92,00 €
inkl. MwSt.
Versandkostenfrei*
Sofort lieferbar
payback
0 °P sammeln
  • Buch mit Leinen-Einband

"Diese Tagebücher sind wichtige Dokumente zum Verständnis von Hans Erich Nossack, einer singulären wie exemplarischen Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts; darüber hinaus bieten sie - spannend und erhellend - Einblick in eine Zeit, in der sich die junge Bundesrepublik formte. Nach ihrem Erscheinen wurde der Rang dieser Tagebücher umgehend erkannt und von der Presse vielfach gewürdigt. Jetzt endlich liegen sie auch als Sonderausgabe wieder vor."

Produktbeschreibung
"Diese Tagebücher sind wichtige Dokumente zum Verständnis von Hans Erich Nossack, einer singulären wie exemplarischen Künstlerpersönlichkeit des 20. Jahrhunderts; darüber hinaus bieten sie - spannend und erhellend - Einblick in eine Zeit, in der sich die junge Bundesrepublik formte. Nach ihrem Erscheinen wurde der Rang dieser Tagebücher umgehend erkannt und von der Presse vielfach gewürdigt. Jetzt endlich liegen sie auch als Sonderausgabe wieder vor."
Autorenporträt
Nossack, Hans ErichHans Erich Nossack, geboren am 30. Januar 1901 in Hamburg und ebendort am 2. November 1977 verstorben, war ein deutscher Schriftsteller und Übersetzer. Zu seinen bekanntesten Werken zählen die Romane Spätestens im November und Spirale.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.01.1998

Sprung in der Tasse
Hans Erich Nossacks Tagebücher · Von Hermann Kurzke

Hans Erich Nossack hat einen unbestimmt guten Namen, obgleich heute kaum noch ein Befragter zu sagen weiß, warum. Die fünfziger Jahre waren eine merkwürdig dumpfe Zeit. Was sich aus dem Mief abhob und damals Avantgarde war, hatte das nicht selten dem Mief zu danken, ohne den es zum Sich-Abheben nicht gereicht hätte. Das "Existentielle", mit dem jene Periode herumfuchtelte, war oft nur Aufgeblasenheit. In jenen Jahren wurde auch Nossack allmählich bekannt. Wieviel abhängig von seiner Zeit war auch er, viel abhängiger, als er glaubte! Jedenfalls zwingen seine Tagebücher diesen Eindruck auf. Die aus den vierziger und fünfziger Jahren vor allem lassen den zunehmend genervten Leser immer wieder ein Si tacuisses stöhnen. Ihre Atmosphäre ist stickig. Etwas befreiter atmet es sich erst bei den Notaten aus den sechziger und siebziger Jahren.

Der Nationalsozialismus war wie Mehltau auf sein Talent gefallen. Einen Rebellen hatte er ins Zimmer gestopft, ins Kontor seines Vaters, dem er vorher davongelaufen war. Zwölf Jahre Absperrung vom internationalen Geist taten mindestens weitere zwölf Jahre lang ihre Wirkung. Wer einmal abgesperrt gewesen war von der großen Literatur des Exils, von der jüdischen Tradition, von Marxismus, Soziologie, Politologie und Psychoanalyse, der blieb das meistens für immer.

Der Nachkriegs-Nossack dieser Tagebücher ist deshalb wenig originell. Er entdeckt Kafka und Musil, als es üblich ist, Kafka und Musil zu entdecken. Er liest Camus und Sartre, Hemingway und Arthur Miller, als dies alle tun. Schlimmer aber ist, daß er sich von den Genannten nicht einmal anregen läßt. Er reagiert müde abwehrend, schlecht gelaunt, noch im Lob widerwillig, als hätte er alles längst hinter sich. Er hält sich für tief. Aber was ist Tiefe ohne Weite? Der schale Trost der Abgesperrten.

Seine Philosophie ist aus ziemlich unfrischen Sachen zusammengerührt. Ein wenig abgesunkener Marx und Hegel aus den frühen KPD-Jahren, viel mittelmäßige Religionskritik, oberflächlich gelesener Nietzsche auf dem Grundlehm des Vitalismus, den sich der Korpsstudent nach dem Ersten Weltkrieg gestampft hatte, dazu ein wenig Existentialismus. Sein wichtigstes Kriterium ist "das Echte" und "Ehrliche". Das Wort echt bezeichnet die Übereinstimmung von Sein und Sagen. Und da hapert es allenthalben. "Der unechteste Mensch, den ich kenne, ist Nietzsche." "Die vollkommene Unehrlichkeit" - die ist bei Thomas Mann zu finden. "Alles Tarnung" - das ist die diagnostische Kennzeichnung für das Tagebuchwerk von Ernst Jünger.

Nur - (es kommt ein großes Nur): ab und zu zerteilt der Mann mit den Schmissen im nachdenklichen Gesicht den deutschen und eigenen Mief eben doch mit mächtigen Armen. Wer ist unechter noch als Nietzsche? Hans Erich Nossack selbst. "Wann bin ich jemals ich gewesen? Wann wirklich? Wann habe ich so gehandelt, wie nur ich handeln mußte? Ist mein Handeln nicht immer ein ausweichendes Reagieren gewesen, damit die eigene Substanzlosigkeit durch äußere Anlässe nicht offenbar wurde?" Wann kann ein Mensch ehrlich genannt werden? Die Antwort des Tagebuchschreibers verblüfft: "Jedenfalls nicht, wenn er Tagebuch schreibt, was mir immer die feigste Methode des Lügens erscheint." Er weiß, daß er eine Maske trägt. Er hat Angst, im Moment des Sterbens weinen zu müssen. "Es wird großer Disziplin bedürfen, die Maske bis zuletzt zu tragen."

In Selbstkritik ist Nossack stark. Doch sie ist nicht kühn und frei, sondern nur die depressive Kehrseite einer manischen Selbstüberschätzung, die sich in Gestalt hochfahrender Urteile über die Kollegen äußert. Erbarmungslos kritisiert er alles, was da auf dem deutschen Parnaß kreucht und fleucht. Max Frisch: "hat nur den sicheren Instinkt für das Bloß-Aktuelle". Friedrich Dürrenmatt: "ein bürgerlicher Unzufriedener, der seinen Welthaß an uns ausläßt". Heinrich Böll: "Solche Leute zählen doch gar nicht für das, was wir wollen; sie sind Tageserscheinungen, wie es sie immer gibt." Martin Walser: "Exerzitien für Literaten, nichts Lebendiges". Ingeborg Bachmann: "unechtes Gelispel". Stefan Zweig: "modische Seifenblase". Ernst Jünger: Nazi. Hermann Hesse: "nichts als ein dauernd jammernder und sich selbst bemitleidender Hypochonder". Die Gruppe 47, Unseld, Enzensberger, Walser, Johnson: "Mit ihnen zu sprechen oder sie sprechen hören bringt mir nicht nur keinerlei Gewinn, sondern sie und ich reden verschiedene Sprachen."

Dabei redet er dauernd mit ihnen. Er gibt vor, den Literaturbetrieb zu hassen. "Too much society!!" Er läßt sich als Einzelgänger ausloben, ist aber Mitglied in allen wichtigen Akademien und Vereinigungen, besucht pünktlich die Sitzungen, übernimmt Präsidentenämter, hat alle großen deutschen Preise bekommen und notiert beinahe täglich, mit wem aus der Branche er gesprochen, wem er geschrieben hat. Literarisch aber hält er sich für völlig unabhängig. Daß er nicht nur keine innere Beziehung zu den aus Nazi-Deutschland Hinausgetriebenen findet, sondern sie auch noch niedermacht, ist ein später Triumph Adolf Hitlers. Leicht wird unecht, wer heimatlos ist. "Daher sind die vielen Re-Emigranten, die ich kennengelernt habe, wie Tassen mit einem Sprung, die nicht klingen." Das ist ein wirklich böser Satz, auch wenn er stimmt, aber wem gebührt dann der Vorwurf? Sollen die Emigranten auch noch selbst daran schuld sein, daß ihre Identität zerstört wurde? Und ist Nossack etwa eine klingende Tasse?

Am schlimmsten und ahnungslosesten geht er mit Thomas Mann um. Dem 1943 Ausgebombten geht jedes Gefühl dafür ab, daß auch andere ihr Hab und Gut und nicht nur das verloren haben. Er hat guten Rat post festum. "Der Exilierte muß das Exil so schnell wie möglich als den ihm angemessenen Zustand bejahen. So etwa, wie ich um 1947 zu mir sagte: Nun aber Schluß mit dem Argument, daß wir ausgebombt sind." Er haßt Thomas Mann. Seine vielgerühmte Ironie sei nur die Pose eines klugen Schwächlings, der sein Selbstmitleid über die eigene Glaubenslosigkeit verbergen wolle. Sogar die Ehre der Verfolgung will er ihm nehmen. Er nennt ihn einen "Anti-Nazi mit stark nazistischen Vorzeichen". Daß er kein Nazi wurde, sei auf keinen Fall seiner Gesinnung zu verdanken, sondern nur der Dummheit der Nazis, "die ihn unschwer für sich hätten ködern können". Da hört sich nun wirklich alles auf.

Nossack starb 1977, in dem Jahr, in dem Thomas Manns Tagebücher zu erscheinen begannen. Es sind ehrliche Tagebücher. Sie haben die Leiden gezeigt, denen Thomas Mann sein adrettes Schreiben abgetrotzt hat. Den ganzen Unsinn, der ihn sein Leben lang begleitet hat, daß sein Werk kalte Mache sei, seine Ironie nur Ausflucht, sein Stil nur "Bügelfalte", sein Interesse großbürgerlich, hört man kaum noch, seit die Tagebücher bekannt sind. Sie haben dem dichterischen Werk genützt. Sie zeigen, daß der Geist, der dahinterstand, größer war, als man dachte. Nossacks Tagebücher aber werden seinem dichterischen Werk schaden. Sie zeigen auf weiten Strecken einen kleinen Geist.

Es liegt nun zutage, was er sich in seinen Dichtungen alles nicht gestattet hat. Über Frauen und "Weiber" hat er viel strikt Zurückzuweisendes notiert, etwa, daß sie sich niemals von einem Mann faszinieren lassen würden, sondern immer nur vom Männchen, "das heißt von der Potenz, also von dem, was ihnen zukommt", oder: "Frauen eignen sich nicht für Kunst, nur zum Kunstgenuß und vor allem zum Geschwätz über Kunst." Und vieles andere mehr, was man nicht alles zitieren mag. Über die "Liebe" gibt es zahlreiche Ansichten, aber in all den Jahren keine einzige Geschichte, keine Schilderung einer Frau, die ihn fasziniert hätte, auch seiner eigenen nicht. Intimes darf man nicht erwarten. Auch über Geld wird nicht gesprochen, denn das Thema war peinlich. Nossack wurde zwanzig Jahre lang von einem Mäzen unterstützt, dem Industriellen Kurt Bösch. Daß er nicht genug verdiente, hat ihn gekränkt und erklärt seinen Haß auf alle Erfolgreichen. Kurz vor seinem Tod noch grämte er sich: "Da hat man nun einen Haufen Bücher geschrieben und kann nicht davon leben, sondern ist weiter auf die Güte von K. B. angewiesen."

Von 1953 bist 1958 hat Nossack fast nichts ins Tagebuch geschrieben. Nach dieser Pause werden die Eintragungen im Stil knapper und wahrhaftiger. Anstelle der weitschweifigen Erörterungen der späten vierziger und frühen fünfziger Jahre dominieren jetzt kurze Notizen über Begegnungen und literarische Vorhaben. Von Politik will der Schreiber nichts wissen. "Der Geist, der zu den Tageserscheinungen aktiv Stellung nimmt, ist bereits kein Geist mehr, sondern ein ziemlich kläglicher Mitläufer der Macht- oder Antimachtpolitik." Er bleibt zurückhaltend, auch als die Studentenbewegung ihn herausfordert. Er schätzt diese Rebellion, aber für etwas Literarisches hält er sie nicht. "Daß sie die Großväter von den Stühlen werfen wollen, ist ganz in Ordnung, aber man kann eine etablierte Literatur nur durch bessere Literatur beseitigen, auf keinen Fall durch Politik" (21. 9. 1968). Er selbst hat während des Nationalsozialismus schweigen müssen. Die zwölf Jahre waren tote Zeit. Er findet danach aus dem Schweigen nicht mehr heraus. Zum Nationalsozialismus nimmt das Kriegstagebuch fast gar nicht und das Nachkriegstagebuch nur allgemein moralisch Stellung. Es enthält viele Seiten über das Thema "Schuld" (wobei Nossack die Schicksalhaftigkeit des Geschehens hervorhebt), aber keine einzige über die nationalsozialistische Politik, den Verlauf des Krieges, die Juden, die Lager, die Täter. Die Namen Hitler, Himmler, Heydrich, Eichmann, Goebbels und Göring kommen in eintausenddreihundert Seiten Aufzeichnungen von 1943 bis 1977 gar nicht oder nur in belanglosen Erwähnungen vor. Aufgehoben sind sie in den mythischen Chiffren des Dichtens.

So war Nachkriegsdeutschland, so wurde gedacht und empfunden von vielen. Diese Tagebücher sind keine angenehme Lektüre, aber man kann aus ihnen viel lernen über den Geisteszustand der ersten zwanzig Jahre Bundesrepublik. Das Studium wird begünstigt durch den ausgezeichnet gemachten und leserfreundlich gestalteten Kommentar, den Gabriele Söhling geschrieben hat. Sie hat zahlreiche ungedruckte Materialien herangezogen, vor allem den reichen Briefwechsel. Das erste Mal wird die biographische und literarische Kontur dieses Autors genau vermessen. Für jeden, der sich mit Nossack befassen möchte, ist diese Tagebuchedition unentbehrlich.

Hans Erich Nossack: "Die Tagebücher 1943-1977". Herausgegeben von Gabriele Söhling. Mit einem Nachwort von Norbert Miller. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1997. 3 Bände, 1306 S. (Textbände) und 372 S. (Kommentarband), geb., zus. 178,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr