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Produktdetails
  • Verlag: Pendo Verlag
  • ISBN-13: 9783858423771
  • ISBN-10: 3858423777
  • Artikelnr.: 21255196
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 23.10.2002

Der Besuch der alten Dame
Unterricht der besonderen Art: Eleonore Hertzberger erzählt von Nazi- Deutschland
Von Felix Berth
Was für ein Auftritt. Eleonore Hertzberger marschiert in die kleine Gymnastikhalle ein wie ein Popstar. Die jungen Zuhörer sitzen bereits, da geht die alte Dame lächelnd an den Stuhlreihen entlang, ruft ein paarmal „Grüß euch” und winkt weit ausholend mit dem rechten Arm. Große Gesten scheinen der Frau zu liegen. Dann setzt sich Eleonore Hertzberger, Jahrgang 1917, vor die Schüler – allerdings nicht auf einen Stuhl, sondern auf ein Pult. Sie lässt die Beine baumeln, hält den Rücken gerade und erzählt, neunzig Minuten lang.
Wenn Eleonore Hertzberger in eine Schule kommt, beginnt Geschichtsunterricht der besonderen Art. Sie hatte einen jüdischen Vater, floh mit ihm 1933 vor den Nazis nach Holland, emigrierte 1942 in die Schweiz und nach Spanien, wo sie sich am Kampf gegen Hitlers Deutschland beteiligte. Ihre Erzählung gewährt einen Einblick in das Leben einer mutigen, energischen, beeindruckenden Frau – und die Reaktionen der Schüler an diesem Dienstagvormittag in Trudering vermitteln gleichzeitig einen Eindruck von dem Geschichtswissen der Jugendlichen.
Wobei letzteres mangels Masse recht schnell zusammengefasst ist: In den siebten Klassen der Hauptschule an der Feldbergstraße dominiert historische Ahnungslosigkeit – in diesem Schuljahr steht „Nationalsozialismus” noch nicht auf dem Lehrplan, und zuhause scheint das Dritte Reich nicht das Topthema zu sein: Michael sagt, dass sein Urgroßvater manchmal Geschichten aus Stalingrad erzählt hat; Shelqim hört von seinem Opa gelegentlich Berichte von Kriegen der Kosovaren gegen die Türken – weil seine Verwandtschaft eben aus dem Kosovo kommt und nicht aus München, Hamburg oder Berlin.
Eleonore Hertzberger stört sich nicht daran. Sie beschreibt den Jugendlichen, wie ihre Familie Berlin verließ, schon 1933. Sie erzählt von den Bombenangriffen der Deutschen auf Rotterdam 1940, auch von der deutschen Besetzung der Niederlande: „Einmal hatte ein jüdischer Freund von uns Witze über Hitler erzählt und wurde verpetzt. Er musste sich bei der Gestapo melden, und als wir ihn kurz vorher trafen, sagte ich: ,Wenn du fertig bist, komm zu uns zum Essen.‘ Er ist nie gekommen, und zwei Wochen später erfuhr seine Familie, dass er in Mauthausen gestorben war.” Ohne Pathos referiert Eleonore Hertzberger solche Episoden, nüchtern und uneitel. Diese Frau, so kapiert man, muss der Welt nichts mehr beweisen – ihr geht es nicht um den eigenen Ruhm, um die persönliche Bedeutsamkeit, sondern darum, den jüngeren Menschen ein paar Dinge zu vermitteln. Dass sie ihre Vortragsreisen, die sie seit fast zehn Jahren macht, selbst bezahlt, passt in dieses Bild.
Die Stille der Schüler
Die Siebtklässler bleiben aufmerksam. Für einen Außenstehenden wirken sie zwar wie zappelnde, kichernde, pubertäre Jugendliche – aber eine Lehrerin ist begeistert von der Ruhe in der Gymnastikhalle: „So still sind die bei mir keine halbe Stunde”, sagt sie. Manche Menschen, darunter Lehrer und Bauarbeiter am Presslufthammer, haben wohl ein besonderes Verständnis von „Stille”.
Ortswechsel, eine Stunde später. Zwei achte Klassen scharen sich um Frau Hertzberger. In den Bänken liegt das Schulbuch „Trio 8. Geschichte – Sozialkunde – Erdkunde.” Ein paar Kapitel darin behandeln den Nationalsozialismus: „Im April 1933 wurden alle jüdischen Beamten entlassen, allen jüdischen Rechtsanwälten wurde die Zulassung entzogen. Im Mai wurde der Großteil der jüdischen Professoren von den Universitäten verwiesen, ab September durften jüdische Künstler nicht mehr ausstellen, veröffentlichen oder aufgeführt werden.”
Die alte Dame inmitten der Schüler, die das alles erlitten hat, erzählt anschaulicher als das Schulbuch: dass sie es in der antisemitischen Schule in Berlin nicht mehr aushielt, dass von den näheren Verwandten ihres Mannes fast alle im KZ starben, weil sie Juden waren. Immerhin wissen die Schüler hier, dass Hitler 1933 Reichskanzler wurde, auch wenn einer den Beginn des zweiten Weltkriegs mit der Ermordung „von irgendeinem König” in Verbindung bringt. Dem Lehrer ist das peinlich, der Referentin nicht. Jahreszahlen sind nicht das Wichtigste, lautet ihre Botschaft – es geht um Menschlichkeit. Und darum, etwas zu lernen: „Als wir 1933 Berlin verließen, durfte mein Vater nur 200 Mark mitnehmen. Aber er hatte sein wichtigstes Kapital dabei: seinen Kopf. Und darum, Kinder, ist eines so wichtig: Lernt etwas!”
Eleonore Hertzbergers Erinnerungen sind bei Knaur erschienen: Durch die Maschen des Netzes, 7,90Euro.
Unbezahlter Geschichtsunterricht: Seit knapp zehn Jahren hält Eleonore Hertzberger Vorträge in deutschen Klassenzimmern – und wird mit dem Interesse der Schüler belohnt.
Foto: Stephan Rumpf
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