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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1997

Die Papiere der Uhrmacherin
Peter Stephan Jungk schreibt über Unruhe und Federspiel

Obwohl sie frei herumlaufen, würde jedes Tollhaus die Mitglieder des Klans, dessen Gestalten die Seiten dieses Romans füllen, ohne Zögern aufnehmen. Die Schwester, pausenlos grausige Trivia von sich gebend, nennt ihre Söhne eine "Viererbande", die sie liebt, aber auch "von ganzem Herzen haßt". Kein Wunder, daß die Heldin erleichtert aufatmet, als sie erfährt, daß sie nur die Mutter gemeinsam haben und daß der Schriftsteller Jakov Lind der Vater dieser "koloßhaft übergewichtigen" Halbschwester ist. Die so erzeugte Vermischung allgemein bekannter Persönlichkeiten mit den Romangestalten gehört, nebenbei, zu den konsequent angewendeten Prinzipien der Erzählung, was nicht das erste Mal in der Literatur geschieht.

Verständnis für die Mutter der vier vandalisierenden Söhne bekommt der Leser sofort beim Eintritt der Erzählerin in ihre Behausung. Die Burschen stürzen sich auf sie, reißen sie zu Boden, traktieren sie mit "Fußtritten" und "Hyänengelächter". Eine Tante der Ich-Erzählerin schreibt seit dreißig Jahren zur Widerlegung von Albert Einsteins Thesen ein Werk mit dem Titel "The Theory of the Diptichy, the Philogenetic Bi-Stratification of our Categories", das schon auf tausend Seiten gediehen ist und doch niemals fertig wird. Ein Cousin sieht so aus: "Das lange schwarze Lockenhaar klebte auf dem schmalen Schädel, die riesigen braunen Augen blickten irre, das beige Hemd mochte seit Wochen nicht gewechselt worden sein, das braune Schuhwerk wirkte wie aus einem Mistkübel hervorgeholt. So ausgerüstet, tritt er in einem der elegantesten Hotels Wiens, dem Sacher, auf. Seine Weltanschauung verlangt, daß das Volk in den leerstehenden Wohnungen der Reichen untergebracht wird. Die Getreidespeicher, die Fleischvorräte, die Butter, der Käse, der Honig, alles muß allen zukommen und verschenkt werden."

Und nun erst Stellas Mutter! Ihr Porträt ist ein literarisches Kabinettstück für sich. Ihr Zuhause ist vom Keller bis zum Dach vollgestopft mit alten Zeitschriften, Zeitungen, Stofftieren, mit meterhohen Metallvasen, Briefbeschwerern und breiten, ledernen Papierkörben, Kunstblumen und dunkelbraunen Blättergewächsen. Jeder Mitspieler hat seinen verqueren Willen, seine befremdlich chaotischen Eigenschaften. Verständlicherweise, denn als Stammvater, auf den die ganze Sippe stolz ist, wird der Anarchist Fürst Pjotr Alexejewitsch Kropotkin eingeführt.

Der Schauplatz ist die postmoderne Welt, in der es kein Zentrum und keinen Halt gibt. Die Gestalten sind in Böhmen oder in Los Angeles geboren, in Wien oder in der Schweiz aufgewachsen, sie sind Buchhändler oder Erfinder, sie haben in New York oder Genf studiert, sie leben in Chicago oder Bern, sie sind dauernd auf Reisen. Man reist nicht nur in den Vereinigten Staaten, Frankreich und Österreich herum, manchmal aus bloßem Zufall, sondern auch in Japan, Venezuela, Panama und Mexiko, in "Transbaikalien", nach Khingan und Merghen, an den Sungari-Fluß und an den Amur.

Es ist erwähnenswert, daß es sich bei den Federspiels um eine jüdische Familie handelt. Es wird angedeutet, daß die älteren Mitglieder einst von den Nazis mißhandelt wurden, und es ist möglich, einen Teil ihrer Tollheit auf diese Rechnung zu setzen. Aber - und auch darin ist die Erzählung "postmodern" - das Judentum dieser Personen ist nur eine Facette, keineswegs mehr Triebfeder ihres Empfindens und Tuns, ihrer gesamten Existenz. Es ist, ohne diese Abstammung zu leugnen, ja ohne den Versuch, gewisse Vokabeln aus ihrer Redeweise zu verbannen, kein Problem mehr, weder für sie noch die Personen ihres Umgangs. Es ist, als sei der Antisemitismus der einzige Irrsinn, der in dieser grotesken Welt keine Rolle spielt. Dieses Buch läßt die Hoffnung aufkommen, daß die Zukunft einer deutschen Literatur aufdämmert, in der jüdische Elemente mit Unbefangenheit behandelt werden können, nur noch ein Farbtupfen in einer buntscheckigen Welt sind.

Außer von Menschen wimmelt das Buch aber auch von Tieren, Hunden, Pferden, Papageien. Weiterhin genannt werden Rehe, Hirsche, Biber, Schimpansen, Raben, Wale, Ratten, Blutspechte, Mauersegler. Peter Stephan Jungk ist ein Meister der absurden Aufzählung. Über Fledermäuse liest man eine seitenlange Abhandlung. Und alles ist spannend geschrieben, treffsicher formuliert, leicht dahingehaucht.

Der feste Punkt, wenn auch kein Ruhepunkt auf dieser vielfältig bewegten Bühne ist die Ich-Erzählerin Stella, scheinbar ein Fels der Ordnung und Rationalität, die allen Hilflosen Hilfe bringt und die Auseinanderfahrenden zusammenführt. Es ist das große Verdienst des Autors, daß er seine Heldin nicht nur auf ihren Reisen begleitet, uns an ihren Gedanken teilnehmen läßt, sie bei ihren Vergnügungen und Umarmungen zeigt, sondern auch bei der Arbeit. Sie ist Herrin einer Uhrenfabrik. Indem man sie bei ihrem Metier beobachtet, erfährt man eine Menge über die moderne Uhrmacherei und die Meßbarkeit der Zeit. Denn die Zeit ist ein Thema, das immer wieder anklingt, hin und her gewendet und von allen Seiten beleuchtet wird. Man möchte meinen, daß sich nach Marcel Proust und Thomas Mann in Romanform nicht mehr viel über sie sagen läßt, aber Jungk gewinnt ihr manche neuen Aspekte ab.

So selbstsicher, wie sie sich manchmal gibt, ist Stella Federspiel jedoch nicht. Der Vergleich mit Lotti, jener anderen, von Marie von Ebner-Eschenbach kreierten Uhrmacherin drängt sich auf. Ob vom Autor gewollt oder nicht, erweist er sich als besonders aufschlußreich in dem Kontrast, den er zwischen den unerschütterlich geltenden Normen und Werten des neunzehnten Jahrhunderts nahelegt, dessen Repräsentantin Lotti ist, und der steuerlosen, zerrissenen Gegenwart des zwanzigsten, in der Stella leben muß. Schon das doppeldeutige Wort Unruhe im Titel, das sich nicht nur auf ihren Uhrenberuf bezieht, bereitet auf das Kommende vor. Immer mehr stellt sich heraus, daß auch sie eine Getriebene und von Ängsten Gepeitschte ist, die einem Zusammenbruch entgegensteuert. Es kommt zu einer Krise, in der ihr spielerischer Lebensbericht unversehens in ein Pandämonium hineinführt.

Aber schließlich glätten sich die Wogen, die groteske Phantasmagorie löst sich in einem halben Happy-End auf, die getrennten Paare vereinigen sich, die Zentralgestalt überwindet die psychische Bedrohung, die sie fast zerstört hat, und es wird die Aussicht eröffnet, daß sie, die unbedingte Gegnerin der Fortpflanzung, die kein Kind in diese ungastliche und verdrehte Welt bringen will, wo die Bücherläden der alten Kultur durch kulturlose Einkaufszentren ersetzt werden, doch noch an Mutterschaft denkt. Denn die Urkräfte des Universums, die Zeit und das Leben, existieren weiter, wie abstoßend die geschichtlichen und gesellschaftlichen Formen auch sein mögen, die sie annehmen. Und das alles ist mit so viel Humor und in so launiger Sprache dargestellt, mit glasklarer Ironie aus weisem Abstand, mit einer ungeheuren Menge realistischer Details, mit wohltuender Kenntnis nationaler Sitten und beruflicher Milieus und einem schier unerschöpflichen Reichtum an Einfällen, so unterhaltsam und gleichzeitig zum Nachdenken anregend, daß man nur sagen kann: ein tolles Buch. EGON SCHWARZ

Peter Stephan Jungk: "Die Unruhe der Stella Federspiel". Roman. List Verlag, München 1996. 242 S., geb., 34,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 02.02.2001

Im Reich der Misanthropen
Leiden in Literatur und Leben: Der Roman „Unruhe” des Norwegers Finn Skårderud
Wenn sich das Subjektivste des Menschen in den Künsten, auf der Couch, manchmal auch vor Gericht oder im Bordell artikuliert, so erfährt der Psychotherapeut von Grenzproblemen, die Menschen umtreiben, welche aus den Rastern der Statistik in der Regel herausfallen. Der Trip des norwegischen Arztes Finn Skårderud in das Selbst des Zeitgenossen führt geografisch unter anderem über Wien, Lissabon, Los Angeles, Prag und Hongkong. In seinem Buch lässt der Autor Fallgeschichten auf Reiseimpressionen folgen, die von Literaturstudien abgelöst werden – und vice versa. Was die „symptomatische Lektüre literarischer Texte” betrifft, so ergänzt Skårderud diese meist durch eine Reise zwecks Studiums des genius loci, gleich anderen Literatur-Touristen. Schon der Titel seiner Reflexionen ist inspiriert von Fernando Pessoa, dessen Buch der Unruhe.
Rastlosigkeit, Unzufriedenheit als Signal der Epoche? „Der einzig stabile Zustand ist der Zustand der Instabilität”, heißt es apodiktisch. Wir wissen das seit Heraklit, aber der Autor fügt hinzu: „Unruhe ist die verrückte Rede der Liebe. ” Wenn Skårderud die Strategien schildert – seien es die seiner Klientel, seien es jene bestimmter Künstler –, das innere Territorium der Psyche unter Kontrolle zu halten, steckt er das Ziel seiner Phänomenologie ab: Sie möchte ganz allgemein die „Schwierigkeiten, sich zu verhalten”, beschreiben und deuten. Der auf Ess-Störungen spezialisierte Analytiker vertritt die Ansicht, dass sich die Symptome seiner Patienten – Selbstverletzungen, Anorexie, Bulimie, Drogenmissbrauch – als Folgen eines korrodierten, fragilen Selbstwertgefühls übersetzen lassen. Antithetisch zu Christopher Laschs zwanzig Jahre alter Polemik („Das Zeitalter des Narzissmus”) strengt der Autor eine Neudefinition des Narzissmus an. Selbstgenügsamkeit, diese „neue Dementia” (Julia Kristeva), sei lediglich eine Maske, hinter der sich Liebeshunger verberge: „Die narzisstische Person versucht mit aller Macht, geliebt zu werden, aber es gelingt ihr nicht, denn sie ist nicht in der Lage, sich selbst wie einen anderen Menschen zu lieben. ”
Wenn Skårderuds eigentliches Thema das Problem der Scham zu sein scheint, so nur als eine Facette des Narzissmus. „Scham ist ein lebensfeindliches Gefühl, und sie ist schwer zu teilen. Das Leiden wird depressiv bestätigt, indem derjenige, der zeigt, dass er niemanden braucht, sich so verhält, dass die anderen gehen. ”
Am Beispiel von Strindberg, Stig Dagermann (der Suizid beging) und Finn Alnæs werden Schaffenskrisen von Schriftstellern exploriert. Es leuchtet ein, dass grandiose Ansprüche an sich selbst letztendlich lähmen können – weniger nachvollziehbar ist, dass Größe zwangsläufig mit der „Wut” einhergehen soll, „seine Selbstverachtung und sein unerfülltes Begehren kompensieren zu müssen”. Um seine Argumentation zu untermauern, pickt sich der Autor Franz Kafka („es gibt eine Kunst, die aus Kränkung entspringt”), Thomas Bernhard, Fernando Pessoa und Alberto Giacometti heraus: In bester psycho-pathografischer Tradition wird Bernhard „narzisstische Wut” nebst „manischer Misanthropie” attestiert. Bernhards „literarische Methode ist Überlebenskunst, um der Melancholie zu entkommen”.
Ausflug in die Piercing-Szene
Da der Mediziner, wie er selbst eingesteht, von der Vita des Österreichers so gut wie nichts weiß, greift die Exegese zu kurz. Literarisches Schreiben reduzierte sich andernfalls auf einen Allmachtsrausch, wäre in dieser Perspektive Symptom und Selbstheilungsversuch in einem. Nach Skårderud verdankt sich auch Pessoas Buch der Unruhe”, das er immerhin als eines der subjektivsten Werke der modernen Literatur qualifiziert, einer „depressiven narzisstischen Kränkung”. Die exzessive „Selbstbezogenheit” seiner Notate schließe den Leser aus. Nomen est omen: Die Übersetzung des Eigennamens Pessoa lautet Person, das lateinische persona verweist auf die Maske des Schauspielers, kein Wunder also, wenn der Dichter, der es auf 30 Heteronyme brachte, auf Fotos wie der exemplarische „Mann ohne Eigenschaften” wirkt! Folglich sei der „geistige Ursprung” von Pessoas Heteronymie in einer „angeborenen, beständigen Neigung zur Entpersönlichung und Verstellung” zu suchen.
Dass derartige Reduktionen etwas zur Kreativitätstheorie beitragen, wage ich stark zu bezweifeln. Vor allem werden sie dem Spezifischen des jeweiligen Werkes in keiner Weise gerecht. Kunst ist mehr als ein „Antidepressivum”. Es mag ja zutreffen, dass dem scheuen Pessoa, der sich bis zum Eigennamen durchstrich, keine Objektbeziehung glückte – allein die Lektüre seiner „Liebesbriefe” kostet Überwindung –, diese Einsicht aber stellt keinen Universalschlüssel zum Verständnis des Œuvres dar. Steht Kafkas Hungerkünstler für die Auslotung des modernen Menschen in seiner unsicheren Identität, so materialisiert sich in Giacomettis Plastiken die „moderne Melancholie”, Verlust erleben.
Es fällt auf, dass der Autor ausnahmslos Kreative zitiert, die ein problematisches Verhältnis zur Frau hatten (die Liste ließe sich um Beckett, Artaud und andere erweitern), so als sei ihre Aufgabe, das Werk, unvereinbar gewesen mit dem, was Beziehung genannt wird. Doch der glückliche Asketismus Giacomettis, der keineswegs Enthaltsamkeit implizierte, hat metaphysische Gründe.
Anlässlich einer Kongressreise betreibt Skårderud Feldforschung in der New Yorker Piercing- und Tattoo-Szene. Er fragt sich, was diese ,modernen Primitiven‘ mit seinen Klientinnen gemeinsam haben, die sich zwanghaft Verletzungen zufügen und um Hilfe in seiner Praxis nachsuchen. „Das Blut ist wie eine Decke”, zitiert er eine Patientin, „dann brauche ich niemanden. ” Parallel zu diesen mit Scham besetzten kathartischen Praktiken gibt es die Faszination der Angstlust, jene „Übungen im Grenzbereich”, zum Beispiel in den Extremsportarten. Haben nicht Huizinga, Caillois, Bataille stringente Interpretationen für unser Hier und Jetzt vorgelegt? Gefährlich leben, das Leben aufs Spiel setzen: Zu Parolen verkürzt, könnte man das Gemeinte mit dem bemühten Hedonismus riskanten Freizeitverhaltens verwechseln. Heute ist das Versprechen intensiver Erfahrungen zur PR-Strategie der Urlaubsindustrie geworden.
Sympathisch macht das durchaus lesbare Buch die Empathie, die in den Fallgeschichten durchschimmert. Seine rhapsodische Komposition erinnert insbesondere an Kristevas Geschichten von der Liebe”. Und um Joyce McDougall zu zitieren, würde ich auch dieses Buch ein vielschichtiges „Plädoyer für eine gewisse Anormalität” nennen.
BERND MATTHEUS
FINN SKÅRDERUD: Unruhe. Eine Reise in das Selbst. Aus dem Norwegischen von Kerstin Hartmann. Rogner & Bernhard bei Zweitausendeins, Frankfurt 2000. 437 Seiten, 39 Mark.
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