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Als der Roman Die Stalinorgel 1955 erstmals erschien, wurde er zu einem großen internationalen Erfolg. Vom "besten Roman über den Zweiten Weltkrieg" war die Rede, und Gert Ledig, der mit diesem Buch debütierte, wurde sofort "in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur" befördert. Ein paar Jahrzehnte später ist wieder ein Unbekannter neu zu entdecken und mit ihm sein vergessenes Werk.

Produktbeschreibung
Als der Roman Die Stalinorgel 1955 erstmals erschien, wurde er zu einem großen internationalen Erfolg. Vom "besten Roman über den Zweiten Weltkrieg" war die Rede, und Gert Ledig, der mit diesem Buch debütierte, wurde sofort "in die vorderste Reihe der deutschen Gegenwartsliteratur" befördert. Ein paar Jahrzehnte später ist wieder ein Unbekannter neu zu entdecken und mit ihm sein vergessenes Werk.
Autorenporträt
Gert Ledig, geboren am 4. November 1921 in Leipzig, wuchs in Wien auf und meldete sich 1939 freiwillig zur Wehrmacht. In Stalingrad verwundet, arbeitete er in den letzten Kriegsjahren in der Militärverwaltung. Gert Ledig starb am 1. Juni 1999.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 17.10.2000

Es bellen die Mörser, es rasseln die Ketten
Der Erzähler kommt nicht aus dem Schützenloch: Gert Ledigs Roman "Die Stalinorgel" in einer Neuauflage / Von Andreas Kilb

Dies ist das Buch, durch das Gert Ledig berühmt wurde. "Die Stalinorgel" erschien im März 1955; anschließend war Ledig drei Jahre lang eine Hoffnung der deutschen Literatur. "Modern und beinahe routiniert" sei der Roman, schrieb Franz Schonauer in dieser Zeitung: "Frei von aller Sentimentalität hat hier ein Angehöriger der Kriegsgeneration die Sprache gefunden, die dem Geschehen entspricht." Der Kritiker der "Stuttgarter Zeitung" schraubte sein Lob noch eine Oktave höher: "Hier ist es einem deutschen Autor gelungen, den Krieg, das Böse an sich, ins Wort zu bannen. (. . .) Jede Szene gleicht einem Totenacker, über den soeben die Flammenwerfer ihre gierigen Glutwolken gelenkt haben." So ging es fort durch alle Zeitungen. Auch Heinrich Böll ("Handlung und Personen sind mit sicherem erzählerischen Instinkt gegeneinandergesetzt") und Wolfgang Koeppen ("ganz neu, ganz unmittelbar und dabei meisterlich in einer gerechten Sprache geschrieben") spendeten Beifall. Bölls Rezension wurde freilich nie veröffentlicht, und Koeppens Enthusiasmus versickerte in einem Brief an den Lektor des bei Claassen erschienenen Buches, Hans Georg Brenner.

1958 übernahm der Claassen-Verlag den Roman, dessen Rechte in die Vereinigten Staaten, nach Japan, England, Frankreich und in einige weitere Länder verkauft worden waren, in seine populäre Reihe "Bücher der Neunzehn". Da war es mit Ledigs Ruhm schon wieder vorbei. Sein zweites Buch "Vergeltung", eine Szenencollage über den alliierten Luftangriff auf eine deutsche Großstadt, hatte in der Presse kaum Fürsprecher gefunden, und sein dritter literarischer Versuch, der Nachkriegsroman "Faustrecht", war überall auf Ablehnung gestoßen. Ledig, der inzwischen zweimal den Verleger gewechselt hatte, suchte nun in der DDR künstlerischen Anschluß. Er gastierte im Schriftstellerheim "Friedrich Wolf" am Schwielowsee, schrieb für das "Neue Deutschland" und den "Deutschlandsender" und ließ sich am 7. Juli 1958 schließlich als Kontaktperson (KP) "Gert" vom Ministerium für Staatssicherheit anwerben. Keine sechs Wochen später brach der Kontakt zwischen dem MfS und KP "Gert" freilich wieder ab, da Ledig in der Münchner Zeitschrift "Die Kultur" einen katholizismusfreundlichen Artikel veröffentlicht hatte. Fortan galt er der Stasi als Renegat.

Florian Radvan, der dies alles für die Neuveröffentlichung der "Stalinorgel" recherchiert hat, bemerkt resigniert, Ledigs verschiedene Tätigkeiten und Parteinahmen hätten "etwas Episodenhaftes" gehabt. Das ist kraß untertrieben. Gert Ledig wußte offenbar zeitlebens nicht genau, was er wollte und wohin er gehörte. Nach seinem Schulabgang besuchte er gleichzeitig eine Theaterschule und eine Fachschule für Elektrotechnik. Im Krieg schwer verwundet, ließ er sich zum Schiffbauingenieur ausbilden. Nach Kriegsende war er Hausierer, Holzfäller, Gerüstbauer, Vertreter und Inhaber eines Devotionaliengeschäfts. 1949 eröffnete er eine Werbeagentur. 1950 wollte er nach Venezuela auswandern. 1951 wurde er als Dolmetscher bei den amerikanischen Truppen in Oberösterreich angestellt. Ledigs schriftstellerisches Intermezzo unterbrach seine Unruhe nur für kurze Zeit. In den sechziger Jahren verfaßte er Handbücher für psychologische Laien und Ratgeber für Hausfrauen ("Was für ein Teppich paßt zu Ihnen?"), eröffnete in München ein Ingenieurbüro und gründete einen "Technischen Dienst" für Fachnachrichten. Nebenbei schrieb er Texte für den Rundfunk. Ein Skript trug den Titel "Fälscher, Biographen oder Romanciers: Die deutschen Kriegsbücher und ihre Autoren". Es ist verlorengegangen.

Gert Ledig starb am 1. Juni 1999 in Landsberg am Lech. Im folgenden Herbst erschien "Vergeltung" bei Suhrkamp. Der Literaturredakteur des "Spiegel" hatte den Autor und sein Buch wiederentdeckt, als er einer These des Schriftstellers W. G. Sebald hinterherrecherchierte. Sebald hatte in einer Vorlesungsreihe behauptet, die deutsche Nachkriegsliteratur habe den Schrecken der Bombennächte ignoriert. "Vergeltung" war der Gegenbeweis. Als das Buch im "Literarischen Quartett" besprochen wurde, schnellte die Auflage nach oben. Inzwischen ist Gert Ledig wieder so bekannt, wie er es vor dem Erscheinen von "Vergeltung" im Herbst 1956 war. Doch die Blickrichtung hat sich umgekehrt. Damals las man das Luftkriegsbuch als Fortsetzung der "Stalinorgel". Heute erscheint "Die Stalinorgel" nur noch als Vorläufer von "Vergeltung". So teilen Bücher das Schicksal ihrer Sujets. Das Interesse an den Gemetzeln der Ostfront hat sich abgekühlt, während das Bild der brennenden Städte dem Zeitgeist nähergerückt ist. Hier starb schließlich die Heimat. Die Sümpfe am Pripjet und die Wälder hinter Minsk liegen dagegen weit hinter dem östlichen Horizont, im Orkus des entschwindenden Jahrhunderts.

Ledigs Roman singt von dieser Unterwelt ein Lied. Seine Melodie ist bekannt. Damals war sie es nicht. Im Jahr 1955 waren diese kurzen, hingebellten Sätze, diese tonlosen Wortsalven eine Erlösung von der Prosa eines Hans Hellmut Kirst ("08/15"), eines Gerd Gaiser ("Sterbende Jagd"), eines Willi Heinrich ("Das geduldige Fleisch"): "Ein Haufen leerer Patronenhülsen. Die Tonkugeln von den Abzugsschnüren der Handgranaten, weiß wie Mottenkugeln. Das zerschmetterte Dreigestell eines Maschinengewehrs. Der Stahlhelm mit dem klaffenden Riß. Ein menschlicher Fuß ohne Bein, nackt, wächsern wie das Schaustück eines Pedikürsalons. Ein Stück weiter, über die Böschung hängend, ein Kopf. (. . .) Und dann die Verwundeten. Sie kamen aus dem Fuchsloch angekrochen. Stammelndes Gerede. Tropfende Verbände. Glanzlose Augen. Beschwörende Gebärden. Er mußte ihnen versichern, sie nicht zurückzulassen."

Die Schlacht ist vorbei. Der letzte Betrachter des Schlachtfelds ist ein deutscher Hauptmann, der sich den Russen ergeben hat. Doch die Angreifer sind wieder abgezogen und haben ihren Gefangenen zurückgelassen, und die deutschen Verteidiger wollen den "Verräter" nicht mehr aufnehmen. So irrt der Hauptmann heimatlos durch den Blutsumpf und wartet auf die Kugel, die ihn erlöst. "Endlich kam die Kugel. Es tat nicht weh. (. . .) Er stürzte in einen Trichter. Das Gesicht der Erde zugekehrt. Wasser lief in seinen Mund. Sein letzter Gedanke war: ist das die Gerechtigkeit?"

Es ist die Gerechtigkeit des Erzählers Ledig. Wer immer in diesem Roman persönliche Kontur gewinnt, muß sterben oder zumindest wahnsinnig werden, denn der moderne Krieg löscht den Einzelmenschen aus. Jeder ist nur ein Exempel seines Dienstgrads oder ein Anhängsel seiner Funktion, der Major, der Melder, der Gefreite, der Rittmeister, der Unteroffizier. Einzig Kapitän Sostschenko, Kommandeur eines russischen Sturmbataillons, wird durch eine Reihe von Wach- und Fieberträumen aus der feldgrauen Masse herausgehoben. Wovon träumt Sostschenko? Von seiner Mutter, ihrem frühen Tod, vom Waisenhaus. Von Sonja, einem Mädchen mit schwarzem Haar. Von einer Ikone an der Wand seiner Kasernenstube und von den Sternen, die, wie es heißt, die Ikonen Gottes sind. Ein stiller Reigen von religiösen Motiven zieht sich durch Ledigs Buch wie ein feiner roter Faden. "Als die Russen den Knüppeldamm gestürmt hatten, bot er beide Füße Gott als Opfer an." Den Epilog spricht ein Feldgeistlicher am Grab der Gefallenen. Die noch Lebenden wärmen sich an der Verheißung des Himmelreichs. "Nicht auszudenken", sagt einer, "wenn wir auch noch darum betrogen würden."

Die Handlung des Romans ist denkbar schlicht: Ein russischer Großangriff im "Flaschenhals" östlich von Leningrad, im Sommer 1942. Die deutsche Front bricht zusammen. Nur ein einsamer Trupp im vordersten Graben wehrt sich verzweifelt. Schließlich wendet sich das Blatt, der Einbruch wird abgeriegelt. Ledig, der bis Ende 1942 bei Leningrad kämpfte, kannte die Bilder des Krieges aus eigener Erfahrung: Die abgerissenen Glieder nach dem Granateinschlag. Das Rasseln der Panzerketten. Die Öltropfen am Mündungsrohr des Flammenwerfers. Die grauenhafte Routine des Verbandsplatzes. Die Panik im Divisionsgefechtsstab, wo sich die Versprengten zu Hunderten an den ausfahrenden Zug anklammern. Das Summen der Mückenschwärme, die sich auf die Körper in den Schützengräben stürzen: "Ein blauschimmernder Nebel kleiner Leiber, winziger Stacheln. Unersättlich nach Blut."

Seit 1955 hat die poetische Technik der Kriegsschilderung Fortschritte gemacht. Inzwischen gibt es die Kriegsromane von Norman Mailer und Michael Herr, die Kriegsfilme von Stanley Kubrick, Francis Coppola und Terrence Malick. Dennoch läuft alles immer wieder auf die gleichen Szenen hinaus: Stoßtruppunternehmen, Grabenkampf, Nachtangriff, Panzerüberfall, Brückenkopf. Das Genre tritt auf der Stelle. Nicht daß ihm die Anlässe ausgingen. Aber in einem tieferen Sinn fehlt ihm der Gegenstand. Wo andere Geschichten ein Sujet haben, haben Kriegsgeschichten ein Loch. Die den Krieg wirklich erfahren haben, die Opfer, sind tot. Die Anstrengung der Überlebenden, ihr Sterben nachzuempfinden, riecht immer ein wenig nach Kunstgewerbe. Niemand weiß, was ein verblutender, zerfetzter, verbrennender Mensch tatsächlich denkt. So kreist die Kriegsbuchproduktion manisch um eine Erfahrung, die ihr zugleich unendlich fern bleibt. Wer nur vom Krieg erzählt, erzählt im Grunde auch davon nichts.

Das eigentliche Sujet der Kriegsliteratur wie des Kriegskinos ist die Welt jenseits der Hauptkampflinie, die Normalität, die den Hintergrund des großen Sterbens bildet. Die besten Bücher und Filme zum Thema, Mailers "Die Nackten und die Toten" wie Kubricks "Wege zum Ruhm" und Malicks "Der schmale Grat", sprechen durch den Schleier der Schlachtbeschreibung hindurch von anderen Dingen: von Amerika, von den Hierarchien der Alten Welt, vom Kampf zwischen Mensch und Natur. Ledigs Roman dagegen klammert sich ans Kriegsgeschehen wie seine Protagonisten an die Erde südöstlich des Ladoga-Sees. Der Autor bekommt den Kopf nicht aus dem Schützenloch. Darin steht er für seine Generation, die freilich nicht "Die Stalinorgel" verschlang, sondern Kirsts "08/15"-Trilogie und die "Verlorenen Siege" des Generals Erich von Manstein. Den aus Rußland Entronnenen war Ledigs Prosa noch zu rauh, sie brauchten zum Entsetzen auch den Trost.

Heute frappiert an Gert Ledigs Buch vor allem, wie sehr der Schrecken, den es schildert, längst ins allgemeine Bildergedächtnis eingegangen ist. Fast alles, was Ledigs Landser erleben, hat der drei Generationen jüngere Leser schon im Kino gesehen, in Peckinpahs "Steiner"-Film (der übrigens nach Motiven von Willi Heinrich entstand), in Elem Klimows "Komm und siehe" oder anderswo. Die Kriegsfilme sind der Urteilsspruch der Nachwelt über die Kriegsliteratur: Sie begraben eine individuelle Erfahrung im Klischee, aber sie sagen auch die Wahrheit über das Klischeehafte der Erfahrung. Insofern ist es tröstlich, daß das Grauen der Bombenangriffe, von dem "Vergeltung" handelt, im Kino bisher nicht nachgestellt wurde. In seinem zweiten Buch hat der Erzähler Ledig, anders als in seinem Debüt, wirklich vom Krieg zu sprechen begonnen. Das wollte seine Mitwelt nicht wahrhaben. Sie warf ihm die "feuilletonistischen Formulierungen" und "kabarettistischen Pointen" seines Höllengemäldes vor. Besonders erbitterte die Rezensenten eine Stelle, in der es von einem Mann, der in kochendem Asphalt verbrennt, heißt: "Er wurde gegrillt." Das ist in der Tat kein künstlerischer Ausdruck mehr, sondern ein Schrei. Indem sie zerbricht, gibt die Sprache die Wahrheit eines Geschehens preis, in dem der Mensch nur ein Stück Fleisch ist. Mehr kann Kriegsprosa nicht leisten. In der "Stalinorgel" dagegen behält Ledigs Sprache ihren Gegenstand unter Kontrolle. Deshalb verfehlt sie ihn. Diese Art des Scheiterns konnten seine Zeitgenossen ertragen; die andere nicht.

Gert Ledig: "Die Stalinorgel". Roman. Nachwort von Florian Radvan. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2000. 229 S., geb., 27,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.11.2000

Der rasende Körper des Krieges
So direkt kann Sprache sein: Nach 45 Jahren wird Gert Ledigs Roman „Stalinorgel” wiederentdeckt
Als 1999 der Roman „Vergeltung” des kurz zuvor gestorbenen Gert Ledig nach mehr als vierzig Jahren wieder erschien, war die Überraschung groß. Der infernalische Bombenkrieg auf eine deutsche Großstadt war da in die Kunstleistung einer rapiden Geschehensmontage gebannt. Der von W. G. Sebald vertretenen Mutmaßung über ein Darstellungstabu der deutschen Nachkriegsliteratur wurde durch diesen Roman vehement widersprochen. Gängige Vorstellungen von der bodenlosen Trivialität aller Auseinandersetzung mit dem Zweiten Weltkrieg wurden unterminiert.
Ledigs Erstling „Stalinorgel”, der die Trilogie des Autors über Krieg und westdeutsche Nachkriegszeit 1955 eröffnete, vermag all dies womöglich noch präziser. Zwar fehlt ihm die artistische Stringenz, mit der in „Vergeltung” ein grässliches Geschehen collagiert wird, aber er stellt einen umfassenderen Stoff vor.
Zuerst sterben die Namen
Erzählt wird von 48 Stunden Kampf an der Ostfront, um eine Höhe vor Leningrad 1942. Die Topografie ist mit wenigen Benennungen markiert: der kahle, leergeschossene Hügel, ein Sumpfgebiet, Wald, Bahndamm, Rollfeld, freie Ödflächen, über die Maschinengewehre von beiden Seiten streichen, das Labyrinth der Gräben, Bombentrichter und zwei Ortsnamen wie flackernde Lichter: Emga und Podrowa. Auf diesem zeichenhaften Gelände tobt ein auswegloses Geschehen, das keine Sieger und Besiegte, nur ineinander verklammerte und verbissene Opfer kennt. Der Erzähler moralisiert nicht, bietet keine retrospektive Rechtfertigung, unterlegt keinen Sinn. Der Krieg, nichts als der Krieg ist gegenwärtig. Ein brutaler Schock geht davon aus, dass Gewissheiten, Regeln und Empfindungen wie Korpsgeist, Heldentum, Kameradschaft zerstört sind; die Totalität des Krieges hat auch sie total vernichtet.
Die meisten Figuren tragen keine Namen; sie sind nur durch ihre militärischen Ränge bezeichnet: Major, Hauptmann, Gefreiter, Unteroffizier, Melder . Ausnahmen bilden einige russische Soldaten: vor allem der Kapitän Sostschenko, der als Gefangener auf einem verlassenen deutschen Lazarettplatz verblutet, und seine Geliebte Sonja, die auf dem Schlachtfeld nach ihm sucht. Die militärischen Ränge verstehen sich nur als Erkennungszeichen der gleichen Massenmaschinerie, deren Umwälzverfahren keiner entgeht. Der erste Tod in diesem Krieg: das Sterben der Namen.
Schon der Anfang des Romans ist unerhört, ein Bildschock: die Überreste eines Soldaten hängen im Baum, , fallen herunter, geraten unter die Ketten eines russischen Panzers und werden schließlich noch von der Sprengmunition eines Fliegers zerstückelt: „Dann endlich hatte der Obergefreite Ruhe. ”
Die mörderischen Ereignisse der zwei Tage werden von beiden Seiten aufgerollt. Dabei gibt es weder Angreifer noch Verteidiger von Überzeugungen. Dieses Großbild des Horror vacui kennt nicht Ursache und Wirkung. Auch die Front gerät durcheinander, sie verläuft auch durch die Wehrmacht selbst. Offiziere, die einen Sinn befehlen wollen, und bestehe er nur im Durchhalten, werden gerade davon geschluckt. Ein Feldwebel desertiert in die Etappe, ein Major an die vorderste Front. Die Frage, wer bei diesen Entscheidungen feige war oder mutig, ist nicht gestellt und ließe sich nicht beantworten, weil die Kategorien dafür zerfallen sind. Einer höheren Charge der Feldpolizei, die einen der Front Entlaufenen hinrichten will, wird der Unterkiefer weggeschossen. Ein Rittmeister, der den Deserteur denn doch noch erschießt, verfällt dem Irrsinn. Es gibt keinen Befehl, der nicht als Schlag auf seinen Urheber zurückfällt. Es gibt keine Gerechten, der Krieg hat diese Vorstellung zunichte gemacht, jede Ideologie ist zermahlen. Nur die marodierende Autorität des Todes schafft eine fließende Grenze zwischen Verzweifelten und Leblosen. Es gibt allerletzte Gesten von Anteilnahme: den Rest von Ritterlichkeit, die ein Sowjetoffizier Popikow übt; die stumme Gebärde eines menschlichen Erkennens, als ein deutscher Offizier dem verblutenden russischen Kapitän die Augen zudrückt. Es sind verirrte Signale einer zerriebenen Menschlichkeit. Sie behaupten kein humanes Dennoch, sie verweisen auf das Umfassende des Verlusts.
Und es gibt den schreienden Widerspruch: Gefangene werden auf beiden Seiten niedergemacht, ein Trupp deutscher Soldaten, der umzingelt ist, könnte sich ergeben, wütet jedoch bis zum Untergang des Letzten. Der Kampf ist eine umlaufende Größe, die sich des Menschenmaterials bedient und die keiner Berechtigungslogik bedarf. Er kann hier und da ausbrechen, ist nur auf sich selbst angewiesen. Es gibt im Buch die Frage nach dem lieben Gott, eine vom Schrecken zerstreute Frage, die ohne Antwort bleibt. Ein Feldgeistlicher predigt am Schluss: „Wir müssen glauben, ohne zu verstehen!” Aber er ist weltraumfern von der Wahrheit entfernt, die da heißt: Schon das Verstehen gibt es nicht, ist ein Betrug. Diese Schlachtbeschreibung wirkt mit einer geradezu penetranten körperlichen Direktheit. Sie stellt ein Bewegungsbild pulsierender Vernichtung, ohne jede Reflexion. Der Roman „Stalinorgel” ist das Buch, das Ernst Jüngers ästhetisierende Landserprosa „In Stahlgewittern” auslöscht.
Befreiende Provokation
Ledig, Jahrgang 1921, Angehöriger einer Generation, von der die Wenigsten übrig blieben, ist der Gewalt so nahe, dass sie einen geradezu physisch bedroht. Sie wird dadurch zu einem Organ menschlicher Natur, zu einer anthropologischen Konstante. Der Verzicht auf Erklärungen und moralische Wegweiser in diesem Buch ist radikal: ein wenig ordnende Reflexion nur und der Erzähler wäre auf der sicheren Seite der Antifa-Literatur. Aber gerade diese Chance zum Ausweichen vor der Körperlichkeit des Schreckens hat er sich verwehrt. Das mag 1955 als ein befremdlicher Mangel erschienen sein, heute wirkt dieser Verzicht ganz anders. Die Zeitgeschichtler haben das Feld mit Einsichten durchpflügt und längst bestellt, da wirkt ein Roman, der das ruckende, zuckende Präsens verabsolutiert, als eine befreiende Provokation. Zwingende Bilder sind heute viel leichter zu entziffern; sie enthalten eine Widerstandskraft gegen Simulationen, die auch von dem kurrenten Sinngerede und den ritualisierten Vergangenheitsbewältigungen ausgehen. „Stalinorgel”, lange Jahrzehnte im Tresor des Vergessens, ist auch als Vorwegnahme zu lesen.
WILFRIED F. SCHOELLER
GERT LEDIG: Stalinorgel. Roman. Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M. 2000 . BS 1333; 228 Seiten, 27,90 Mark.
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