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Wirtschaftswunderland Deutschland, die fünfziger Jahre: in einem ruhigen, fast vormodernen Land arbeitet ein junger Mann, Student in einer Kleinstadt, in einem Sägewerk. Um der Arbeit im Maschinentakt zu entkommen, flieht der junge Mann in die Natur, die ihm aber zusehends fremd wird. Die zeitlose Geschichte eines Menschen im Konflikt mit Fortschritt und Technik.

Produktbeschreibung
Wirtschaftswunderland Deutschland, die fünfziger Jahre: in einem ruhigen, fast vormodernen Land arbeitet ein junger Mann, Student in einer Kleinstadt, in einem Sägewerk. Um der Arbeit im Maschinentakt zu entkommen, flieht der junge Mann in die Natur, die ihm aber zusehends fremd wird. Die zeitlose Geschichte eines Menschen im Konflikt mit Fortschritt und Technik.
Autorenporträt
Johannes Kühn (1934-2023) lebte in Hasborn (Saarland). Kühn veröffentlichte mehrere Gedichtbände und Theaterstücke. Bei Hanser erschien zuletzt Ganz ungetröstet bin ich nicht (Gedichte, 2007).

Wilhelm Genazino, 1943 in Mannheim geboren, lebte in Frankfurt und ist dort im Dezember 2018 gestorben. Sein Werk wurde vielfach ausgezeichnet, u.a. mit dem Georg-Büchner-Preis und dem Kleist-Preis. Bei Hanser erschienen zuletzt: Bei Regen im Saal (Roman, 2014), Außer uns spricht niemand über uns (Roman, 2016), Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze (Roman, 2018), Der Traum des Beobachters (Aufzeichnungen 1972-2018, 2023).
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension

Sein "Reifezeugnis" hat der Dichter Johannes Kühn jetzt nachgereicht, nachdem das Publikum "zuerst den ausgereiften Dichter" kennen gelernt hat. Mit seiner neuen Erzählung vom Bergmannssohn, der die Natur der Technik vorzieht und in der modernen Welt keine Heimat finden kann, sei Kühn durch eine "sentimentalische Krise" gegangen, schreibt Rezensentin Gabriele Killert. Fremd klinge der "hohe Ton der Begeisterung", den der Autor anschlage, fremd wirke dieses "stille absichtslose Gegenmanifest" gegen das Maschinenzeitalter. Doch die Einsicht, dass am Ende selbst dem Unschuldigsten keine Unschuld gegeben ist, sei notwendig für die Entwicklung Kühns. Denn sonst, betont die Rezensentin, hätte das Risiko bestanden, ein "lyrischer Rosenzüchter" zu werden, der sich auf den "Holzweg in die ästhetische Provinz" begibt.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 18.06.2004

Still mäntelt der Himmel seine ernsten Falten herab
Werther in der Fabrik: Johannes Kühns bisher unveröffentlichte Jugenderzählung „Ein Ende zur rechten Zeit”
„Kinder sprangen von einem niedrigen Brunnen auf, wo sie sich gegenseitig mit Wasser bespritzt haben, standen ehrfürchtig zur Seite. Schlicht und verschämt die Braut. - Auf den Bräutigam achtete ich nicht, ich gesteh es. Natürlich dacht ich an sie! Natürlich dacht ich an sie!” Nein, es ist nicht Lotte, an die ein selbstverliebter, in Wiederholungen und Ausrufezeichen schwelgender Werther hier denkt, es ist eine Regine, sie studiert Chemie - und der in den Semesterferien in einem Spanplattenwerk arbeitende Student, dessen Namen wir nie erfahren und den wir nicht ohne Grund einfach J. K. nennen wollen (er arbeitete 1956/57 tatsächlich in den Semesterferien bei Novopan) möchte sie zu gern näher kennen lernen: „Eigentlich könntest du meine Gedanken lesen, könntest wissen, was ich denken musste, als ich die Braut sah in ihrem weißen Kleid und die Kinder um sie herumliefen.”
Gut, dass Cicero tot ist
Das schreibt er nicht an einen Freund Wilhelm, sondern an - Cicero (aus dem Cicero-Zitat des Mottos ist auch der Titel des Büchleins entlehnt). Da besteht keine Gefahr, dass „gar nach Mode diese Briefe herausgebracht würden!” Ja, „wenn ich früher gelebt hätte, vor zwei Jahrhunderten etwa, vielleicht hätte ich alles, was ich in meinen Ferien erlebt, einem Freunde geschrieben.” So beginnt das Büchlein, gleich im ersten Satz im Goethe-Ton mit der Unterdrückung der Hilfsverben, als ob es tatsächlich auf einen Freund von vor zwei Jahrhunderten Rücksicht nähme . Es ist ein erstaunliches Werk, dessen Sprache aufhorchen lässt - aber beim ersten Lesen wird man archaische Syntax und poetische Gewagtheiten („still mäntelt der Himmel seine ernsten Falten herab”) vielleicht nur aufs Konto des Lyrikers schreiben. Der höllische Fabriklärm, ein Unfall, bei dem einem jungen Mädchen von der Häckselmaschine ein Unterarm abgerissen wird, später die amerikanischen Atombombenversuche in der Wüste Nevada und eine Nachricht vom sinkenden Wasserspiegel der Erde, das sind in der Tat Schockmomente, die J.K. durchaus als solche berichtet und die ihn durchdringen mit der Trauer darüber, dass die Erde „einmal vernichtet werden, frevelhaft durch Menschenhand nicht mehr sein soll.”
Die Liebe zu jener gerade nur ein paar mal gegrüßten Regine beschäftigt zwar intensiv die Phantasie des jungen Mannes, aber im Gegensatz zu seinem verblassten Spiegelbild wird sie nicht sein Schicksal: Wo Werther sich nicht zähmen kann, sein Pferd zu besteigen, um in Lottes Nähe zu kommen, da borgt sich J. K. ein Moped von seinem Großvater, aber die Angebetete ist unter den zweihundert Paaren des Dorfballs, wo er sie endlich zu treffen gehofft hatte, nicht zu finden. Und Werthers Hauptproblem, Albert, erscheint nur in dem flüchtigen Gedanken: „sie könnte ja auch einen Freund haben.”
Johannes Kühn, im Februar 1934 im Saarland geboren, Kind einer Bergarbeiterfamilie, Schüler bei den Steyler Missionaren, hat früh mit dem Schreiben begonnen. In diesem Jahr hat er seinen 70. Geburtstag gefeiert (Siehe SZ vom 3. Februar) und den Hölderlin-Preis erhalten. Irmgard und Benno Rech, die sich große Verdienste um sein erworben Werk haben, lassen diesen knapp 140 Seiten eine „editorische Anmerkung” folgen: diese „frühe Erzählung” behandle tatsächlich Ereignisse aus Kühns Studienzeit in den Jahren 1956/57, die er damals fast tagebuchartig aufgeschrieben habe. Ein Jahr später, 1958, lag ein Typoskript vor. Die Herausgebern haben „nur offensichtliche Fehler oder Versehen korrigiert”, denn: „Der Text sollte seine jugendliche Eigentümlichkeit behalten.”
Der jugendlichen Eigentümlichkeit ist es zu verdanken, dass dieses kleine Werk ein literarischer Glücksfall und zugleich ein authentisches Dokument der fünfziger Jahre werden konnte. Der junge Mann findet mit genialer Intuition jene beiden Figuren, welche das Syndrom „Jugend” mit tödlicher Radikalität als literarisches Experiment durchgespielt haben: den jungen Goethe und den jungen Werther. Goethe war 22 Jahre alt, als er nach Wetzlar kam.
Johannes Kühn war 22 Jahre alt, als er in die Fabrik kam; als zwei Jahre später das Typoskript seiner Erzählung fertig war, stand noch nicht der heutige Titel darüber, sondern ein verzweifelt lakonisches „Wohin?” Goethe - nicht Werther!- wird ihm die Frage beantworten - in die Literatur! - und wird ihm die Zunge lösen. Es gelingt ihm, die typische Spannung moderner Jugendlichkeit bewusst zu machen: sich selbst absolut zu setzen und zugleich Ohnmachtserfahrungen zu machen.
Das geschieht im Kleinen, also in der Familie, in der Arbeitswelt, in der erträumten Liebe, es geschieht ebenso im Großen: in der Weltuntergangsstimmung nach den Atombombentests von 1957 will er tatsächlich „den Mächtigen der Erde” einen Brief schreiben, um sie zur Vernunft zu bringen.
Die literarische Leistung des jungen Erzählers J.K., der ja noch längst nicht der mit Literaturpreisen geehrte Schriftsteller Johannes Kühn war, kann man nicht genug bewundern: Es gelingt ihm, die selbstverliebte Konzentration auf das eigene Ich und anmaßende Überlegenheit seines Urteils dem fiktiven Briefpartner Cicero direkt mitzuteilen und doch zugleich Distanz zu wahren, die allein schon das Aufschreiben verlangt.
Freilich macht das die Sache nur noch schlimmer: die wirklich eintretende Katastrophe des Arbeitsunfalls und die lähmende Angst vor der atomaren Vernichtung des Lebens auf der Erde - und auch der lähmende Liebeskummer um eine Liebe, von welcher besagte Regine nie etwas erfährt - verlieren nichts von ihrem Ernst, auch wenn J.K. sie mit jugendlicher Altklugheit zelebriert. „Es seien durch die Atomstrahlen behinderte Kinder zur Welt gekommen, ganz in der Nachbarschaft. Mädchen, und ich wage noch, an dich zu denken ... Mädchen, ich wage noch, an dich zu denken, ohne dass mir leise Tränen kommen. Weine leise, sage ich mir, die Welt ist laut.”
J.K. erlebt, was immer er erlebt, durch die Literatur. Der schönste Beleg dafür ist sein Verhältnis zu dem Spiegel seiner Seele, den er - wie sein Vorgänger vor zwei Jahrhunderten - „Natur” nennt: „Meine Seele ist ein Sturm. Mein Dorf, du weißt es! Mein Dorf, ... das nicht gezirkelte Straßen hat, das noch frei nach der Natur sie ausgedehnt, kaum nach dem engen Rechenschieber.”
Maschinentakt und Ostermarsch
Während der Schriftsteller Wilhelm Genazino am älteren Kollegen bewundert, wie die Wirklichkeit sich in Literatur niedergeschlagen habe, rühmt der Werbetext den pionierhaften Öko- und Soziogeist, mit dem er schon damals die Arbeit im Maschinentakt denunziert habe und als der vermeintlich Rückständige in Wahrheit der Klarsichtige gewesen sei. Damit stand der junge Autor aber keineswegs allein. War er nicht einfach genau so „rückständig” wie die ersten deutschen Ostermarschierer von 1960, durchdrungen vom tief empfundenen Misstrauen gegen Technik und Fortschritt?
Der junge Johannes Kühn war wohl eher typisch in vielem, was er dachte, erlebte oder nicht erlebte - und dabei doch einzigartig in seiner literarisch fruchtbaren Wahlverwandtschaft zum größten unglücklichen Jugendlichen der deutschen Literatur.
HANS-HERBERT RÄKEL
JOHANNES KÜHN: Ein Ende zur rechten Zeit. Erzählung. Mit einem Nachwort von Wilhelm Genazino. Hanser Verlag, München 2004. 141 Seiten, 14, 90 Euro.
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"Kühn ist, das macht seine literarische Größe aus, ein Meister des einfachen Wortes. Es ist immer wieder seine Leichtigkeit, die bezwingt. Nirgendwo wird hier Sinn hineingepresst, er liegt eher wie Reif über den Worten. (...) Er dichtet aus dem Stegreif, ein Stegreifdichter aber war er nie. Sondern fraglos einer der größten Dichter dieser Zeit." Christoph Schreiner, Saarbrücker Zeitung, 21./22.02.2004

""Ein Ende zur rechten Zeit" ist eine einfache Geschichte, aber eine mit enormer Fallhöhe: Johannes Kühn hatte als 23-Jähriger die denkbar größten literarischen Vorbilder und griff ein Thema auf ,das damals in dieser Form literarisches Neuland war. Vor fast fünfzig Jahren fiel der Text durch die Maschen des literarischen Betriebs. Erst heute sieht man, dass er seinen Ansprüchen standhält." Marius Meller, Der Tagesspielgel, 24.03.04

"Der vollkommen lautere Erschütterungston des Textes kann [...] niemanden unberührt lassen." Gabriele Killert, Die Zeit, 15.04.04

"Diese Erzählung des zweiundzwanzig- oder dreiundzwanzigjährigen Autors ist ein starkes Prosadebüt, das auch nach fünfzig Jahren noch beeindruckt." Walter Hinck, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.05.04

"...ein erstaunliches Werk, dessen Sprache aufhorchen lässt ...ein literarischer Glücksfall und zugleich ein authentisches Dokument der fünfziger Jahre." Hans-Herbert Räkel, Süddeutsche Zeitung, 18.06.2004