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Produktdetails
  • Verlag: NZZ Libro
  • 1998.
  • Seitenzahl: 538
  • Deutsch
  • Abmessung: 48mm x 160mm x 226mm
  • Gewicht: 960g
  • ISBN-13: 9783858237064
  • ISBN-10: 385823706X
  • Artikelnr.: 07436996
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.1998

Der Homo Helveticus war kein Robespierre
Wenig Sorge um die eigene Haut: Zu Tobias Kästlis Leidwesen hat die Schweiz keine Französische Revolution erlebt

Zu Silvester 1872 schrieb Jacob Burckhardt seinem Freund Friedrich von Preen eine Antwort auf dessen Frage, welche Bücher zur neueren Geschichte Deutschlands er empfehlen könne. Derartige Werke, bekannte der Schweizer Burckhardt, "lese und kenne" er nicht, schon lange habe er einen "Abschmack" daran. Preen solle sich mit dem erstbesten billigen Opus behelfen, denn die Geschichtsschreibung sei in einer "Mauserung" begriffen, und innerhalb weniger Jahre werde "die ganze Weltgeschichte von Adam an siegesdeutsch angestrichen und auf 1870/71 orientiert sein".

Die Gefahr, daß die Schweizer Geschichte zu den Klängen von Siegesfanfaren umgeschrieben wird, besteht seit der Niederlage der Schweizer Truppen bei Marignano 1515 nicht mehr. Seither hat sich schweizerische Politik meist auf sich selbst zurückgezogen. 1989, das Ende des Kalten Krieges und die aktuelle Diskussion über die nachrichtenlosen Vermögen und die Währungsgeschäfte während des Zweiten Weltkriegs haben jedoch auch in der Schweiz zu einer Debatte über das politische Selbstverständnis geführt.

Das hat auch die schweizerische Historiographie inspiriert. Die Gefahr liegt hier indes nicht darin, Geschichte siegestrunken umzuschreiben, sondern sie "europäisch" einzufärben. Man kann, etwas vereinfachend, viele Bücher zur Geschichte der Schweiz in zwei Gruppen unterteilen. Auf der einen Seite die "Separatisten", die die Besonderheit, Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der eidgenössischen Entwicklung betonen. Derartige Deutungen findet man rechts wie links, mit positiver wie negativer Wertung. Dem stehen die "Internationalisten" gegenüber, die zeigen, daß es in der Schweiz auch Ausprägungen allgemeiner Phänomene gab. Heutzutage heißt das: Europa ist überall, auch in der Schweiz.

Tobias Kästli ist unzweifelhaft den Internationalisten zuzurechnen. Sein Wertmaßstab ist der aufklärerische Universalismus der Französischen Revolution - als "Sternstunde der Menschheit" gefeiert -, der "politische Freiheit" als "Ziel" einer jeden Revolution erscheinen läßt. Das könne, so der Autor, gelingen, wenn revolutionär errungene Freiheit später ihre Verstetigung und dauerhafte Absicherung durch die Etablierung von Institutionen erfahre.

Mit diesem Leitgedanken strukturiert Kästli seine Darstellung. Sie ist in drei zeitliche Blöcke geteilt: Zuerst werden die fünf Jahre der Helvetik - der gescheiterten Errichtung einer zentralistischen, an den französischen Prinzipien orientierten Republik - skizziert. Darauf folgt der Blick auf die Nationalbewegung, die die Gründung des Bundesstaates von 1848 getragen hat. Die Liberalen und Radikalen fanden in der Schweiz, anders als etwa in Deutschland, auch eine Massenbasis in Vereinen wie den Schützen, Turnern und Sängern. Kästlis dritte Etappe ist ein Schnelldurchgang durch die folgenden einhundertfünfzig Jahre des Bundesstaates. Die Verfassungsrevision des neunzehnten Jahrhunderts mit der Einführung der direkten Demokratie (1874, 1891); das Verhältnis zu den internationalen Organisationen; die zögerliche Gleichstellung der Juden; der sparsame Ausbau des Sozialstaats - etwas planlos reihen sich derartige Ausführungen aneinander.

So unbestimmt wie die Darstellung Kästlis anmutet, endet sie denn auch - mit einem Plädoyer für den "Verfassungspatriotismus". Der Autor hat insofern recht, als die "Erfindung der Schweiz" seit 1848 auch in der Konstruktion geschichtlicher und ethnischer Traditionen bestand, die eine gleichsam überindividuelle Sicherheit stiften sollten. In den dreißiger Jahren phantasierte man sogar von einem Homo Alpinus Helveticus und fand ein übergesellschaftliches Fundament nationaler Identität in der Natur. Denn angesichts der multikulturellen Pluralität der Sprache in der Schweiz suchte man die ersehnte nationale Gemeinsamkeit wohlweislich nicht in einem kulturell gewendeten Rassebegriff.

Der Kern des schweizerischen Selbstbildes wurde aber seit dem Mittelalter durch die politische Verfassung bestimmt. Zuerst durch die ständische Freiheit der Gemeinden, im Zeitalter des Liberalismus dann durch die Freiheit des Individuums in der Gemeinde. Der Tell-Kult, lange vor Schillers Popularisierung weit verbreitet, war die adäquate Darstellungsmöglichkeit dieses politischen Selbstverständnisses. Die geschichtliche Tradition - dieser Aspekt fehlt bei Kästli - war in der Schweiz eine wichtige Grundlage der demokratischen Entwicklung seit dem neunzehnten Jahrhundert. Die "Freiheit" basierte hier nicht auf dem fundamentalen Bruch mit der Vergangenheit, wie in Frankreich, sondern auf einer beschworenen Kontinuität, die flexibel umgedeutet werden konnte. Emotionale Bindung an das Gemeinwesen auf Grund politischer Partizipations- und Gestaltungsmöglichkeiten und einer beschworenen historischen Kontinuität - das macht die schweizerische Besonderheit aus.

Wenn es irgendwo eine weit zurückreichende Tradition eines Verfassungspatriotismus gibt - dann in der Schweiz. Burckhardt, kein Freisinnseuphoriker, hat das prägnant beschrieben. Die Schweiz, konstatierte er anläßlich eines nationalen Schützenfestes, besitze "das, wonach Deutschland vergeblich schmachtet, eine Darstellung innerer Einheit bei äußerer Vielartigkeit und Zerspaltung". Diese innere Einheit war politisch begründet und durch historische Traditionen legitimiert - doch zugleich auch immer wieder neu erfindbar, an neue Erfordernisse anpaßbar. Darauf beruht die Erfolgsgeschichte der schweizerischen Demokratie. Die landestypische Form des Verfassungspatriotismus war immer eine grundlegende Basis des Nationalstaates, Freiheit war in der Schweiz stets die Grundlage für Einheit.

Kästli blendet diese politische Tradition der Schweiz weitgehend aus, weil er selber dem revolutionären Mythos von 1789 verpflichtet ist. Daran gemessen, erscheinen ihm die schweizerischen Ereignisse als rückständig - sei es die politische Verfaßtheit um 1800, sei es der Sozialstaat des zwanzigsten Jahrhunderts. Er verfehlt damit auch sein eigenes theoretisches Postulat. Denn eingangs bekundet er, keine geschichtsphilosophisch geleitete Abhandlung schreiben, sondern sich in die "Haut der damaligen Akteure" hineinversetzen und "subjektive Motivationen" aufspüren zu wollen.

Zusammenhang stiftet dieser Anspruch nicht. An vielen Stellen rekonstruiert der Autor denn auch nicht zeitgenössische Erfahrungsräume, Wahrnehmungsmuster, Handlungsmöglichkeiten, sondern urteilt aus seinem Standpunkt heraus, der der fortschrittsoptimistischen Geschichtsphilosophie der Revolution verpflichtet bleibt. Den Zeitgenossen der Helvetik etwa sei, "bei etwas mehr Engagement", doch "noch einiges möglich" gewesen. Der Leser wünschte an derartigen Stellen jedoch mehr über die Gründe zu erfahren, weshalb einzelne sich für oder gegen bestimmte Ziele engagierten, welche Strukturen Bedingungen möglicher Ereignisse waren. Nur selten gelingt es Kästli, das Handeln historischer Subjekte verstehend darzustellen und zugleich die Besonderheiten der Geschichte der Schweiz durch die Analyse allgemeiner Bedingungen erklärbar zu machen. MANFRED HETTLING

Tobias Kästli: "Die Schweiz - eine Republik in Europa". Geschichte des Nationalstaats seit 1798. Verlag Neue Zürcher Zeitung, Zürich 1998. 540 S., geb., 85,- DM.

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