Marie-Claire Blais
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Drei Nächte, drei Tage
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Eine sonnendurchflutete Insel, irgendwo im Golf von Mexiko. Hier leben Menschen in Reichtum, andere in extremer Armut. Und hier versucht eine Frau namens Renata sich nach einem Eingriff auszukurieren. Doch ihre Unruhe gilt nicht nur ihrer Gesundheit, Renata schwankt zwischen hedonistischen Ausschweifungen und der Verantwortung für andere, zwischen der Schönheit der Welt und ihrer Ungerechtigkeit. Währenddessen finden auf der ganzen Insel Festivitäten statt - man feiert die Geburt eines Kindes und das Ende des 20. Jahrhunderts -, es versammelt sich ein schillerndes Ensemble an Charakteren: ...
Eine sonnendurchflutete Insel, irgendwo im Golf von Mexiko. Hier leben Menschen in Reichtum, andere in extremer Armut. Und hier versucht eine Frau namens Renata sich nach einem Eingriff auszukurieren. Doch ihre Unruhe gilt nicht nur ihrer Gesundheit, Renata schwankt zwischen hedonistischen Ausschweifungen und der Verantwortung für andere, zwischen der Schönheit der Welt und ihrer Ungerechtigkeit. Währenddessen finden auf der ganzen Insel Festivitäten statt - man feiert die Geburt eines Kindes und das Ende des 20. Jahrhunderts -, es versammelt sich ein schillerndes Ensemble an Charakteren: Künstler, Drag-Queens, Ku-Klux-Klan-Mitglieder, Kinder, die in unschuldige Spiele vertieft sind, Geflüchtete der benachbarten Inseln. Sie alle verbindet eine innere Zerrissenheit und das unausweichliche, sie umgebende Meer.
Drei Nächte, drei Tage ist das Porträt eines tropischen Inselkollektivs zwischen Exzess und Verzweiflung. Ein schier atemloses, polyphones Werk, barock und radikalzeitgenössisch, »ein visionäres, unentbehrliches, opulentes Sittenbild des späten 20. Jahrhunderts« (Voir).
Drei Nächte, drei Tage ist das Porträt eines tropischen Inselkollektivs zwischen Exzess und Verzweiflung. Ein schier atemloses, polyphones Werk, barock und radikalzeitgenössisch, »ein visionäres, unentbehrliches, opulentes Sittenbild des späten 20. Jahrhunderts« (Voir).
Marie-Claire Blais, geboren 1939 in Québec, war eine der maßgeblichen Autorinnen Kanadas. Sie veröffentlichte 58 Romane, Theaterstücke und Lyrikbände, erhielt etliche Preise, darunter den französischen Prix Médicis, und Stipendien, u. a. zweimal das Guggenheim-Stipendium. Sie lebte viele Jahre in Québec und auf Key West. Marie-Claire Blais verstarb am 30. November 2021. Nicola Denis, geboren 1972 in Celle, übersetzt u.a. Honoré Balzac, Éric Vuillard und Marie-Claire Blais. 2021 erhielt sie den Prix lémanique de la traduction und 2023 wurde sie mit dem Eugen-Helmlé-Preis ausgezeichnet.
Produktdetails
- Bibliothek Suhrkamp 1516
- Verlag: Suhrkamp
- Originaltitel: Soifs
- Artikelnr. des Verlages: BS 1516
- 2. Aufl.
- Seitenzahl: 391
- Erscheinungstermin: 9. September 2020
- Deutsch
- Abmessung: 221mm x 147mm x 30mm
- Gewicht: 556g
- ISBN-13: 9783518225165
- ISBN-10: 3518225162
- Artikelnr.: 59004012
Herstellerkennzeichnung
Suhrkamp Verlag
Torstraße 44
10119 Berlin
info@suhrkamp.de
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Niklas Bender betont, dass die Romane der Frankokanadierin Marie-Claire Blais hierzulande schon längst hätten entdeckt sein können und müssen, bereits 1967 wurde ihr großer Roman "Schwarze Winter" erstmals übersetzt. Aber auch mit "Drei Nächte, drei Tage" lässt sich die Autorin hervorragend entdecken, versichert Bender. Blais folgt darin einer Schar illustrer Figuren - Anwältin, Richter, Schriftsteller, Museumsdirektorin und eine sich prostituierende Pfarrerstochter -, nach denen Tod und Gewalt ihre Fühler ausstrecken. Sehr existenziell findet Bender das, sehr intensiv, aber nicht leicht zu lesen: Blais ist einer modernistischen Erzählweise verpflichtet, die den Gedanken der verschiedenen Figuren ohne Unterteilung in Absätze oder Kapitel freien Lauf lasse, allein strukturiert durch den "Rhythmus der Gedanken". Bender bewundert die Prosa dieser Autorin sehr, die er als schneidend, präzise und biegsam "wie ein Florett" beschreibt.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Wesen mit Bruchstellen
Nachträglich auf Deutsch entdeckte vorbildliche frankokanadische Literatur: Der Roman "Drei Nächte, drei Tage" von Marie-Claire Blais
Unter den kanadischen Autoren, die diesen Herbst hierzulande veröffentlicht werden, ist Marie-Claire Blais keine Neuentdeckung: "Schwarzer Winter" (1965), mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, ist schon 1967 ins Deutsche übersetzt worden - ein grandioser Roman über eine Hungerleiderfamilie, die sich verstümmelnder Arbeit, Diebstahl, Inzest, Sauferei und Prostitution hingibt, erzählt auf grotesk-unschuldige Weise, in Tonlagen von Verzweiflung bis Lebensjubel. Eigentlich könnte man das Werk der 1939 in Québec geborenen, heute dort und in Key West lebenden Blais so
Nachträglich auf Deutsch entdeckte vorbildliche frankokanadische Literatur: Der Roman "Drei Nächte, drei Tage" von Marie-Claire Blais
Unter den kanadischen Autoren, die diesen Herbst hierzulande veröffentlicht werden, ist Marie-Claire Blais keine Neuentdeckung: "Schwarzer Winter" (1965), mit dem Prix Médicis ausgezeichnet, ist schon 1967 ins Deutsche übersetzt worden - ein grandioser Roman über eine Hungerleiderfamilie, die sich verstümmelnder Arbeit, Diebstahl, Inzest, Sauferei und Prostitution hingibt, erzählt auf grotesk-unschuldige Weise, in Tonlagen von Verzweiflung bis Lebensjubel. Eigentlich könnte man das Werk der 1939 in Québec geborenen, heute dort und in Key West lebenden Blais so
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kennen: mehr als fünfzig Romane, dazu Dramen und Lyrik. Aber nein, übersetzt wurde es kaum. Es ist also ein Nachentdecken, wenn Suhrkamp jetzt von Nicola Denis den 1995 erschienen Roman "Soifs" (Dürste) übersetzen lässt, einen Angelpunkt in Blais' Werk: Er ist der Auftakt zu einem zehnbändigen Romanzyklus gleichen Namens.
"Drei Nächte, drei Tage" wird im Deutschen daraus, in Anspielung an die karnevalesken Feierlichkeiten, die eine karibische Insel in den Ausnahmezustand versetzen. Blais entwirft einen Mikrokosmos von Verwandten, Freunden, Feinden und Nachbarn, denen sie mehrere Tage und Nächte lang folgt. Schwerpunkt ist das Fest, das Melanie und Daniel zu Ehren ihres zehn Tage alten Sohnes Vincent ausrichten. Es treten auf: Melanies Mutter Esther, Arztgattin und Museumsdirektorin, die alternden Schriftsteller Charles, Jean-Mathieu, Adrien und Suzanne, die singende und sich prostituierende Pfarrerstochter Venus, eine Gruppe junger Schwuler um Tanjou sowie die wohlhabende Melanie selbst, mehrfache Mutter und potentielle Senatorin, ihr Mann Daniel, Schriftsteller, ihre Söhne. Eine Klammer des Romans stellt Renata dar, eine Anwältin, die mit dem Richter Claude verbandelt ist; sie ist Melanies Tante, mit ihr beginnt der Roman, und sie durchirrt ihn sozusagen als sein Rückgrat.
Diesen Figuren und vielen mehr folgt die Handlung: Wir suchen mit dem behinderten Carlos nach seinem Hund, fahren nachts Inline-Skate mit dem jungen Luc, springen mit Samuel in den Pool, sorgen uns mit dem Pastor Jeremy um Kinder und Kühlschrank oder sterben mit dem Kafka-Spezialisten Jacques an Aids. Der Tod ist grandios beschrieben: "da dachte Jacques, dass in dieser Seidenluft, in der köstlichen, duftenden Luft, der Vorhang seines Lebens lautlos zerriss, im gelben Leuchten eines Hibiskus, den ihm ein schwarzes Kind von der Straße entgegenstreckte". Ein Kontrapunkt zum jungen, atembeschwerten Leben Vincents - ein extremer Kontrast und eine extreme Nähe, den die Leser von "Schwarzer Winter" kennen: Blais ist eine Schriftstellerin des Existentiellen.
Die Erzähltechnik, die diese Nähe ermöglicht, ist modernistisch anspruchsvoll. Blais schlüpft in den Kopf ihrer Figuren und folgt ihnen auf Schritt und Tritt, mal eine, mal zehn Seiten lang, um dann (mitunter mitten im Satz) zur nächsten zu wechseln. Zwar wird die Syntax respektiert, aber Blais' Prosa wird dennoch zu einer höchst biegsamen Weidenrute, die sich jeder psychischen Kontur anzuschmiegen versteht. Die angelsächsischen Vergleichsgrößen, die üblicherweise genannt werden - Virginia Woolf (das Motto ist aus "Die Wellen"), William Faulkner, James Joyce -, meint man in der Tat als Blaupause für die reichen Bewusstseinsfacetten zu erahnen; weitere Vorbilder nennt der Text, etwa Max Ernsts Collagen. Für den Leser ist trotz oder wegen der Intensität die Lektüre nicht immer einfach: Die fast vierhundert Seiten von "Drei Nächte, drei Tage" kommen ohne Absätze, Kapitel oder gar Teile aus. Gliederung entsteht auf unkonventionelle Weise: durch den Rhythmus der Gedanken und Perspektiven, durch leitmotivische Formeln ("Rue Esmeralda, Rue Bahama").
Die schillernd flatterhafte, ebenso mutige wie verletzliche Renata ("ein Wesen mit Bruchstellen") bringt gleich anfangs ein zentrales Thema ins Spiel: das Böse. Mit Claude streitet sie über das Strafmaß für junge Täter. Selbst hat sie eine dunkle Seite, wird angezogen von Nachtleben, Casinos, Zigarrendunst, jungen Männern. Der Nachtfalter verbrennt sich: Ein Mann am Rande des Abgrunds vergewaltigt sie. Gewalt und Tod strecken auf viele Weisen ihre Finger aus: Esthers "Cousins aus Polen" sind dem Holocaust zum Opfer gefallen, Boatpeople geflüchtet. Gangs machen die Insel unsicher, die "Weißen Reiter des Todes", die an den Ku-Klux-Klan erinnern, und ihr Widerpart, die "schwarzen Schwadronen", drohen, denn "sie lauerten ihnen auf, unter den Palmen, in der Stadt der Sonne, der Stadt der Trauer und Trostlosigkeit". Gewalt: immer präsent, mal latent, mal brutal (1995 eine luzide Vorahnung), prägend für das soziale Miteinander und besonders für den Umgang der Geschlechter miteinander.
Um die Düsternis zu gestalten, greift Blais auf einen ganz und gar nicht modernistischen Autor zurück: Dante-Referenzen durchziehen den Roman. Wie seit der Romantik üblich, wird das Inferno der "Göttlichen Komödie" bemüht, es kommt durch Übersetzer ins Spiel, hängt aber auch Daniel an, dessen Manuskript wie "Gift" wirkt; schließlich befinden sich viele Figuren in einem "Zwischenreich", in dem sie ihren Ängsten und Obsessionen erliegen, wie Dantes Schatten ihren Strafen. Eine infernalische Karibik, wo das Bad im Swimmingpool an sehr viel kältere Wasser erinnert, etwa den höllischen Eissee.
Blais führt ihre Leser in eine Welt der Überlagerungen, der fortdauernden Gewalt, geprägt von dem "chaotischen Zusammenleben der Menschen mit ihrer Vergangenheit, diese neuen Menschen, die schon vor der Geburt von der Vergangenheit ihrer Väter verschlissen worden waren". In eine Welt, die aus all dem eine zart wuchernde Erzählkraft und Lebensfreude gewinnt, gemeistert in einer Prosa, so schneidend klar und biegsam wie ein Florett.
NIKLAS BENDER
Marie-Claire Blais: "Drei Nächte, drei Tage". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 394 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
"Drei Nächte, drei Tage" wird im Deutschen daraus, in Anspielung an die karnevalesken Feierlichkeiten, die eine karibische Insel in den Ausnahmezustand versetzen. Blais entwirft einen Mikrokosmos von Verwandten, Freunden, Feinden und Nachbarn, denen sie mehrere Tage und Nächte lang folgt. Schwerpunkt ist das Fest, das Melanie und Daniel zu Ehren ihres zehn Tage alten Sohnes Vincent ausrichten. Es treten auf: Melanies Mutter Esther, Arztgattin und Museumsdirektorin, die alternden Schriftsteller Charles, Jean-Mathieu, Adrien und Suzanne, die singende und sich prostituierende Pfarrerstochter Venus, eine Gruppe junger Schwuler um Tanjou sowie die wohlhabende Melanie selbst, mehrfache Mutter und potentielle Senatorin, ihr Mann Daniel, Schriftsteller, ihre Söhne. Eine Klammer des Romans stellt Renata dar, eine Anwältin, die mit dem Richter Claude verbandelt ist; sie ist Melanies Tante, mit ihr beginnt der Roman, und sie durchirrt ihn sozusagen als sein Rückgrat.
Diesen Figuren und vielen mehr folgt die Handlung: Wir suchen mit dem behinderten Carlos nach seinem Hund, fahren nachts Inline-Skate mit dem jungen Luc, springen mit Samuel in den Pool, sorgen uns mit dem Pastor Jeremy um Kinder und Kühlschrank oder sterben mit dem Kafka-Spezialisten Jacques an Aids. Der Tod ist grandios beschrieben: "da dachte Jacques, dass in dieser Seidenluft, in der köstlichen, duftenden Luft, der Vorhang seines Lebens lautlos zerriss, im gelben Leuchten eines Hibiskus, den ihm ein schwarzes Kind von der Straße entgegenstreckte". Ein Kontrapunkt zum jungen, atembeschwerten Leben Vincents - ein extremer Kontrast und eine extreme Nähe, den die Leser von "Schwarzer Winter" kennen: Blais ist eine Schriftstellerin des Existentiellen.
Die Erzähltechnik, die diese Nähe ermöglicht, ist modernistisch anspruchsvoll. Blais schlüpft in den Kopf ihrer Figuren und folgt ihnen auf Schritt und Tritt, mal eine, mal zehn Seiten lang, um dann (mitunter mitten im Satz) zur nächsten zu wechseln. Zwar wird die Syntax respektiert, aber Blais' Prosa wird dennoch zu einer höchst biegsamen Weidenrute, die sich jeder psychischen Kontur anzuschmiegen versteht. Die angelsächsischen Vergleichsgrößen, die üblicherweise genannt werden - Virginia Woolf (das Motto ist aus "Die Wellen"), William Faulkner, James Joyce -, meint man in der Tat als Blaupause für die reichen Bewusstseinsfacetten zu erahnen; weitere Vorbilder nennt der Text, etwa Max Ernsts Collagen. Für den Leser ist trotz oder wegen der Intensität die Lektüre nicht immer einfach: Die fast vierhundert Seiten von "Drei Nächte, drei Tage" kommen ohne Absätze, Kapitel oder gar Teile aus. Gliederung entsteht auf unkonventionelle Weise: durch den Rhythmus der Gedanken und Perspektiven, durch leitmotivische Formeln ("Rue Esmeralda, Rue Bahama").
Die schillernd flatterhafte, ebenso mutige wie verletzliche Renata ("ein Wesen mit Bruchstellen") bringt gleich anfangs ein zentrales Thema ins Spiel: das Böse. Mit Claude streitet sie über das Strafmaß für junge Täter. Selbst hat sie eine dunkle Seite, wird angezogen von Nachtleben, Casinos, Zigarrendunst, jungen Männern. Der Nachtfalter verbrennt sich: Ein Mann am Rande des Abgrunds vergewaltigt sie. Gewalt und Tod strecken auf viele Weisen ihre Finger aus: Esthers "Cousins aus Polen" sind dem Holocaust zum Opfer gefallen, Boatpeople geflüchtet. Gangs machen die Insel unsicher, die "Weißen Reiter des Todes", die an den Ku-Klux-Klan erinnern, und ihr Widerpart, die "schwarzen Schwadronen", drohen, denn "sie lauerten ihnen auf, unter den Palmen, in der Stadt der Sonne, der Stadt der Trauer und Trostlosigkeit". Gewalt: immer präsent, mal latent, mal brutal (1995 eine luzide Vorahnung), prägend für das soziale Miteinander und besonders für den Umgang der Geschlechter miteinander.
Um die Düsternis zu gestalten, greift Blais auf einen ganz und gar nicht modernistischen Autor zurück: Dante-Referenzen durchziehen den Roman. Wie seit der Romantik üblich, wird das Inferno der "Göttlichen Komödie" bemüht, es kommt durch Übersetzer ins Spiel, hängt aber auch Daniel an, dessen Manuskript wie "Gift" wirkt; schließlich befinden sich viele Figuren in einem "Zwischenreich", in dem sie ihren Ängsten und Obsessionen erliegen, wie Dantes Schatten ihren Strafen. Eine infernalische Karibik, wo das Bad im Swimmingpool an sehr viel kältere Wasser erinnert, etwa den höllischen Eissee.
Blais führt ihre Leser in eine Welt der Überlagerungen, der fortdauernden Gewalt, geprägt von dem "chaotischen Zusammenleben der Menschen mit ihrer Vergangenheit, diese neuen Menschen, die schon vor der Geburt von der Vergangenheit ihrer Väter verschlissen worden waren". In eine Welt, die aus all dem eine zart wuchernde Erzählkraft und Lebensfreude gewinnt, gemeistert in einer Prosa, so schneidend klar und biegsam wie ein Florett.
NIKLAS BENDER
Marie-Claire Blais: "Drei Nächte, drei Tage". Roman.
Aus dem Französischen von Nicola Denis. Suhrkamp Verlag, Berlin 2020. 394 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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»... die perfekte Einladung zum Davonträumen.« Jan Küveler DIE WELT 20201219
Literarische Nischenrolle
Aus dem umfangreichen Œuvre der hierzulande unbekannten, kanadischen Schriftstellerin Marie-Claire Blais liegt nun seit kurzem unter dem Titel «Drei Tage, drei Nächte» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung vor. Der in französischer …
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Literarische Nischenrolle
Aus dem umfangreichen Œuvre der hierzulande unbekannten, kanadischen Schriftstellerin Marie-Claire Blais liegt nun seit kurzem unter dem Titel «Drei Tage, drei Nächte» erstmals ein Roman in deutscher Übersetzung vor. Der in französischer Sprache geschriebene Band trägt im 1995 erschienenen Original den Titel «Soifs», was dem Sinn nach ‹durstig› bedeutet. Der deutsche Titel hingegen spielt auf die Erzähldauer dieses polyfonen Romans an, der das Chaos des Lebens im Verlauf dreier Tage zum Inhalt hat.
Auf einer tropischen Insel lebt ein buntes Völkchen verschiedenster Charaktere zwischen bitterer Armut und obszönem Reichtum. Gleich zu Beginn wird von Jacques erzählt, einem Professor der Literatur, der in palliativer Pflege dem Ende entgegendämmert und sich an verschiedene Ereignisse in seinem Leben erinnert. Dazu gehört vor allem auch seine letzte homosexuelle Affäre mit Tanjou, einem einheimischen jungen Mann, von dem er sich getrennt hat und der nun immer wieder tränenüberströmt an seinem Sterbebett erscheint. Eine weitere, häufig auftauchende Schlüsselfigur des Romans ist Renata, ehemals Frau eines Komponisten, die sich als Rechtsanwältin besonders für straffällige Jugendliche einsetzt. Sie ist mit einem Richter liiert und will sich auf der Insel von einer Operation erholen. Durch ihre schwere Erkrankung hat sich ihre latent vorhandene Lebensgier noch gesteigert, sie fühlt sich jünger als sie ist. Ihre Lebensfreude bezieht sie einzig aus dem Begehren der Männer, obwohl sie sich andererseits auch als kämpferische Feministin definiert. Zur Feier der Geburt des gerade zehn Tage alten Vincent geben dessen Eltern ein großes Fest, bei dem sein kleiner Bruder wie wild durch den geschmückten Garten rennt und der illustren Gästeschar laut schreiend verkündet: «Meine Mutter hat ihr Baby fertig!» Melanie, die glückliche Mutter, strebt scheinbar eine politische Karriere an, ihr Mann Daniel ist mit seinem neuen Roman beschäftigt. Zu Gast ist auch Julio, der bei der Flucht in die USA seine gesamte Familie verloren hat, das junge Paar kümmert sich seither rührend um ihn.
In einem 1995 schon deutlich auf den Jahrtausendwechsel hinzielenden, dystopischen Szenario werden die Risiken einer anhaltend unguten Entwicklung verdeutlicht. Gewalt, Macht, Rassismus, Missbrauch und Sexismus, aber auch unverhüllter Hedonismus, Lust und Begehren bestimmen das Geschehen. Das Figuren-Ensemble wird auch von Verrückten, Künstlern und Philanthropen bevölkert, Verbrecher, Dealer und Kleinkriminelle gehören ebenfalls dazu, jeder versucht sein Glück auf seine Weise. Soziale Ungerechtigkeit, Krankheit und Tod sind weitere Themenschwerpunkte, die Marie-Claire Blais mit ihrer scharfen Beobachtungsgabe anschaulich und in einer treffsicheren Sprache beschreibt.
Wie sie das tut ist zweifellos das Besondere an diesem apokalyptischen Roman, es handelt sich hier um eine absolut eigenständige, experimentelle Literatur. Stilistisch extrem eigensinnig, in einer konsequent durchgehaltenen, formalen Strenge, ist dabei letztendlich ein wahres Textungetüm entstanden. Völlig ungegliedert nämlich, ohne Kapitel oder Absätze vom ersten bis zum letzten Wort durchlaufend, werden über ganze Seiten hinweg reichende Sätze aneinander gereiht. In denen sich auch noch die Perspektiven manchmal kaum nachvollziehbar ändern, alles fließt ineinander. Das erfordert bei der Lektüre einen ebenso geduldigen wie aufmerksamen Leser. Es gibt zudem kaum so etwas wie Handlungsfäden, an denen diese monströsen Satzgebilde sich nachvollziehbar entlang hangeln könnten. Man ist quasi gezwungen, sich aus den sprunghaft vorgetragenen Textfragenten eine eigene Geschichte zusammenzureimen. Eine derart experimentelle Literatur jedoch ist allenfalls für eine elitäre Minderheit von Lesern goutierbar. Mit Fug und Recht lässt sich deshalb bezweifeln, dass dieses Buch an der literarischen Nischenrolle dieser kanadischen Schriftstellerin in Deutschland etwas wird ändern können.
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