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Die NS-Prozesse in der Bundesrepublik waren ein Forum, in dem bereits in der frühen Nachkriegszeit die Verbrechen des Nationalsozialismus verhandelt wurden. Dabei hatten die Holocaust-Überlebenden und ehemaligen KZ-Häftlinge als Zeugen eine besonders kontroverse Aufgabe, die von der Forschung jedoch bislang kaum beachtet wurde. Vielfach lag es allein an ihnen, mit ihren Berichten die Angeklagten zu überführen. Zugleich waren sie teils massivem Misstrauen der deutschen Justiz ausgesetzt, die die Überlebenden für zu parteiisch hielt, um objektive Einschätzungen abzugeben. Die Befragungen und die…mehr

Produktbeschreibung
Die NS-Prozesse in der Bundesrepublik waren ein Forum, in dem bereits in der frühen Nachkriegszeit die Verbrechen des Nationalsozialismus verhandelt wurden. Dabei hatten die Holocaust-Überlebenden und ehemaligen KZ-Häftlinge als Zeugen eine besonders kontroverse Aufgabe, die von der Forschung jedoch bislang kaum beachtet wurde. Vielfach lag es allein an ihnen, mit ihren Berichten die Angeklagten zu überführen. Zugleich waren sie teils massivem Misstrauen der deutschen Justiz ausgesetzt, die die Überlebenden für zu parteiisch hielt, um objektive Einschätzungen abzugeben. Die Befragungen und die Konfrontation mit den Tätern stellten zudem eine hohe Belastung dar. Dennoch sagten Tausende Überlebende aus freien Stücken aus und nahmen die Strapazen auf sich, um die strafrechtliche Verfolgung der Verbrechen voranzubringen. Am Beispiel von vier Auschwitz-Prozessen aus drei Jahrzehnten untersucht Katharina Stengel, welche Bedeutung die Opfer für die NS-Prozesse hatten, wie die Juristen mit ihnen und ihren unfassbaren Berichten umgingen, wie die Zeuginnen und Zeugen selbst vor Gericht agierten, welche Anliegen sie verfolgten und welche Schlüsse sie aus ihren Erfahrungen zogen.
Autorenporträt
Dr. Katharina Stengel ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fritz Bauer Institut in Frankfurt am Main.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension

Mit dieser neuen "umfangreichen Studie" über die Zeugenschaft von Auschwitz-Überlebenden vor westdeutschen Gerichten, konnte die Historikerin Katharina Stengel den Forschungsstand um viele wertvolle Erkenntnisse erweitern, stellt Rezensentin Annette Weinke fest. Es werden sowohl die "systemischen und mikrosoziologischen Bedingungen" der NS-Prozesse analysiert als auch, anhand von vier Fallstudien zum "Verbrechenskomplex Auschwitz", wie sich unterschiedliche Faktoren auf die Präsenz der Zeugen vor Gericht auswirkten, erläutert Weinke. Die Kritikerin hebt besonders hervor, wie es Stengel gelingt, das problematische Aufeinandertreffen von einer auf Neutralität pochenden Justiz und den emotionalen Reaktionen der Zeugen deutlich zu machen. Gerade die Untersuchungen zum Auschwitz-Prozess zeichnen sich der Rezensentin zufolge durch "große Anschaulichkeit und Dichte" sowie einen sensiblen, dennoch differenzierten Umgang mit den Zeugenaussagen aus.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 05.06.2023

Das Zeugnis
der Opfer
Katharina Stengels Studie, wie Auschwitz-Überlebende
vor westdeutschen Gerichten halfen,
NS-Verbrecher zu überführen, und warum sie
dabei dennoch so oft auf Unverständnis stießen
VON ANNETTE WEINKE
Die Geschichte der westdeutschen NS-Prozesse wirft bis heute viele Fragen auf. Dass etwa die sogenannten Opferzeugen in Forschungen zu bundesdeutschen Holocaust-Prozessen lange eine eher vernachlässigte Größe waren, ging auf verschiedene Ursachen zurück. Außer der traditionellen Täterzentrierung des deutschen Strafrechts spielte eine Rolle, dass sich auch die Geschichtswissenschaft anfangs kaum mit den Opfern des Judenmords beschäftigte. Ein weiterer Grund war schließlich die insgesamt fehlende Sichtbarkeit aller NS-Opfer in der bundesdeutschen Nachkriegsgesellschaft. Während die Pionierarbeiten von Saul Friedländer und Christopher Browning dann den Weg für eine stärkere Einbeziehung von Opferperspektiven in der NS-Forschung ebneten, trugen internationale Entwicklungen wie das neue menschenrechtsfreundlichere Völkerstrafrecht zu einer erinnerungskulturellen Aufwertung von Opfern staatlicher Makrokriminalität bei.
Erst seit Kurzem hat die Geschichtsschreibung damit begonnen, die politischen Einflussmöglichkeiten von Holocaust-Überlebenden im geteilten Nachkriegsdeutschland näher zu untersuchen und nach deren verschiedenen Handlungsmöglichkeiten und -strategien inner- und außerhalb des Gerichtssaals zu fragen. In ihren früheren Arbeiten zu dem österreichischen Kommunisten Hermann Langbein, Mitbegründer und langjähriger Vorsitzender des Internationalen Auschwitz-Komitees (IAK), hatte die am Frankfurter Fritz-Bauer-Institut forschende Historikerin Katharina Stengel bereits eindrücklich gezeigt, mit welchen politischen, juristischen und kulturellen Hindernissen die Opfer nationalsozialistischer Massenverbrechen zu kämpfen hatten, wenn sie sich in der Bundesrepublik für eine konsequentere juristische Verfolgung der Täter einsetzten.
Stengels umfangreiche neue Studie, die im Rahmen eines größeren, in Leipzig und Frankfurt angebundenen Forschungsprojekts zu „Opferzeugen in NS-Prozessen“ entstanden ist, weitet das entstehende Forschungsfeld noch einmal in mehrfacher Hinsicht aus. So interessiert sich die Autorin nicht nur für die systemischen und mikrosoziologischen Bedingungen in bundesdeutschen NS-Prozessen, sondern anhand von vier Fallstudien zum Verbrechenskomplex Auschwitz fragt sie zudem danach, wie sich die wechselnden Akteurskonstellationen in Opferverbänden und Justiz, kommunikative und erinnerungspolitische Verschiebungen und ein schwankendes mediales Interesses an der Strafverfolgung auf die Präsenz der Opferzeugen vor Gericht auswirkten. Dabei setzt sich die Autorin auch kritisch und dezidiert mit philosophischen Forschungsdiskussionen auseinander, die, in Anlehnung an Georgio Agambens und Jean-Francois Lyotards Thesen zur Aporie der Zeugenschaft, zum Teil eine pauschale „Unmöglichkeit des Bezeugens“ postuliert haben.
Die vielschichtigen Befunde von Stengels Untersuchung zeigen zum einen, dass sich die Wissensübermittlung vor Gericht durchgehend durch nicht geteilte Vorannahmen über das präzedenzlose Vernichtungsgeschehen in Auschwitz auszeichnete, wodurch diese tatsächlich stets prekär blieb. Auf der anderen Seite argumentiert die Autorin, dass es zumindest im Fall des großen Frankfurter Auschwitz-Prozesses ohne die Aussagen der vielen Opferzeugen vermutlich zu keinen oder deutlich weniger Verurteilungen gekommen wäre. Trotz aller Zweifel und des weitgehenden Unverständnisses, das das Gericht ihren Erzählungen über den systematischen Charakter der Massentötungen im größten Konzentrations- und Vernichtungslager entgegenbrachte, hätten die Opfer durch ihre Auftritte entscheidend zur „Mehrung und Sicherung des Wissens über die NS-Verbrechen“ beigetragen, so Stengels Fazit.
Ein bedeutender Mehrwert des Perspektivenwechsels liegt darin, dass die Opferzeugen nicht länger als passives und anonymes Kollektiv erscheinen, sondern erstmals als heterogene Akteursgruppe fassbar werden, die von unterschiedlichen Agenden und Interessen angetrieben wurde. So machte es auch im Kalten Krieg einen Unterschied, ob es sich bei den geladenen Opferzeugen um ehemals politische Verfolgte oder sogenannte Funktionshäftlinge handelte, die zum Teil dem Häftlingswiderstand angehört hatten, oder ob es jüdische Überlebende waren, von denen viele noch keine Erfahrungen mit der bundesdeutschen Strafjustiz gesammelt hatten und die vielfach nur unter großem Widerwillen nach Deutschland gereist waren. Während sich die Gerichte gegenüber einem Teil der Zeugen durchaus aufgeschlossen zeigten, sofern deren Erzählungen kohärent wirkten und möglichst nüchtern klangen, reagierten sie oft ungehalten auf Äußerungen, die die eigenen Gefühle und Empfindungen der Opfer betrafen. Im Gegensatz zum Jerusalemer Eichmann-Prozess, wo die Justiz der Emotionalität der Zeugen absichtlich einen gewissen Raum gelassen hatte, fassten die Richter dies in der Regel als fehlende Neutralität oder sogar als Ausdruck eines unkontrollierten „jüdischen“ Rachebedürfnisses auf.
Zu den besonderen Vorzügen der Studie gehört, dass es ihr gelungen ist, die schwierigen Wechselbeziehungen zwischen einer auf „Professionalität“ bedachten Justiz und den Reaktionen der Opferzeugen einzufangen. Nicht wenige zeigten sich irritiert oder schockiert über die Fragetechniken deutscher Staatsanwälte und Richter, die in ihrer Fixierung auf sogenannte Exzesstaten zahllose Details zur Beteiligung an gewalttätigen Einzelhandlungen wissen wollten, für das Gesamtgeschehen des systematischen Mordens aber kaum Verständnis entwickeln konnten (oder wollten). So drückte Helene Mehlers, ehemals Sekretärin in der Politischen Abteilung, schon im Januar 1960 gegenüber Langbein ihr Unverständnis über die unrealistischen Erwartungen der westdeutschen Strafjustiz aus: „Die Schreiberinnen waren ja nicht als Reporter eingesetzt, deren Aufgaben es gewesen wäre, die im Lager vorgekommenen Untaten und Morde festzuhalten.“ Deshalb sei es heute auch unmöglich, Angaben darüber zu machen, wer wen umgebracht habe. Dank der intensiv ausgewerteten Tonbandaufzeichnungen zeichnen sich besonders die Darstellungen zum Auschwitz-Prozess durch eine große Anschaulichkeit und Dichte aus. Der Umgang mit dem schwierigen Quellenmaterial wirkt weder bevormundend noch ist er kritiklos gegenüber den vielfältigen, teilweise widersprüchlichen Stimmen der Opfer.
In ihren Schlussbemerkungen setzt sich die Autorin nochmals mit der Erinnerung an die juristische „Vergangenheitsbewältigung“ und dem Ort der NS-Prozesse in der bundesdeutschen Zeitgeschichte auseinander. Stengel kritisiert insbesondere die harmonisierende Geschichtserzählung eines angeblichen „karthatischen Wendepunkts“ durch die Gründung der Ludwigsburger Zentralen Stelle zur Aufklärung von NS-Verbrechen in den späten fünfziger Jahren. Jenes Narrativ verdecke, dass die Urteilssprüche in westdeutschen Holocaust-Prozessen durch eine „enorme Schieflage“ und eine verzerrte Wahrnehmung des tatsächlichen Geschehens in den Lagern gekennzeichnet gewesen seien. Bis in die jüngste Vergangenheit, also konkret bis zur historischen Kurskorrektur im Münchner Demjanjuk-Urteil 2011, habe die Strafjustiz daher keine Wege gefunden, um „angemessen mit den NS-Verbrechen und den Bedingungen ihrer Aufklärung“ umzugehen. Diese Einsicht ist allerdings nicht neu und dürfte im Kern auch unstrittig sein.
Angesichts der skrupulös analysierten Protokolle hätte man sich daher am Ende dieses vorzüglichen Buches stattdessen einige allgemeine Überlegungen zu der wichtigen Frage gewünscht, ob das Wissen der Opferzeugen nicht doch – verzögert und auf verschlungenen Wegen – Eingang in die Diskurse der deutschen Mehrheitsgesellschaft gefunden hat.
Annette Weinke lehrt und forscht an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Derzeit ist sie Gastprofessorin an The Hebrew University of Jerusalem.
Der systematische Prozess
der Vernichtung wurde durch
die Aussagen offenbar
Die Autorin zeigt sich
den Zeugen gegenüber weder
kritiklos noch bevormundend
Katharina Stengel:
Die Überlebenden vor Gericht. Auschwitz-Häftlinge als Zeugen in NS-Prozessen (1950–1976).
Vandenhoeck & Ruprecht, Paderborn 2023.
552 Seiten, 70 Euro.
Mit dem KZ Auschwitz, weltweites Symbol für die NS-Gräuel, befasste sich ein Frankfurter Schwurgericht zwischen 1963 und 1965.
Foto: AP
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