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Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) gilt als Klassiker des hermeneutischen Denkens, in dem das geschichtliche Verstehen im Mittelpunkt steht. Die großen Entwürfe von Martin Heidegger oder Hans-Georg Gadamer wären ohne seinen Einfluss nicht denkbar. Und doch greift das Schlagwort "Hermeneutik" für die Intentionen Diltheys zu kurz. Treibende Kraft seiner Arbeiten war die Überzeugung, dass weder die traditionelle Metaphysik noch die naturwissenschaftliche Denkweise dem menschlichen Weltverhältnis gerecht werden, das gleichberechtigt Vernunft, Wille und Gefühl einschließe. Matthias Jung stellt einen…mehr

Produktbeschreibung
Wilhelm Dilthey (1833 - 1911) gilt als Klassiker des hermeneutischen Denkens, in dem das geschichtliche Verstehen im Mittelpunkt steht. Die großen Entwürfe von Martin Heidegger oder Hans-Georg Gadamer wären ohne seinen Einfluss nicht denkbar. Und doch greift das Schlagwort "Hermeneutik" für die Intentionen Diltheys zu kurz. Treibende Kraft seiner Arbeiten war die Überzeugung, dass weder die traditionelle Metaphysik noch die naturwissenschaftliche Denkweise dem menschlichen Weltverhältnis gerecht werden, das gleichberechtigt Vernunft, Wille und Gefühl einschließe.
Matthias Jung stellt einen Denker vor, den die Suche nach einem Zugang zu unreduzierter, dem menschlichen Lebensvollzug entsprechender Erfahrung früh den Wahrheitsanspruch aller weltanschaulichen Systeme in Frage stellen ließ. Die Diskussionen unserer Zeit um Kultur und Gesellschaft, Wissenschaft und Lebenswelt, Objektivität und subjektive Perspektiven haben in Dilthey einen beeindruckenden Vordenker.
Autorenporträt
Matthias Jung, geb. 1960, Studium der katholischen Theologie und Philosophie in Frankfurt am Main. 1989 philosophische Promotion, 1997 Habilitation. Seit 1997 Hochschuldozent für Philosophie/Ethik an der TU Chemnitz, Arbeitsschwerpunkte: Hermeneutik, Pragmatismus, Religionsphilosophie, Ethik. Buchveröffentlichungen: Das Denken des Seins und der Glaube an Gott (1990), Dilthey zur Einführung (1996), Erfahrung und Religion (1999), als Koautor: Projekt Leben. Ethik für die Oberstufe (2001).
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.01.1997

Wenn die Metaphysik schläft
Matthias Jung erweckt Diltheys Hermeneutik

Gewiß zählt Wilhelm Dilthey zu den in der Geschichte der Geisteswissenschaften meistzitierten und wohl auch einflußreichsten Autoren, ebenso gewiß aber zählt er auch zu denen, die heutzutage nicht allzuoft gelesen werden. Dafür gibt es zwei Gründe: In der seit den sechziger Jahren dominanten marxistischen Tradition galt Dilthey als einer der Begründer der "Lebensphilosophie", jener irrationalistischen Denktradition, die, wie Lukács es formulierte, durch ihre "Zerstörung der Vernunft" dem Nationalsozialismus ein breites intellektuelles Einfallstor öffnete. Ebenso wichtig war aber auch die Tatsache, daß die seit den zwanziger Jahren begonnene Edition des verstreuten Dilthey-Nachlasses nur schleppend vorankam, so daß der Hauptteil dieser Manuskripte erst seit wenigen Jahren ediert vorliegt.

Der Dilthey des mittlerweile herausgegebenen Materials eröffnet neue Interpretationsperspektiven, die zu einer grundlegenden Revision des überkommenen Bildes vom vernunftfeindlichen Anwalt des Lebens führen. Matthias Jung hat daher ein notwendiges, in Teilen lange überfälliges Buch publiziert: fünfundachtzig Jahre nach Diltheys Tod hat er als erster eine für breitere Leserkreise bestimmte "Einführung" in das umfangreiche und, wie sich zeigt, immer wieder überraschende Werk Diltheys geschrieben.

Er wird dabei dem Anspruch des Lesers auf eine gründliche, auf das Wesentliche konzentrierte, eingängig geschriebene, aber dennoch fachlich korrekte Darstellung gerecht. Trotz der fast sprichwörtlichen Zerstreutheit von Diltheys eigener Forschungsweise und Publikationspraxis gelingt es Jung, Leitmotive im Denken Diltheys herauszuarbeiten und für die intellektuelle Gesamtentwicklung des Philosophen festzuhalten.

Jung unterteilt Diltheys geistige Entwicklung in drei Phasen, die er durch das Referat einiger der größeren Arbeiten aus der jeweiligen Schaffensperiode präzise charakterisiert. Die erste Phase, in der Dilthey eine "Erkenntnistheorie der ersten Person" ausgearbeitet habe, stellt er vor allem anhand der Paraphrase der "Einleitung in die Geisteswissenschaften" (1865) vor. Der mittlere Dilthey wandte sich verstärkt der Handlungstheorie zu: Pragmatismus, Psychologie und Ästhetik stehen im Mittelpunkt von Jungs Darstellung. Der späte, der "Hermeneutik des objektiven Geistes" zugewandte Dilthey läßt sich treffend am Beispiel der "Aufbau"-Schrift und der "Weltanschauungslehre" behandeln.

Ohne Frage ist der reife Dilthey, der auf Marx, Tolstoi und Nietzsche reagiert und sich mit Husserl auseinanderzusetzen hat, für uns heute philosophisch von größtem Interesse. Denn dieser Dilthey machte Ernst mit dem bereits früh gewonnenen Leitmotiv seines Denkens, das er in der "Einleitung" als die "Euthanasie der Metaphysik" bezeichnete und das Jung zutreffend in dem Diltheyschen "Satz der Phänomenalität" greifen zu können meint: daß es nämlich keinen "direkten", sondern stets nur einen interpretierten und zugleich interpretierenden Zugang zur Wirklichkeit gebe. Damit ist jene gedankliche Voraussetzung geisteswissenschaftlicher Hermeneutik benannt, die in der Analyse der Strukturbedingungen des Interpretierens besteht und damit einen "objektiven Geist" zu bestimmen vermag, in dessen Vollzug der historisch handelnde Mensch als ein bloßer "Kreuzungspunkt" kultureller Interpretationsbedingungen demaskiert wird. So wird die Wahrheitsfrage der Philosophie in die Frage nach ihren historischen Bedingungen aufgelöst.

Das Erbe Hegels, das auch die Wortwahl des späten Dilthey bestimmte, mag zwar geschichtsphilosophischen Fehlinterpretationen Vorschub leisten; in Jungs umsichtiger Darstellung wird indes die geisteswissenschaftlich-historische Dimension Diltheys und damit sein Abstand von geschichtsphilosophischer Spekulation hinreichend deutlich. Dilthey rückt vielmehr in die Nähe der großen philosophischen Diagnostiker des neunzehnten und unseres Jahrhunderts, wenngleich er in der Sprache gemäßigter und in der Haltung versöhnlicher war als Nietzsche oder Foucault.

Leider hat Jung diese philosophiegeschichtlichen Linien nicht kräftiger ausgezogen. Gelegentliche, in den Text eingestreute Verweise auf Nietzsche oder Freud richten sich wohl eher an den Kenner und bleiben episodisch. Und das knappe Schlußkapitel zur "Wirkungsgeschichte" referiert in karger, fast lexikalischer Manier vor allem direkte Bezugnahmen auf Dilthey, von Husserl und Heidegger bis hin zu Habermas und Ferdinand Fellmann. Doch sind solche Auslassungen angesichts der Vorgabe an den Autor, eine "Einführung" in das umfängliche Werk Diltheys zu geben, verständlich; sie vermögen den überragenden Gesamteindruck, den Jungs Einführung beim Leser hinterläßt, nicht zu trüben. MATTHIAS KROSS

Matthias Jung: "Dilthey zur Einführung". Junius Verlag, Hamburg 1996. 218 S., br., 24,80 DM.

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