zeit in Französisch-Äquatorialafrika. Er kannte also die koloniale Entmenschlichungsmaschinerie aus eigener Anschauung. Als erster Schriftsteller schwarzer Hautfarbe wurde Maran für seinen Roman "Batouala" 1921 mit dem Prix Goncourt ausgezeichnet. "Batouala", ein antikolonialistisches Werk, löste einen Skandal aus, und Maran verlor seinen Posten in der Kolonialverwaltung. Dabei betrachtete der Autor selbst "Batouala" als sein schlechtestes Buch, und es deprimierte ihn zeitlebens, dass ausgerechnet diese im afrikanischen Busch spielende Geschichte sein restliches Werk überstrahlte.
"Ein Mensch wie jeder andere" erschien 1947 und liegt nun erstmals in deutscher Übersetzung vor - spät, aber zu unserem Glück! Und just in jenem Moment, da sich die politische Situation zwischen Frankreich und seinen ehemaligen Kolonien weiter zuspitzt. "Nieder mit Frankreich!" und "Frankreich, hau ab!" skandierten junge Demonstranten in Burkina Faso, Mali, Niger, Senegal oder der Elfenbeinküste. Die gefühlten Fesseln der einstigen und von einigen noch immer als übermächtig empfundenen Herrscher sollen endlich durchtrennt werden.
Doch zurück zu Jean Veneuse, der auf dem Schiff in die afrikanische Ferne zufällig einen alten Freund wiedertrifft: Pierre Coulonges, einen weißen Kolonialbeamten, der in Begleitung seiner Frau reist und angesichts des unverhofften Wiedersehens mit Veneuse ganz aus dem Häuschen ist. Schulterklopfen, Jubel, vermeintliche Ehrerbietung. Veneuse, sagt der alte Freund einmal, du bist ein Phänomen: "Wer hat denn eine Vorstellung davon, was es bedeutet, ein Neger zu sein? Das allein ist schon etwas Besonderes in einer Zeit, in der die Weißen in alle Teile der Welt hineindrängen. Aber ein Neger, der Kolonialbeamter ist und obendrein noch so gebildet, das ist erstaunlich, umwerfend, wunderbar!" An anderer Stelle heißt es: "Im Übrigen sind Sie gar kein richtiger Schwarzer. Weder von Ihrer Hautfarbe her noch was Ihre Intelligenz oder Bildung angeht. Eigentlich sind Sie einer von uns."
Maran entlarvt in Szenen wie diesen die tief sitzenden Vorurteile und den Rassismus selbst jener Schiffsreisenden, die man heute wohl als woke bezeichnen würde und die sich selbst aufgrund ihrer vermeintlichen Fortschrittlichkeit unentwegt auf die eigene Schulter klopfen. Auch Clarisse, die Jean Veneuse beinahe in Stalkermanier bedrängt und schließlich verführt, verkörpert eine vergiftete Zuneigung. Denn als Veneuse ihre Hoffnungen auf eine gemeinsame Zukunft zunichtemacht, nennt sie ihn einen "dreckigen Neger". Es ist nur folgerichtig, dass Jeans Liebeskummer bei seinen Mitreisenden auf Unverständnis stößt. In den Augen der Weißen, unter denen sich eben selbst die größten Empathiker nicht einmal annähernd vorstellen können, wie es ist, schwarz zu sein, bedarf es zum Liebesglück nur ein bisschen Mut. Als wäre Veneuse ein Hasenfuß.
Maran schickt seinen unglücklichen Protagonisten auf eine Art psychotherapeutische Überfahrt. Es sind Wochen des Zauderns, der Selbstgeißelung und Selbstbefragung. Und ganz nebenbei zeigt Maran sein großes poetisches Können in der Beschreibung der afrikanischen Landschaft. Es sind zauberhafte Bilder, die nachhallen. Zu den schönsten und bittersten Passagen dieses Romans gehören die zwischen Jean und seiner Andrée geschriebenen Briefe, in denen die Verzweiflung des innerlich Zerrissenen auf die sanften, beschwörenden Zeilen der Angebeteten treffen. Was nützt die Liebe in Gedanken? Im Falle von Jean und Andrée ungemein viel.
René Maran: "Ein Mensch wie jeder andere". Roman.
Aus dem Französischen von Claudia Marquardt. Nachwort von Mohamed Mbougar Sarr. Elster & Salis, Zürich 2023. 208 S., geb., 25,- Euro.
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