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Saidiya Hartman erforscht das lange Nachleben der Sklaverei: Ein grundlegendes Nachdenken über die Unfreiheit und ein radikales Experiment, die Geschichte Schwarzer Frauen auf andere Weise zu schreiben und zu kennenWie lassen sich die Versklavung und ihr Nachleben erzählen? Welche Rolle spielen darin Schwarze Frauen, von deren Schicksal lange fast ausschließlich die Aufzeichnungen der Sklavenhändler und Plantagenbesitzer, Gerichtsnotizen, Gutachten und Akten zeugten? Diese Fragen beschäftigen die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman seit ihren bahnbrechenden Studien zum Terror der…mehr

Produktbeschreibung
Saidiya Hartman erforscht das lange Nachleben der Sklaverei: Ein grundlegendes Nachdenken über die Unfreiheit und ein radikales Experiment, die Geschichte Schwarzer Frauen auf andere Weise zu schreiben und zu kennenWie lassen sich die Versklavung und ihr Nachleben erzählen? Welche Rolle spielen darin Schwarze Frauen, von deren Schicksal lange fast ausschließlich die Aufzeichnungen der Sklavenhändler und Plantagenbesitzer, Gerichtsnotizen, Gutachten und Akten zeugten? Diese Fragen beschäftigen die Literaturwissenschaftlerin Saidiya Hartman seit ihren bahnbrechenden Studien zum Terror der Sklaverei und seiner Bedeutung für den Selbstentwurf der USA. Ausgehend von historischen Details, überschreiten die hier versammelten Essays virtuos die Grenze zwischen Geschichte und Imagination, um zu erzählen, was nicht erzählt werden kann. Hartman evoziert das Innenleben Schwarzer Existenz im 18., 19. und frühen 20. Jahrhundert in einer verblüffenden Intimität. Ihre Aufmerksamkeit gilt dabei einem Handeln unter Umständen, die Handlungsfähigkeit selbst auslöschen wollen. Die erstmals ins Deutsche übersetzten Texte aus den Jahren 2008 bis 2020 - darunter die einflussreichen Aufsätze »Venus in zwei Akten« und »Der Bauch der Welt« - sinddeshalb immer auch beeindruckende Dokumente eines unablässigen Nachdenkens: über die Möglichkeiten und Grenzen historiografischer Methoden, über Archiv, Theorie und Politik und über das literarische Schreiben.
Autorenporträt
Saidiya Hartman ist University Professor (at large) an der Columbia University. Zu ihren Veröffentlichungen zählen 'Scenes of Subjection' (1997), 'Lose Your Mother' (2007) und Wayward Lives, 'Beautiful Experiments' (2019), für das sie mit dem National Book Critics Circle Award ausgezeichnet wurde.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.07.2022

Um die Fiktionen der Historiographie zu übertreffen
Fabulieren, aber kritisch: Saidiya Hartman springt der übergangenen Erinnerung an schwarze Frauen mit Geschichten bei

Wie lässt sich die ungeschriebene Geschichte der Erfahrung versklavter Menschen darstellen? Und wie können die Schicksale dieser Menschen vor dem Vergessen gerettet werden? In ihrem 2008 erstmals publizierten, höchst einflussreichen Aufsatz "Venus in zwei Akten", der nun erstmals in deutscher Übersetzung in der schmalen Anthologie "Diese bittere Erde" vorliegt, denkt die an der Columbia-Universität in New York lehrende Literatur- und Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman über die Möglichkeiten nach, das Leben Versklavter während der Überfahrt über den Atlantik zu dokumentieren. Ausgangspunkt des Essays war ihre ein Jahr zuvor erschienene Studie "Lose Your Mother: A Journey Along the Atlantic Slave Route". In ihr hatte Hartman das Schicksal eines Mädchens geschildert, das 1792 auf dem britischen Sklavenschiff "Recovery" zu Tode gefoltert worden war, wohl weil es sich geweigert hatte, nackt für den Kapitän zu tanzen. Die Ermordung des Mädchens feuerte in England die Debatte über das Verbot des Sklavenhandels weiter an.

In Hartmans Erzählung dieser brutalen Tötung und der sich daran anschließenden Gerichtsverhandlungen findet beiläufig auch ein anderes versklavtes Mädchen namens "Venus" Erwähnung: ein zufälliger Aktenfund in der Anklageschrift gegen den - im Übrigen vom Gericht freigesprochenen - Kapitän des Sklavenschiffs. In "Venus in zwei Akten" greift sie das Schicksal dieses Mädchens wieder auf. Denn es verweise nicht nur auf den physischen Tod, den viele Versklavte während der Überfahrt erlitten. Es stehe zudem für den "sozialen Tod", welche das Archiv in seinem Unvermögen, schwarze Leben zu dokumentieren, befördere

Vor diesem Hintergrund entwirft Hartman in ihrem Aufsatz das Konzept eines "kritischen Fabulierens".Sie denkt darüber nach, "was hätte sein können", und beginnt mit einem erfundenen Detail: der Aussage eines Matrosen, der bezeugt, dass die beiden Mädchen befreundet waren. Davon ausgehend, imaginiert sie eine Geschichte von zwei dem Untergang geweihten Versklavten, die ihre Tage an Bord gemeinsam verbringen, Trost in der Gesellschaft der anderen finden. An Ende hält Venus ihre sterbende Freundin in den Armen und flüstert ihr ins Ohr, dass alles gut werde.

Hartman ist sich bewusst, dass eine solche "Gegengeschichte" vielen als problematisch erscheinen muss. Sie will trotzdem "eine Fantasiegeschichte schreiben, die die Fiktionen der Historiographie übertrifft". Und doch besteht ein Großteil ihres Essays darin, die Unsicherheit über ihr methodisches Verfahren darzulegen.

Hartmans Intervention machte "das Problem des Archivs" gleichwohl zu einer zentralen Frage für die Erforschung der atlantischen Sklaverei. Damit verband sich bald die Kritik schwarzer feministischer Forscherinnen an den Standardmethoden der Sozialgeschichte, die als unzureichend erachtet wurden, die Erfahrungen afrikanischer und afrikanischstämmiger Frauen in den Amerikas zu vermitteln. Hartmans jüngstes Buch unternimmt einen weiteren Versuch, diesen Erfahrungen zur Darstellung zu verhelfen.

Sie nutzt dazu Quellen vor allem von Akteuren, die schwarze Frauen als "Problem" sahen: Gerichts- und Gefängnisakten, Interviews mit Psychologen, soziologische Erhebungen. Und imaginiert auf der Grundlage punktueller Fakten die Sehnsuchtshorizonte ihrer Protagonistinnen. Ein ebenso irritierendes wie faszinierendes Verfahren, changierend zwischen Geschichtsschreibung und Literatur. Sie will ihr Buch jedoch nicht als historische Fiktion verstanden wissen, sondern etikettiert es als eine "Geschichte der Gegenwart" - die Untersuchung der Vergangenheit, um zu zeigen, wie sie unsere Zeit weiterhin heimsucht.

"Aufsässige Leben, schöne Experimente" führt in das frühe zwanzigste Jahrhundert und die erste Phase der "Great Migration" von Schwarzen in die urbanen Zentren des Nordens der Vereinigten Staaten. Die jungen schwarzen Frauen, die im Zentrum der Darstellung stehen, kamen nach New York und Philadelphia in der Hoffnung, den rassistischen Beschränkungen und der Gewalt der Jim-Crow-Gesetze in den Plantagenregionen des Südens zu entkommen. Sie trafen freilich auf heruntergekommene Slums, an Sklaverei gemahnende Hausarbeit und soziale Reformer und Polizisten, die ihre intimsten Aktivitäten zu überwachen suchten. Unter dem Deckmantel der Reform des Wohnungswesens sahen sich die Frauen regelmäßig der Prostitution beschuldigt und fanden sich in "Besserungsanstalten" oder Arbeitshäusern wieder.

Frauen wurden, schreibt Hartman, "auf der Türschwelle ihrer Häuser und in ihren Wohnungen verhaftet, beim Aussteigen aus Taxis, beim Flirten auf der Tanzfläche, beim Warten auf ihre Ehemänner, auf dem Heimweg vom Varieté mit Freundinnen, beim intimen Beisammensein mit einem Geliebten oder wenn sie zur falschen Zeit am falschen Ort waren". Viele ihrer Protagonistinnen lebten in einer Art "alltäglicher Anarchie" und experimentierten mit neuen Lebensformen: Sie nahmen sich Liebhaber, pflegten lesbische Beziehungen, kleideten und benahmen sich, wie es ihnen gefiel.

Hartman argumentiert, dass schwarze Frauen eine ganze Reihe sozialer Arrangements begründeten, die einst als deviant erachtet wurden, heute aber "normal" geworden sind. Schwarze Frauen, schreibt sie, agierten oft außerhalb gängiger Geschlechternormen, ob sie es wollten oder nicht. Armut und Diskriminierung zwangen sie dazu, Dinge zu tun, die vergleichsweise wenige weiße Frauen taten: für Löhne arbeiten, einen Haushalt führen, und relativ frei Ehen eingehen und wieder auflösen. Ob dies politische Projekte waren, wie Hartman es sehen möchte, oder häufig schlicht aus der Notwendigkeit geborene Verhaltensweisen, bleibt eine offene Frage. ANDREAS ECKERT

Saidiya Hartman: "Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)".

Aus dem Englischen von Yasemin Dinçer. August Verlag, Berlin 2022. 122 S., br., 14,- Euro.

Saidiya Hartman: "Aufsässige Leben, schöne Experimente". Von rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers.

A. d. Englischen von Anna Jäger. Claassen Verlag, Berlin 2022. 528 S., geb., 28,- Euro.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Rezensent Andreas Eckert liest die erstmals auf Deutsch erscheinende Anthologie mit Texten der Kulturwissenschaftlerin Saidiya Hartman mit sichtbarer Faszination. Vor allem ein Aufsatz von 2008, in dem die Autorin das teilweise historisch belegte Schicksal zweier schwarzer Frauen auf einem Sklavenschiff im späten 18. Jahrhundert fiktionalisiert, scheint ihn gefangen zu nehmen, da der Text eine Art des "kritischen Fabulierens" entwirft. Das ist für Eckert einerseits problematisch, andererseits, weil Hartman ihr Verfahren zugleich hinterfragt, durchaus erhellend.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.07.2022

Archiv des Maßlosen
Wer aus der Normalität ausgeschlossen ist, kann womöglich die Norm aufbrechen. Saidiya Hartman erzählt
von schwarzen Frauen auf der Suche nach einem besseren Leben
VON MARINA MARTINEZ MATEO
Junge schwarze Frauen befanden sich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts in offener Rebellion“, damit beginnt Saidiya Hartman ihre über 400 Seiten lange Studie „Aufsässige Leben, schöne Experimente“. Schauplatz dieser bisher selten beschriebenen Rebellion ist der Norden der Vereinigten Staaten. Hartman, Professorin für Literaturwissenschaft an der Columbia University in New York, beschreibt, wie kurz nach dem offiziellen Ende der Sklaverei die Städte des Nordens für das Versprechen eines freieren Lebens standen. Und wie sehr doch Versklavung und rassistische Herrschaft in neuen Formen fortwirkten.
Die These des regen „Nachlebens der Sklaverei“ prägt Hartmans Werk seit ihrem ersten, 1997 erschienenen Buch
„Scenes of Subjection“ und ist enorm einflussreich für die theoretischen Positionen des „Afropessimismus“ gewesen, die inzwischen auch in Deutschland diskutiert werden. Die Annahme ist dabei, dass die rassifizierte Gewalt der Versklavung auch jenseits der USA tief in der westlichen Moderne verankert ist und in die Gegenwart hineinwirkt.
In ihrem letzten Buch, das nun – gemeinsam mit der Essaysammlung „Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)“ – die erste deutsche Übersetzung ihres Werks bildet, verbindet Hartman diese Überlegung mit einem Vokabular der Hoffnung: Auch wenn das Versprechen vom Ende der rassistischen Herrschaft sich als leer erwies, wurden die schwarzen Viertel etwa New Yorks und Philadelphias zu Orten sozialen Experimentierens.
Insbesondere schwarze Frauen, so Hartman, waren auf der einen Seite multiplen Formen der Gewalt ausgesetzt, während sie auf der anderen Seite als „Visionärinnen und Vorkämpferinnen“ für neue Formen des Zusammenlebens beschrieben werden können. So erzählt Hartman eine doppelte Geschichte: von Rassismus und Segregation, von Ausbeutung, Armut und Abhängigkeit auf der einen Seite – und von Widerständigkeit und Ausbruch, von den flüchtigen Möglichkeiten eines anderen Lebens, von Gemeinschaft und Sinnlichkeit auf der anderen Seite. Sie erzählt die Geschichte des falschen Versprechens von Freiheit wie die tatsächlicher Befreiungsmomente. Exzessive Freiheit innerhalb faktischer Unfreiheit.
Dieses Anliegen ist von einer besonderen Schwierigkeit geprägt, denn die Archive, mit denen sie sich dem Leben schwarzer Frauen nähert – die Fotografien und Dokumente, die ihr Material bilden –, sind selbst Bestandteile einer ihrer beiden Geschichten. Sie sind Instrumente von Kontrolle und Überwachung: Gefängnisprotokolle, soziologische Studien, Zeitungsartikel. Hartman selbst bleibt im Teufelskreis verhaftet – gewaltförmige Bilder werden zum Zeigen der Gewalt reproduziert –, auch wenn sie nach Auswegen Ausschau hält: „Wie sucht man den Schauplatz der Unterwerfung auf, ohne die Grammatik der Gewalt zu reproduzieren?“, fragt Hartman in „Venus in zwei Akten“, einem der wichtigsten Essays des Bandes „Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)“.
Ihren Weg, mit dieser Schwierigkeit umzugehen, beschreibt sie als Methode der „kritischen Fabulation“. Dabei wird das Archivmaterial zum Anlass einer „Gegenerzählung“. Wenn Hartman in das Leben schwarzer Frauen eintaucht, macht sie diese nicht zum Gegenstand, sondern zum Subjekt ihrer Erzählung. Sie will nicht über die Frauen berichten, sondern „die Welt aus ihrer Perspektive“ zeigen, um sie aus der Gewaltförmigkeit des Archivs zu befreien und zu handelnden, fühlenden Akteurinnen werden zu lassen. Dazu versucht sie, deren Sprache und deren Blick einzunehmen, spürt deren Gedanken und Gefühlen etwa beim Schlendern durch die Straßen Harlems, während einer Verhaftung oder in einer Liebesbeziehung nach. Sie zieht in die Schauplätze ihrer Geschichten hinein, baut Straßenzüge und Wohnblöcke plastisch vor der Leserin auf, fängt die Geräusche und Gerüche zugunsten einer im wissenschaftlichen Duktus unüblich sinnlichen Schreibweise ein.
Erst im massiven Appendix am Ende des Buches zeigt sich, auf welcher akribischen Recherchearbeit diese im Modus des Anekdotischen erzählten Geschichten tatsächlich beruhen. So entzieht sich Hartmans Werk gängigen disziplinären Zuordnungen und bewegt sich mit Leichtigkeit zwischen empirischer Forschung, fiktionalem Erzählen und theoretischer, durchaus auch selbstkritischer, Reflexion. Schließlich kann die Gefahr, dass ihre eigene Erzählung nur einen weiteren, erneut exponierenden Blick auf schwarze Frauen darstellt, nicht von der Hand gewiesen werden. Die Hoffnung, dass durch diesen spekulativen, einfühlenden Zugriff auf Archive der Gewalt und Unfreiheit eine andere Geschichte der Freiheit erzählt und die Tür zum „Archiv des Maßlosen“ geöffnet werden kann, bleibt stets prekär.
Wie aber lautet diese andere Geschichte? Hartman findet in den urbanen Leben schwarzer Frauen eine Lust am Exzessiven, eine ausgelassene Verschwendung, einen „Rausch von Autonomie“. Die Erwartungen bürgerlicher Ehe, traditioneller Geschlechterrollen oder ‚legitimer‘ Verwandtschaftsverhältnisse schienen für die Frauen kaum erfüllbar, weil diese Erwartungen und Vorstellungen auf Lebensbedingungen beruhten, die Bestandteile einer weißen bürgerlichen Welt waren, die sie nicht nur ausschloss, sondern sich im Grunde über ihren Ausschluss definierte.
Doch wer aus der sogenannten Normalität ausgeschlossen ist, kann das, was als Normalität gilt, womöglich aufbrechen und Raum für neue Lebens- und Beziehungsformen öffnen. Was es bedeutet, eine Frau oder ein Mann zu sein, welche Beziehungen als Ehe gelten, wer als Familie und Verwandtschaft zählt, welche Arten des Begehrens jenseits reproduktiver Heterosexualität entstehen können – all dies sieht Hartman in den Lebensformen junger schwarzer Frauen infrage gestellt und verschoben. In dieser Hinsicht wurden schwarze Viertel zu Zufluchts- und Sehnsuchtsorten für alle, die auf der Suche nach einem anderen Leben jenseits des Normalen waren: „Harlem war zweifellos ebenso queer wie schwarz.“
Es sind diese „Experimente“ für ein freies Leben, die Hartman „schön“ nennt. Die Fähigkeit, aus dem eigenen Leben ein Experiment für ein anderes, mögliches Leben zu machen, wird bei ihr zu einer ästhetischen Kategorie: „Ästhetik“ bedeutet für sie, „eine Kunst aus dem Überleben zu machen“. In diesem Sinn schreibt Hartman der Bühne, insbesondere dem Tanz, eine entscheidende Rolle zu – als Spiel mit der Möglichkeit, jemand ganz anderes zu sein: „Die Körper in Bewegung, intime und nahe Körper, behaupten verwegen, was sein könnte, wie schwarze Menschen vielleicht leben könnten.“
So geht sie dem Leben von Tänzerinnen nach und beschreibt das Varieté als Ort der Subversion, in dem nicht nur eine eigene Art der Körperlichkeit und Sinnlichkeit, sondern auch Formen der Kollektivität entstehen können: der „Chor“ oder das „Ensemble“, in dem „die Grenzen des beschränkten Selbst“ aufgehoben sind. Auf dieselbe Weise beschreibt Hartman die Kollektivität in einem Gefängnisaufstand, bei dem die jungen Insassinnen gegen die massive Schikane der Aufseherinnen protestierten, indem sie Feuer legten, gegen Wände schlugen — und mit ihrem Lärm, in ihrer „Bereitschaft, sich selbst zu verlieren und zu etwas Größerem zu werden“, einen „Chor, ein(en) Schwarm, ein Ensemble, eine Vereinigung für gegenseitige Hilfe“ bildeten.
Sofern es Hartman überhaupt um Politik geht (sie spricht eher von Rebellion, Widerständigkeit, Anarchie), scheint dies eine solche Politik des Ensembles zu sein, jenseits der politischen Organisation, jenseits der Logik von Anerkennung und Aufstieg, jenseits von Ideologie und Pamphlet. Eher um etwas, das sich in den flüchtigen Zonen der Ununterscheidbarkeit zwischen Freiheit und Not, zwischen Repression und Bruch, zwischen Gewalt und Schönheit, zwischen Potenzialität und Scheitern findet – in einer spontanen Bewegung richtungsloser Gerichtetheit: „Das Ensemble ist das Vehikel für eine andere Art von Geschichte, nicht die des großen Mannes oder des tragischen Helden, sondern eine, (…) in der die unübersetzbaren Lieder und der scheinbare Unsinn das Versprechen der Revolution einlösen.“
Es ist ein großer Gewinn, dass beide Bücher – „Aufsässige Leben, Schöne Experimente“ und die Sammlung „Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint)“ – endlich in deutscher Sprache verfügbar sind. Sie sprechen auf wunderbare Weise zueinander, treffen sich an einigen Stellen und bringen unterschiedliche Formen der Reflexion und Erzählung zusammen. Beide verdeutlichen die Einzigartigkeit und Bedeutsamkeit einer Denkerin wie Saidiya Hartman, die sich nicht scheut, die Brutalität und Persistenz rassistischer Gewalt aufzuzeigen – und zugleich über sie hinauszudenken.
Der Chor, der Schwarm, die
Vereinigung für gegenseitige Hilfe
als Ort der Emanzipation
Saidiya Hartman:
Aufsässige Leben, schöne Experimente. Von
rebellischen schwarzen Mädchen, schwierigen Frauen und radikalen Queers. Aus dem Englischen von Anna Jäger.
Claassen, Berlin 2022.
528 Seiten, 28 Euro.
Saidiya Hartman:
Diese bittere Erde (ist womöglich nicht, was sie scheint). Aus dem
Englischen von Yasemin Dinçer. August Verlag, Berlin 2022. 150 Seiten, 14 Euro.
Für wissenschaftliches Schreiben ungewöhnlich: die Sinnlichkeit, mit der Saidiya Hartman etwa ihre Wahrnehmung beim Schlendern durch Harlem mit einbezieht.
Foto: imago images/VWPics
Saidiya Hartman lehrt an der Columbia University.
Foto: picture alliance/Ap
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