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Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 04.11.2011

Süddeutsche Zeitung Bibliothek
Bibliothek des Humors 5

Schere
im Kopf
Heinrich Böll: „Doktor Murkes
gesammeltes Schweigen“
Gott passt in eine leere Zigarettenschachtel, und zwar genau 27 Mal. Das hat Heinrich Böll (1917-1985) in der erstmals 1955 erschienenen Titelerzählung seines Satirenbandes „Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ bewiesen. So oft nämlich wurde das Wort Gott aus einem Radio-Vortrag des Großintellektuellen Bur-Malottke herausgeschnitten.
Dieser Bur-Malottkewill in seinen gesamten Rundfunkbeiträgen aus der frühen Nachkriegszeit das Wort Gott durch die in der Nazi-Zeit opportune antikirchliche Formulierung „jenes höhere Wesen, das wir verehren“ ersetzt wissen. Ausführendes Organ der nachträglichen Selbstzensur ist der junge Kulturredakteur Doktor Murke, der den Auftrag widerstrebend erfüllt. Murke fürchtet das, was man heute Karriereknick nennt, und Böll findet ein wunderbares Bild, wie er diesen Dämon bannt: Jeden Morgen vor Dienstbeginn dreht Murke mit dem Paternoster im Funkhaus eine Ehrenrunde. Voller Angstlust passiert er den oberen Kipp-Punkt, und diese kleine Schrecksekunde ist sein profanes Morgengebet, sein tägliches Vaterunser. „Angstfrühstück“ nennt er das.
Bölls Satire ist eine Parabel auf die Kontinuität zwischen der NS-Ideologie und dem restaurativen Geist der Adenauer-Jahre, ein Stück Mentalitätsgeschichte der frühen Bundesrepublik, ihres Konformismus und Materialismus. Und auch eine geradezu prophetische Medienschelte. Die Schere im Kopf wird zum wichtigsten Hilfsmittel, um dem Quoten- und politischen Anpassungsdruck nachzugeben. Und der Protest bleibt so stumm wie das aus den Abfallbändern herausgeschnittene gesammelte Schweigen, das sich Murke abends vorspielt, um sich vom Verblendungsgeschwätz zu erholen, das er tagsüber versendet.
„Doktor Murkes gesammeltes Schweigen“ wurde 1963/64 mit Dieter Hildebrandt verfilmt, ebenso zwei weitere Satiren aus diesem Band. „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ ist bis heute ein Fernsehklassiker – auch dies eine Geschichte über Verdrängung und verweigerte Aufarbeitung der Nazizeit. Eine Mutter tyrannisiert ihre Familie, indem sie diese dazu zwingt, jeden Abend mit ihr Weih-nachten zu feiern. Sie betrachtet das als Wiedergutmachung für die Kriegswinter, die ihr keine größeren Opfer abverlangten als den Verzicht auf den reich geschmückten Baum. Bölls Kunstgriff be-steht darin, dass er eine affirmative Erzählperspektive wählt, so treibt er die Absurdität auf die Christbaumspitze.
Ähnlich verfährt Böll in „Hauptstädtisches Journal“, der Charakterstudie eines Ewiggestrigen, dem – „Opposition, was ist das?“ – der Systemwechsel zur Demokratie völlig entgangen ist. „Der Wegwerfer“ ist eine Parodie auf die neue Überflussgesellschaft, und in „Es muss etwas geschehen“ nimmt er den blinden Aktionismus der Wirtschaftswunderjahre aufs Korn. Für Heinrich Böll war das Schreiben von Satiren eine literarische Lockerungsübung. Hier löste sich manche stilistische Verkrampfung seiner Hauptwerke. Doch was er sozusagen nur mit links geschaffen hat, ist um Klassen besser als der Konsenshumor heutiger Berufssatiriker, die mit beiden Händen in die buntgemischte Früchteschale greifen, so die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs Satire. Bei Böll war Satire der Apfel vom Baum der Erkenntnis, bei seinen Nachfahren ist sie meist einfach nur Banane.
CHRISTOPHER SCHMIDT
Heinrich Böll
Foto: SZ Photo/Brigitte Friedrich
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