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  • Broschiertes Buch

Produktdetails
  • Verlag: Beck
  • 1995.
  • Seitenzahl: 215
  • Deutsch
  • Abmessung: 300mm
  • Gewicht: 1086g
  • ISBN-13: 9783406394171
  • ISBN-10: 3406394175
  • Artikelnr.: 05725012
Autorenporträt
Ulrich Beck wurde 1944 in Stolp in Hinterpommern geboren. Nach seinem Studium der Soziologie, Philosophie, Psychologie und Politikwissenschaft in München promovierte er dort im Jahr 1972. Sieben Jahre später wurde er im Fach Soziologie habilitiert. Sein wissenschaftliches Hauptinteresse galt dem Grundlagenwandel moderner Gesellschaften, insbesondere im Zeichen der Globalisierung. Er beschäftigte sich mit den daraus erwachsenden theoretischen, empirischen und methodologischen Fragen sowie den Konsequenzen und Risiken, die dieser Wandel für Wirtschaft, Politik, Kultur und Massenmedien nach sich zieht.
Seit 1980 war Ulrich Beck Herausgeber der Zeitschrift "Soziale Welt". Ihm wurden mehrere Ehrendoktorwürden europäischer Universitäten und zahlreiche Preise verliehen. Ulrich Beck verstarb im Januar 2015.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Tristesse oblige
Der Mensch nach der Emanzipation kommentiert von Ulrich Beck / Von Mark Siemons

Das Leben in der reflexiven Moderne ist anstrengend. Frauen und Männer, ja schon Kinder schauen uns an: mit einem unverwandten, verhangenen Blick, der Selbstbewußtsein ausstrahlt, Skepsis und eine abgrundtiefe Traurigkeit. Schwerer Mehltau hängt über den Schwarzweißfotos dieses Bildbandes mit dem verrätselt einfachen Titel "eigenes Leben". Es steht den Menschen, die hier porträtiert werden, ins Gesicht geschrieben, wie viel es kostet, sich durch die Bundesrepublik der neunziger Jahren zu schlagen.

Der bekannte Risikosoziologe Ulrich Beck liefert die Stichworte und das Raster, vor dem das Leben von insgesamt 56 Personen samt ihrer Angehörigen beschrieben wird. Man braucht kein Buch von Beck gelesen zu haben, um die Stichworte irgendwoher schon zu kennen - sie liegen gleichsam in der Luft: Die Gesellschaft wandelt sich; tradierte Institutionen wie Klasse und Stand verlieren zusehends an Macht über den einzelnen, der nunmehr selber sehen muß, wo er bleibt. "Reflexive Modernisierung", Becks Schlüsselbegriff, meint da zum einen die Modernisierung der modernen Industriegesellschaft, zum anderen die permanente Reflexionsleistung, die diese Moderne dem einzelnen abverlangt. Jedermann muß heute, von überkommenen Konventionen im Stich gelassen, sein Ich ausloten, um seine äußere Lage mit seinem Inneren in Einklang zu bringen: Wir sind notgedrungen alle zu existentiellen Lebenskünstlern geworden. Damit aber wird "eigenes Leben" zu einer soziologischen Kategorie.

So weit, so gut. Die Bayerische Rück, eine Versicherungsgesellschaft, fand die Ideen von Ulrich Beck so bestrickend, daß sie darüber diesen Bildband mit dem schönen Untertitel "Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben" herausgegeben hat. "Wir sahen es als Probe aufs Exempel", schreibt die Bayerische Rück eingangs, "ob es gelingt, die Veränderung des biographischen Entwurfs aus der Perspektive der einzelnen zu beschreiben."

Und nun liegen also 56 von Ulf Erdmann Ziegler verfaßte "biographische Portraits" vor uns, zusammen mit meist großformatigen Fotos von Timm Rautert, immer wieder unterbrochen durch Texte von Ulrich Beck und abgeschlossen durch einen Essay des Münchner Philosophen Wilhelm Vossenkuhl über menschliche Identität. "Individualisierung im gesellschaftlich-kulturellen Bereich ist ein Schlüssel zum erweiterten Verständnis des Risikobegriffs", schreibt die Bayerische Rück, gibt sich gleich danach aber auch skeptisch: "Bis zu welchem Grade kann man sich Gewißheit über ungewisse Dinge verschaffen?"

Um die Antwort vorwegzunehmen: nur bedingt, sehr bedingt. Der Band liefert durchaus Bausteine für ein Sittenbild der Bundesrepublik im Jahre 1995, aber mit der Deutung der meisten Phänomene läßt er uns allein. Das größte Rätsel ist: Warum macht diese Moderne, die uns Ulrich Beck doch als etwas grundsätzlich Positives vorstellt, als Chance, mehr aus dem eigenen Leben zu machen, warum macht diese Moderne die Menschen auf den Fotos und in den Texten so traurig? Warum geht ihr alle Leichtigkeit, alle Eleganz, aller Humor so ganz und gar ab? An den Lebensläufen selbst kann es kaum liegen. Sie sind nicht sehr ungewöhnlich: eine Scheidung da, ein Karrierebruch dort, eine Krankheit, plötzliche Einsichten, enttäuschte Illusionen - das ganz normale Durcheinander des Alltags, um das man nicht viel Wind machen müßte.

Weshalb berührt uns dann schon dieser Mann auf dem Titelbild so ohne alle Hoffnung? Liegt es an seinen ausgefransten kurzen Jeans oder an seinen Wollsocken, an seinem angedeuteten Dreitagebart, an seinem kurzen, ziemlich steil in die Höhe ragenden Haar oder vielleicht doch nur an diesem Blick, der ruhig ist, irgendwie wissend und unendlich traurig? Schon der kleine Junge, der sich an die Beine des Mannes schmiegt, hat diesen Blick. Woher kommt der Blick?

Rolf, der Mann auf dem Titel, hat sich, wie wir aus dem Text erfahren, für die weiche Alternative entschieden. Er will kein "patriarchales Arbeitstier" werden, denn er will sich um seinen kleinen Sohn Max kümmern, nachdem er sich von dessen Mutter (Katja) getrennt hat. Er hat daher seinen Beruf als Speditionskaufmann aufgegeben und macht nun eine Ausbildung zum Grundschullehrer; zwischendurch verdient er sein Geld beim Taxifahren. "Fortschrittlich-konservativ" nennt er diese Haltung. Er hat zu spüren bekommen, bemerkt der Chronist, "wie schwer es ist, auf einem Fundament der Emanzipation den archaischen Bau wieder zu errichten".

Auch wir beginnen zu spüren, welche Lasten dem Individuum heute aufgebürdet sind. Es muß nicht nur irgendwie mit seinem Berufs- und Beziehungs-Chaos klarkommen. Vor allem muß es Definitionsarbeit leisten: Es muß mit gesellschaftlich anerkannten Erklärungsmustern begründen können, weshalb es sich so und nicht anders verhält. Als eines der anerkanntesten Erklärungsmuster hat sich offenbar gerade die sozialwissenschaftliche Kategorie der "Individualisierung" erwiesen. Eine Biographie mag von noch so vielen Brüchen gezeichnet sein - daß sie immer mehr zu einer individuellen, zu einer eigenen Biographie wird, kann ihr am Ende niemand absprechen. Das Abstraktum "Individualisierung" kann schließlich sogar zur persönlichen Handlungs-Motivation werden: Dann wirkt die Soziologie wieder zurück auf das Leben, das sie zu verstehen angetreten war.

Deshalb beschreibt Ulrich Beck den reflexiv modernen Menschen als Identitätsbastler, als unermüdlichen Detektiv seiner selbst, und einige der biographischen Porträts bringen geradezu idealtypisch zur Anschauung, daß es solche Leute offenbar tatsächlich gibt. Etwa jener Badenser, der sich selbst einen "Stylisten" nennt: "Ich neige dazu, nicht mich zu inszenieren, sondern das, was andere in mir suchen." Nach einer langjährigen Ehe, aus der drei inzwischen erwachsene Söhne hervorgingen, lebt er heute für sich allein in einem restaurierten Haus in der Bahnhofsgegend. Was er genau tut, wovon er lebt, ist aus dem Text nicht herauszubekommen. Der verrät nur, es gehe ihm "immer auch um das Fluidum von Idee und Gestalt, von Träumerei und Produkt, von Lebensentwurf und Gesellschaftsentwurf".

Ein bißchen konkreter wird es bei den "Archäologen des Zufalls", als die ein junges Berliner Ehepaar beschrieben wird, die beide eine sozialwissenschaftliche Ausbildung hinter sich haben. Hier erfährt man, daß der Mann eine aussichtsreiche Stelle bei einer Pharmafirma gekündigt hat, um jetzt organisatorische Aufgaben für sozialgeschichtlich ausgerichtete Museen und Kulturinstitute zu übernehmen. Seine Frau arbeitet bei einer Zeitung für Alltagskultur. Das eigentlich Individuelle aber entfaltet sich bei den beiden in der Wohnung. Ihre Einrichtung besteht aus Industrie-Schrott, Warenmustern, aufbereiteten alten Möbeln. "Nach vielen Jahren ihres Zusammenlebens", kommentiert der Text, "schließt sich die Ästhetik des Mangels kurz mit technischer Perfektion, und das Persönliche überblendet sich mit einer Sphäre, die etwas Öffentliches hat, ohne allgemein zu sein."

Wir ahnen nun, weshalb diese Menschen so traurig gucken. Sie haben Probleme mit der Anmut. Vollkommene Anmut, sagt Kleist, ist nur dem ganz Unbewußten oder dem totalen Bewußtsein, nur dem Tier oder Gott möglich. Aber es gibt Zwischenstufen, und auf der nach oben offenen Bewußtseinsstufen-Skala dürfte der nach-emanzipatorische deutsche Mensch ziemlich weit oben stehen. Wer sich ständig selbst thematisiert und ausprobiert, macht am Ende einen intelligenten, aber auch ziemlich plumpen Eindruck.

Es könnte aber auch sein, daß die alte Hydra der Fremdbestimmung in neuer Verkleidung ihr Haupt erhebt. Eine jetzt knapp 45 Jahre alte Lehrerin wird mit schwarzer Hose und schwarzem Jackett gezeigt. Sie sitzt da, den Kopf in die Hände gestemmt, mit weit aufgerissenen Augen. Wir erfahren, daß sie eine geschiedene Ehe und eine gescheiterte Beziehung hinter sich hat. Nachmittags liegt sie allein in ihrer Wohnung auf dem Sofa "und liest, liest liest". Was liest sie denn da, fragt man sich im geheimen, erhält aus dem Text aber keine Antwort. Am Ende des Buches erscheint jedoch in einem ganz anderen Zusammenhang ein Foto ihres Bücherschranks. Da sehen wir nebeneinander Peter Sloterdijk, George Steiner, Walter Benjamin, Ulrich Beck (!), Hans Magnus Enzensberger, Michael Rutschky, Roland Barthes, Bertrand Russell, Tilman Moser, Helmuth Plessner, Theodor W. Adorno, Blumenberg, Elias und so weiter und so fort, unten dann noch Peter Weiss (Die Ästhetik des Widerstands) bis Klaus Theweleit (Männerphantasien) - der gar nicht so geheime Lektürekanon jener Biographien, die sich zwischen den siebziger und den neunziger Jahren als individualistisch und erfahrungsgeleitet verstanden.

Je mehr die äußeren Halterungen wegfallen, desto nötiger werden offenbar die inneren. Mit dem Verschwinden der früheren, oft milieubedingten Gegenwelten ergibt sich für den einzelnen die Notwendigkeit, sein eigenes Leben aus tausend schon in die eine große Welt integrierten Modewelten zusammenzusetzen. Der Augenblick der höchsten Individualität ist insofern jener der größten Konformität.

Ulrich Beck bemerkt an einer Stelle selbst, das "eigene Leben" sei "hochgradig vergesellschaftet, durch und durch institutionenabhängig". Doch er folgt diesen Spuren nicht weiter, er begnügt sich mit Institutionen wie Ausbildungssystem, Arbeitsmarkt, Sozialstaat und Recht. Er tut so, als sei die vordringlichste Frage heute, ob man die Moderne bejahen oder verneinen solle - so als gäbe es irgendwo eine zentrale "Moderne-Ja-oder-Nein-Entscheidungsinstanz", auf die man Einfluß nehmen könne. Damit dürfte er sich auf etwa dem gleichen Niveau bewegen wie die antimodernen Fundamentalismen, die er wortreich bekämpft. Wenn er der Spur der Institutionen weiter gefolgt wäre, hätte er auch die inneren Institutionen nennen müssen, denen er selber als anerkannter Soziologe der Bundesrepublik seine Motive verdankt: Er bedient Individualismus genauso wie Systemdenken, gehobenes industrielles und konsumistisches Niveau nicht weniger als ökologisches Bewußtsein. Und er umgibt all diese Begriffe mit einem Ruch des Schicksalhaft-Unabwendbaren, des Pathetisch-Moralischen und zugleich des Optimistisch-Zukunftsfrohen. Wenn man da nicht melancholisch werden soll.

Doch vielleicht entspringt die Tristesse, die von diesem Buch ausgeht, auch nur einer besonderen, nationalen Art von Marketing. Die einzigen überkommenen Institutionen, denen man sich in hochgradig individualisierten und riskanten Zeiten wie den unseren noch rückhaltlos und mit gutem Gewissen anvertrauen kann, sind schließlich die Versicherungen: Dieses Kapital will bewahrt, nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt sein. Der Bayerischen Rück hat daher wohl mit Recht davor gegraut, mit "United Colours" oder ähnlich frivolem Schnickschnack für ihr Geschäft zu werben. So präsentiert sie hier die vereinigten Grautöne für den ernsthaften deutschen Versicherungskunden, authentische Trübsal für ein verantwortlich geplantes Leben. Und wir müssen uns wohl damit abfinden, daß, wann immer heute so groß von Moderne, Individualisierung und eigenem Leben die Rede ist, höchstwahrscheinlich ein Versicherungsunternehmen dahintersteckt.

Ulrich Beck / Wilhelm Vossenkuhl / Ulf Erdmann Ziegler: "Eigenes Leben". Ausflüge in die unbekannte Gesellschaft, in der wir leben. Mit Fotos von Timm Rautert. Herausgegeben von der Bayerischen Rückversicherung Aktiengesellschaft, München. C. H. Beck'sche Verlagsbuchhandlung, München 1995. 216 S., 105 Abb., br., 48,- DM.

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