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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: Springer, Basel
  • Seitenzahl: 271
  • Deutsch, Englisch, Französisch
  • Abmessung: 280mm
  • Gewicht: 1420g
  • ISBN-13: 9783764356576
  • ISBN-10: 376435657X
  • Artikelnr.: 23925936
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 24.08.1998

Jeder Neubau war ein Luftschloß
Lutz Windhöfel ergründet die Gedanken hinter Baseler Gebäuden

Bauen ist eine polemische Kunst: Sie entspringt dem Ringen mit den Elementen und besteht darin, diese so umzuorganisieren, daß sie sich selber trotzen. Die Architektur eines Gebäudes verdankt sich nicht einer creatio ex nihilo, einer ornamentalen oder funktionalen Schöpfung aus dem Nichts, sondern einer Form, Licht, Luft und Erde den Ort streitig zu machen, an dem das neue Gebäude entsteht. Die Konstruktionsskizzen der Architekten sind Strategieentwürfe in diesem Ringen, und man könnte die Baustile nach den Taktiken klassifizieren, die angewandt werden, um die Elemente zu überlisten: Ihre schroffe und blanke Abweisung durch die Selbstherrlichkeit des scheinbar in sich selbst ruhenden Monumentalbaus, wie ihn noch Mario Botta liebt; die aktive Bekämpfung der Elemente durch die nach außen gekehrte Armatur, wie sie das von Renzo Piano und Richard Rogers gebaute Centre Georges Pompidou in Paris bewehrt; das ebenso filigrane wie letztlich trügerische Spiel, das etwa den licht- und luftdurchlässigen Brücken und Kuppeln von Santiago Calatrava etwas Tänzerisches im bald anschmiegsamen, bald freischwebenden Umgang mit den Elementen zu verleihen scheint; oder das nahtlose Verschmelzen mit der natürlichen Umwelt, das bis zur gänzlichen Anonymität des Architekten jeden Anschein des Widerstreits vermeiden will.

Es schult die Sensibilität des Auges für das im Alltag gerne übersehene polemische Moment der Architektur, sich die verdrängte Luft und das zurückgeworfene Licht wie die ausgehobene Erde gleichsam zur Matrize verdichtet vorzustellen: als Gußform, in die das Gebäude eingepaßt worden ist. Dabei heißt Bauen immer auch Zwischenräume zu schaffen und zu gestalten, die sich zu dem verdichten können, was Michel Foucault "Heterotopien" genannt hat: Erfahrungsspielräume als Schauplätze, auf denen die habitualisierten Formen im Umgang mit Architektur sich selbst entfremdet werden. Wo die Mauern eben noch zwanglos unserer natürlichen Schutzbedürftigkeit zu entsprechen schienen, stellen sich plötzlich Fragen nach unserem Verhältnis zu den von ihnen eingehüllten Baukörpern und ihrem Außenraum. Die erwachte Neugier, für die dieser Außenraum nicht weniger sprechend ist als die Bauwerke selbst, sucht Begriffe.

"Sonnenventilator" nannte der Umweltfachmann Grady Clay 1983 in seinem Buch über "Ephemeral Places" die Schattenzone, die gleichzeitig mit der Errichtung eines neuen Gebäudes entsteht. Sie stellt eine flüchtigere, aber keineswegs geringere architektonische Qualität dar als das Gebäude selbst, zu dem sie sich verhält wie das Negativ zum Positiv. Im "Sonnenventilator" reflektiert sich gleichzeitig am deutlichsten, daß die Sichtbarkeit der Architektur und des von ihr erschlossenen Möglichkeitsraums eine Frage ihrer verbalen Konzeptualisierung ist: "Diese zeitgenössische Form eines geometrisch definierten Raums kann nur durch eine begriffliche Macht und Gewalt wahrgenommen werden. Er ist nur dann ,da' (vor uns), wenn wir ihn bewußt und visuell vor unser geistiges Auge projizieren. Manche Menschen werden ihn niemals begreifen, weil seine Wirklichkeit im Filter ihres Bewußtseins unsichtbar bleibt. Der Sonnenventilator hat immer eine potentielle Existenzform.

Der Basler Kunsthistoriker Lutz Windhöfel hat nun eine kleine Schule des Sehens vorgelegt, die das Architekturbewußtwein des Laienpublikums, an das sein Buch über neueste Bauten in seiner Heimatstadt sich richtet, erweitert und schärft. Windhöfel hellt den Bewußtseinsfilter buchstäblich auf, indem er ihn in das Lichtspiel von einundfünfzig Bauten taucht, die in den letzten fünf Jahren realisiert worden sind oder kurz vor ihrer Fertigstellung stehen. Nicht die einzelnen, international vielbeachteten Gebäude von Michael Alder, Diener & Diener, Silvia Gmür, Herzog & de Meuron oder Wilfried und Katharina Steib stehen also im Mittelpunkt, sondern das Panorama, das sie als Stadt in der Stadt bilden.

Die Anlage von Windhöfels Buch ist peripatetisch: Es versteht sich als Einladung, im promenierenden Erschließen und Denken der jüngsten Architektur in der "Regio Basillensis" die lokal-, regional- und staatspolitischen Grenzen zwischen der Schweiz, Deutschland und Frankreich zu überschreiten, ohne die alle drei Nationen umfassende Agglomeration selbst verlassen zu müssen. Beiläufig erörtert Windhöfel dabei jene Fragen, die dem Spannungsverhältnis zwischen Europäisierung und Regionalisierung entspringen und auch in anderen Grenzregionen aktuell sind, etwa: Wie baut man unter der Voraussetzung der sich abzeichnenden historischen Hinfälligkeit von Grenzen Zollstationen, die später einer anderen Nutzung offenstehen? Die "Amtsplatzüberdachung" an der Zollstation "Lysbüchel", die Frankreich und die Schweiz trennt, als zukünftige Tramhaltestelle, die St. Louis und Basel verbindet, ist die Antwort von Rolf Furrer und François Fasnacht. Umgekehrt nimmt die gerundete Rückfassade des Ausbildungs- und Konferenzzentrums, das Diener & Diener für den Schweizerischen Bankverein im Basler Bahnhof SBB gebaut haben, die Linienführung der Schnellbahn in Richtung Mulhouse und Paris vorweg, die erst noch gebaut werden muß. Hier deckt Windhöfel die potentielle Existenzform von Architektur auf.

Von Bau zu Bau, den Windhöfel vorstellt, eignet sich der Leser mehr und mehr eine Doppelperspektive an, die nicht nur das Innere von außen, sondern auch das Äußere von innen zu sehen lernt. Besonders hier nehmen die großzügigen Illustrationen - Photographien und Baupläne - für das Buch ein, etwa die Nachtaufnahme, die den großen Pausenhof des von Morger & Degelo erweiterten Dreirosenschulhauses mit dem beleuchteten Sportsaal unter der Erde als Lichtspielbrett zu erkennen gibt; dabei entschädigen die großkörnigen Schwarzweißaufnahmen für die Farben, die man in anderen Abbildungen vermißt, etwa bei der Beschreibung der sandfarbenen Gußbetonplatten, die Diener & Diener für die Fassade ihres Neubaus am Barfüsserplatz verwendet haben, oder beim aufgemauerten roten Klinker ihres Ausbildungs- und Konferenzzentrums für den Schweizerischen Bankverein. Entstanden ist so ein Buch für Flaneure, deren Blick über die jüngsten Gebäude im Stadtraum Basel streift, während sie diese vor ihrem geistigen Auge abschreiten.

"Architekturanalphabetismus" nennt der amerikanische Architekt Frank O. Gehry, der in Birsfelden bei Basel das 1994 fertiggestellte Vitra Center geschaffen hat, die Alltagsblindheit gegenüber der Baukunst: "Die Menschen kennen die Möglichkeiten gar nicht, die Architektur bietet." Doch Gehrys Diktum kann auch sprachkritisch gegen die Baukunst selbst gewendet werden: Gelegentlich fehlt es ihr an verbalen Konzepten, die neuen Wahrnehmungsformen, die sie schafft, in Worte zu fassen, um sie zu vermitteln. Hier bietet Windhöfel kräftige Anstöße. Der Rezensent jedenfalls kann auf seinem Arbeitsweg mit dem Fahrrad nicht mehr an Hanspeter Müllers Binninger Jugendhaus, an Richard Meiers Geschäftshaus "Euregio" und an Wilfried und Katharina Steibs Untersuchungsgefängnis des Kantons Basel-Stadt vorbeifahren, ohne ihnen dieselbe gleichschwebende Aufmerksamkeit zu schenken wie dem Tinguely Museum von Mario Botta oder der Fondation Beyeler von Renzo Piano. MARTIN STINGELIN

Lutz Windhöfel: "Drei Länder, eine Stadt". Neueste Bauten im grenzübergreifenden Stadtraum Basel 1992 - 1997. Birkhäuser Verlag, Basel 1997. 271 S., 310 Abb., geb., 78,- DM.

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