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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 12.02.2001

Der stadtbekannte Sonderling

"Alltagsgeschichte" heißt ein wiederkehrendes Kapitel in den Bänden der Reihe "Dresdner Geschichtsbuch". Auf die jeweilige Zeit bezogene Alltagsgeschichte zu vermitteln, hat sich die Reihe, die bis zum achthundertsten Stadtjubiläum im Jahre 2006 jährlich um einen Band erweitert werden soll, zum Ziel gesetzt. Von dem meist in die Nähe der Sprödigkeit führenden Anspruch der Regionalgeschichte ist nicht die Rede. Man versucht vielmehr, den heute Lebenden auf anschauliche Weise klarzumachen, wie der Boden beschaffen, wie er entstanden ist, auf dem sie stehen. Jetzt ist die sechste Folge erschienen (DZA Verlag für Kultur und Wissenschaft, Altenburg 2000. 271 S., geb., 38,50 DM).

An dem Unternehmen hat wesentlichen Anteil der Direktor des Stadtmuseums Dresden, Matthias Griebel. Er hat nach der Wende das Amt übernommen und das Museum mit Feingefühl angepaßt. Die Jahrzehnte der DDR wurden nicht getilgt, die Erinnerungen an die NS-Zeit blieben erhalten. Griebel hat einen besonderen Lebensweg. Er ist Sohn des bekannten Malers Otto Griebel, der vor 1933 Kommunist war, sich nach 1945 nicht abwandte, aber auf alle sich ihm bietenden Vorteile verzichtete. Der Sohn Matthias (ihm haftet der Übername "Matz" an) entzog sich dem DDR-System in die besondere Nische, die einem stadtbekannten Original, nicht ohne Gefährdungen gewiß, zugestanden wurde. Er arbeitete ohne Stetigkeit, widmete sich in der so gewonnenen Muße der Stadtgeschichte, gehörte zu einer der Gruppen, in denen sich Widerstreben gegen die Einbeziehung in das System gerade so weit befestigte, daß jedenfalls die spätere DDR sich zur mürrischen Duldung gezwungen sah. Es spricht für das Nach-Wende-Stadtregiment, daß es Griebel in das Amt berufen hat. Daß er übers Jahr in den "Ruhestand" gehen muß, ist ein Einschnitt, der ihm bei Fortführung seiner Randexistenz in der DDR erspart geblieben wäre.

In der neuen Folge wird eine "Versandfirma H. Kästner" beschrieben, die über das Ende der DDR hinaus existierte. In nicht einmal kleinen Dimensionen konnte dort - Reklame zu machen war nicht DDR-üblich - bestellt werden, was man so brauchte: eher diskrete Gegenstände durchaus inbegriffen. Dabei wahrte das Unternehmen den Anstrich absoluter Seriosität. Dokumentiert wird, wie ein Versandhaus in der DDR, auf rührend handgestrickte Weise, "Kundenpflege" durch Briefe betrieb.

Immer wieder beschäftigen die "Geschichtsbücher" die Eingemeindungen, was zu anschaulichen Schilderungen der dörflichen Gemeinden führt, die Objekte dieses allenthalben vertrauten Großstadt-Imperialismus wurden. In Folge sechs ist das Dorf Leuben an der Reihe, das im Dresdner Osten über die Eingemeindung hinaus seine Eigenart bewahrte, sie auch behauptete gegen DDR-Plattenbauten, die freilich das meiste des blühenden Landes großer Gärtnereien besetzten. Im Saal eines Leubener Gasthofs siedelte sich die Staatsoperette an, die bis heute gern besucht wird (und bei der Peter Schreier sein Debüt hatte).

Dresdner Vergnügungsstätten würdigt der neue Band, widerspricht damit dem Dresdner Kultur-"Image", das sich weithin in der Oper erschöpft. Es ging, in allen Ehren (meistens jedenfalls), ganz lustig zu im alten Dresden; Tanz-Palais Barbarina, Regina-Palast und so weiter. Ein ernsterer Gegenstand sind die Dresdner Schulen, darunter das - damals war dergleichen selten - humanistische Neustädter Mädchen-Gymnasium. Der Anteil der "Volksschüler", die auf die höhere Schulen gehen konnten, war vergleichsweise hoch. Viele der höheren Schulen verfügten über ein Schullandheim im Erzgebirge. Das sollte der Ausbildung des "ganzen Menschen, der Gesundheitsvorsorge, der Sozialerziehung, dem Natur- und Heimaterlebnis" dienen - waren das nun Vorformen heutiger Pädagogik oder Vorahnungen der Deutschtümelei der Nationalsozialisten?

Von Band zu Band werden die Oberbürgermeister vorgestellt. Band sechs langt an bei Ernst Zörner, dem ersten Oberbürgermeister der NS-Zeit; er folgte dem im März 1933 von den Nationalsozialisten des Amtes enthobenen Wilhelm Külz, der nach 1945 seinem Angedenken schadete, indem er sich, würdig-weißhaarig, als LDPD-Vorsitzender auf die Blockpolitik der SED einließ. Bevor Zörner ins Amt kam, hatte ein Eduard Bührer das Amt kommissarisch verwaltet. Seine seriöse kommunalpolitische Karriere hatte er als Sozialdemokrat begonnen, trat dann in die NSDAP ein. Auch Zörner konnte seine Amtszeit - er ist vielfach abgebildet in einer NS-Phantasieuniform - nicht zu Ende bringen. Es gab Intrigen gegen den halbwegs seriösen Verwaltungsmann. Ihm folgte ein gewisser Nieland, den man, entgegen manchen Behauptungen, er habe die am 13./14. Februar 1945 zerstörte Stadt fluchtartig verlassen, noch Wochen danach begrüßen konnte - in untadeliger SS-Uniform. Nieland wäre an der Reihe in der Folge 7 des Geschichtsbuchs.

Zur "Alltagsgeschichte" gehört der Anfang der "freien Läden" (später: HO), mit denen die "Zone" dem Schwarzen Markt Konkurrenz machte. Interessant wäre da einmal die Schilderung der Anfänge in der Ruine ("nur ausgebrannt", sagte man im Schlimmeres gewohnten Dresden) des Palasthotels Weber am Postplatz, in dessen Erdgeschoß einer der ersten "freien Läden" eingerichtet wurde. Bis heute plagt sich die Stadtplanung damit, was aus dem von der Ruine des Fernmeldeamts, DDR-Bauten und von Rasenflächen, dort, wo das Palasthotel Weber stand, unzureichend begrenzten Postplatz zu machen sei.

Über die "Alltagsgeschichte" der DDR gibt es noch viel zu erzählen. Das fing an in der ersten Folge (1995) über das "Leben in den Jahren 1945/46": von Aufräumarbeiten noch kaum berührte Trümmer, dazu fröhlich Ziehharmonika (woher stammten sie wohl?) spielende Rotarmisten.

FRIEDRICH KARL FROMME

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