Produktdetails
  • Verlag: Newton Compton / Paulsen
  • Seitenzahl: 664
  • Erscheinungstermin: 13. September 2021
  • Italienisch
  • Abmessung: 38mm x 139mm x 223mm
  • Gewicht: 640g
  • ISBN-13: 9788879835824
  • Artikelnr.: 21871444
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.04.2010

Odyssee im Weltraum, Teil eins
Hartmut Köhler übersetzt Dantes Göttliche Komödie, die größte Fantasy-Geschichte des Mittelalters, in Prosa und kommentiert gelehrt
Mit Dante sollte man es sich nicht zu schwer machen. Natürlich ist die „Göttliche Komödie” ein gelehrtes Weltgedicht aus Kosmologie, Theologie und dem historischen Wissen von Antike und Mittelalter. Die schwindelerregende Ordnung dieser Überlieferungen wirkt zwingend folgerichtig und unendlich ausdeutbar zugleich. Von einem „Meer des Sinns” hat jüngst der Romanist Karlheinz Stierle gesprochen. Aber je öfter man solche Qualitäten herausstreicht, umso erfolgreicher wird man neue Leser abschrecken.
Dann gerät ins Hintertreffen, dass hier zunächst eine anschauliche Geschichte erzählt wird, nämlich eine Jenseitsreise, die durch drei präzise gezeichnete Reiche führt: Die Hölle ist eine düster geschluchtete Berglandschaft mit Sandstürmen, Feuerregen und Eisseen; das Fegefeuer ein dagegen fast idyllisch anmutender Ort der Reinigung, mit Hirtengesängen, Frühlingsluft und weiten Ausblicken; das Paradies aber ein gleißender Himmel von Licht und Sternen, Klang und Gesang, der sich im abstrakten Fluten des Gottesbildes auflöst. Wir lesen die größte Fantasy-Geschichte des Mittelalters, bevölkert mit Teufeln, Monstern und Drachen, später von Engeln und Heiligen, vor allem aber den Seelen bedeutender Menschen – eine wahre Odyssee im Weltraum, die spannend bleibt bis zu den letzten Versen, wo dem Dichter die Sprache versagt und Gottes reine Liebe die Sonne und die anderen Sterne kreisen lässt.
Was man wissen muss, um dieser Geschichte zu folgen, fragt der Leser bald von selbst, und so wird er dankbar für eine Ausgabe sein, die den Kommentar nicht in einen Anhang am Ende, gar in separate Bände verbannt, sondern dort hinsetzt, wo er gebraucht wird: unten an den Seitenrand. Damit ist schon der erste gewaltige Vorzug der insgesamt vorzüglichen Neuübersetzung im Reclam Verlag genannt. Das ehrgeizige Unternehmen von Hartmut Köhler, von dem nun mit der „Hölle”, dem Inferno, der erste Teil vorliegt, unterscheidet sich darin von der letzten vergleichbaren Ausgabe, der in drei Text- und drei separaten Kommentarbänden aufgeteilten zweisprachigen Ausgabe Hermann Gmelins, die von 1949 bis 1957 erschienen ist.
Wie Gmelin bietet das Reclam-Unternehmen, das drei Bände umfassen wird, links vom deutschen Text das italienische Original; anders als bei Gmelin ist die deutsche Version in Prosa gehalten – Gmelin hatte Jamben gewählt, dem italienischen Elfsilbler („Endecasillabo”) folgend, aber er hatte wie vor ihm Karl Witte und Karl Vossler auf die verketteten Reime von Dantes Terzinen verzichtet. Damit war dem im Vergleich zum Italienischen reimearmen Deutschen eine erstickende Fessel genommen und der ungezwungenen Lesbarkeit ein großer Dienst geleistet worden.
Dass Dantes Sprache nämlich bei aller Gelehrsamkeit, bei allen rhetorischen Figuren und bei allem gesuchten Reichtum des Vokabulars eine ungezwungene, frische, jugendliche Sprache ist, war in den meisten deutschen Übersetzungen kaum wahrzunehmen. Die beiden berühmtesten, die Teilübertragung Stefan Georges und die Gesamtübersetzung von Rudolf Borchardt, ließen gerade diese Qualität verschwinden. George schuf eine Travestie aus Stilelementen Petrarcas, Baudelaires und der englischen Präraffaeliten, deren steifer Duktus fast so schwer erträglich ist wie der wahnwitzige Versuch Borchardts, Dante in ein pseudogotisches Mittelhochdeutsch unter peinlicher Nachahmung von italienischen Klangfiguren umzugießen – Verständlichkeit Nebensache, genießbar nur für Kenner, die hier lächelnd ihre Köpfe schütteln dürfen.
Hartmut Köhler steht am anderen Ende der Möglichkeiten, denn er hat sich für eine Prosafassung entschieden, die, den Homer-Übertragungen Wolfgang Schadewaldts vergleichbar, vor allem auf die Abfolge der Wörter und Vorstellungsinhalte Rücksicht nimmt, also auf jene Umstellungen verzichtet, die Versmaß und Reimzwang so oft nahelegen. Und siehe: Dantes Text fließt, frei wird der innig-einfache Untergrund einer Vulgärsprache, deren Ton auf Plätzen und Straßen und nicht zuletzt bei den Frauen abgelauscht ist, und deren Klangstimmung mit evangelischer oder mittelalterlich-zeitgerechter: franziskanischer Einfachheit charakterisiert werden kann.
Dante nämlich, das ist seine erste Größe, kann wie der Heilige Franz mit den Vögeln und den Pflanzen sprechen: „Wie Blümlein, die vom Nachtfrost gebeugt und verschlossen waren und nun von der Sonne beleuchtet sich alle wieder öffnen und auf ihrem Stengel aufrichten,/ so ging es mir mit meiner müden Kraft, und so viel guter Mut floss mir ins Herz, dass ich losredete wie ein ganz Kühner.”
Das sagt Dante von sich fast zu Beginn, nachdem er von Vergil, seinem Führer ins Jenseits, erfahren hat, dass seine geliebte Beatrice ihm vom Himmel aus zu dieser Fahrt, die sein Leben wieder auf die richtige Bahn lenken soll, verholfen hat. Links von dieser einfach klaren Fassung kann der Leser dann die cantable Schönheit des Originals erleben: „Quali i fioretti, dal notturno gelo/ chinati e chiusi, poi che `l sol li `imbianca/ si drizzan tutti aperti in loro stelo// tal mi fec‘ io di mia virtute stanca . . .”. Wobei die Zusammenraffung in der Selbstermutigung durch den Akzent auf dem „Ich” (tal mi fec‘ ío . . .) ganz ungezwungen Klang wird.
Hier gibt es nichts zu erklären, nur auf die Schönheit hinzuweisen, und das tut Köhler, indem er im Kommentar von „franziskanischer Bescheidenheit” spricht und indem er den großen italienischen Schauspieler Roberto Benigni zitiert, der diesen Blumenvergleich „eins der schönsten Gleichnisse der Göttlichen Komödie” nannte. Womit ein weiterer Vorzug dieser Ausgabe sichtbar wird: Köhler macht uns den großen Spass, seinen Kommentar nicht nur für Sacherläuterungen – wo stehen wir gerade im Höllenraum? –, oder für historisches Wissen – welcher Papst war es, der aus Feigheit seine große Aufgabe nicht erledigte? – zu nutzen, nein dieser Übersetzer führt auch das Gespräch mit früheren Dante-Lesern und er zitiert zuweilen ältere Übertragungen, die zu anderen Lösungen kommen.
Wir erfahren, dass die Ehebrecher Paolo und Francesca, das rührendste Paar der „Commedia”, von Settembrini in Thomas Manns „Zauberberg” dem jungen Hans Castorp warnend vorgehalten werden – sie haben „die Vernunft der Lust zum Opfer gebracht”, lesen wir da fast wörtlich („la ragion sommettono al talento”) –; und auch, dass Wilhelm Raabe den Seufzer der Francesca, dass nichts doch mehr schmerze, „als an die Zeit des Glücks zu denken, wenn man im Elend ist” im „Abu Telfan” zitiert. Am Ende dieses fünften Gesangs ist Dante vom Unglück der Liebenden so überwältigt, dass er zu Boden fällt, „wie ein toter Körper fällt”. Das ist fast so hart akzentuiert wie das Original: „E caddi come corpo morto cade.” Der Kommentar aber resümiert auch die berühmteste Deutung dieses Gesangs, Hugo Friedrichs Buch über „Die Rechtsmetaphysik der Göttlichen Komödie” von 1942, das in zeitgemäßer Unerbittlichkeit Dantes Mitleidsohnmacht als „philanthropische Rührung”, ja als „unangemessenes Beben des Gemüts” abkanzelte.
Sicher, Klangwirkungen und Wortspiele können nur selten überzeugend wiedergegeben werden; wenn der gefräßige Ciacco zu Dante sagt, „tu fosti, prima ch’io disfatto, fatto”, dann ist Köhlers deutsche Version, „Du tratest noch auf, kurz bevor ich abtrat” eher matt, lenkt aber immerhin die Aufmerksamkeit auf die rhetorische Figur.
Die „Hölle” ist ein Kompendium der Grausamkeiten, die Luft ist erfüllt von Schreien und Wimmern, ja von Händeschlagen, und unablässiges Regnen von Nässe oder Feuer peinigt die Seelen der Verdammten, Stürme peitschen sie, und wer, wie Brunetto Latini, Dantes homosexueller Lehrer, dem er doch ehrfürchtig huldigt, beim ewigen Rennen durch den glühenden Sand für ein kurzes Gespräch zurückbleibt, muss sein Pensum vervielfacht nachholen – dass die Grausamkeit der Lager des 20. Jahrhunderts immer wieder an dieses „Inferno” denken ließ, zitiert Köhler ausgiebig.
Die schlimmsten Grausamkeiten aber werden in der Hölle nur berichtet, begangen wurden sie auf Erden. Ein antiker Sizilianer erfand einen bronzenen Stier, in den Menschen geworfen wurden; dieser Stier begann zu brüllen, wenn man unter ihm ein Feuer anzündete. Das hat Dante von Cicero, und er sagt, der erste, der dem Bronzestier die Stimme leihen musste, war sein Erfinder.
Im untersten Grund der Hölle wird die Geschichte des Grafen Ugolino erzählt, der von seinen Pisaner Feinden zusammen mit den eigenen Söhnen in einen Turm eingemauert wurde und dort verhungerte, nicht ohne vorher vom Fleisch seiner vor ihm verstorbenen Kinder gegessen zu haben.
Dann folgt einer der erschütterndsten Momente der „Commedia”, Dantes Fluch auf Pisa, gefolgt von einer Liebeserklärung für Italien: „Weh dir, Pisa, du Schandfleck der Menschen”, beginnt der Fluch, „Ahi Pisa, vituperio delle genti”, um dann fortzufahren: „in dem schönen Land, wo man sì für ja sagt”. Auf Italienisch ist es die Melodie der Heimatliebe: „del bel paese là dove `l sì suona”. Solche Wechsel zwischen zwei Zeilen, wo die Liebe den Fluch erst beglaubigt, bringt nur Dante fertig. Und hier ist auch ein Goethe-Zitat im Kommentar am Platz: „Die wenigen Terzinen, in welche Dante den Hungertod Ugolino’s und seiner Kinder einschließt, gehören mit zu dem höchsten, was die Dichtkunst hervorgebracht hat: denn eben diese Enge, dieser Laconismus, dieses Verstummen bringt uns den Thurm, den Hunger und die starre Verzweiflung vor die Seele.”
Verzweiflung: Das ist das Neue, was Dante in die Literatur gebracht hat. Die Antike kennt den Schrecken der Tragödie, das Grauen vor dem Haupt der Gorgo, die Trostlosigkeit der Toten in der Unterwelt. Die Verzweiflung aber ist in der christlichen Hölle zu Hause, die ein Reich der Seele ist. Denn wer hier unten auf Ewigkeit leidet, wird nicht einfach gefoltert, er hat selbst Schuld, er ist festgenagelt auf den stillgestellten, immer wiederkehrenden Moment seiner Verfehlung, er ist diese Sünde, die er abbüsst, in seiner Existenz.
Diese Verzweiflung exponiert das „Inferno” schon mit der berühmten Inschrift am Eingangsportal, die einerseits „etterno dolore”, „endlose Qual” ankündigt, und andererseits versichert: „Gerechtigkeit bewegte meinen hohen Schöpfer; mich schuf die Göttliche Macht, die Höchste Weisheit und die Erste Liebe.” Köhler zitiert hier im Kommentar auch die wenig bekannte Versübersetzung Schellings: „Gerechtigkeit bewog den, der mich schuf,/ Es machte mich die Kraft des ew’gen Willens,/ Die höchste Weisheit und die erste Liebe.” Das ist schockierend bis heute, und es führt in der Härte seiner Konsequenz auch an die Ränder des Weltbildes, das Dante mit so schreienden Widersprüchen zementiert.
Der Weltrand wird im 26. Gesang vom alten Ulysses ganz buchstäblich erreicht, wo er auf seiner letzten Fahrt durch die Säulen des Herkules an jenem Felsen scheitert, den bis zu Edgar Allan Poe oder Hermann Melville und ihren Nachfolgern so viele Dichter ansteuerten: „Und dann schlug über uns das Meer zusammen.” Dante, dessen Jenseitsfahrt von der kühnen Bewusstheit solcher Grenzüberschreitung getragen ist, ging nicht unter, sondern erreichte den Ausgang der Hölle, wo er „durch eine runde Öffnung einige von den schönen Dingen erblickte, die der Himmel trägt. Dann traten wir hinaus und sahen die Sterne wieder.” Welcher Leser wäre hier nicht gespannt auf die Fortsetzung? GUSTAV SEIBT
DANTE ALIGHIERI: La Commedia. Die Göttliche Komödie. I. Inferno / Hölle. Italienisch / Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Philipp Reclam jun., Stuttgart 2010. 562 Seiten, 27,95 Euro.
Frei wird der einfache Untergrund einer Vulgärsprache, deren Ton auf Plätzen und Straßen abgelauscht ist.
Er bringt uns den Turm des Ugolino, den Hunger und die starre Verzweiflung vor die Seele.
„Gerechtigkeit bewegte meinen hohen Schöpfer; mich schuf die Göttliche Macht . . . ”
Sandro Botticellis Ansicht des Infernos, 1490 -1496. Foto: Interfoto/Alinari
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