Marktplatzangebote
9 Angebote ab € 4,90 €
  • Lernkassette

Geboren in Reinbek bei Hamburg, in Frankreich in einem Internat erzogen und vor der Deportation durch die Nationalsozialisten gerettet – diese Überlebensgeschichte und die deutsche und die französische Sprache haben Georges-Arthur Goldschmidt gleichermaßen geprägt. Im Juni 1995 hat er im Literaturhaus in Hamburg an vier Abenden aus seiner ganz eigenen Sicht über das Schreiben und dessen Verbindung zu Sprache, Leben, Malen und Übersetzen gesprochen. Anlässlich der Übergabe seiner deutschsprachigen Manuskripte und Briefe erscheinen diese Vorträge – durchgesehen vom Autor – nun erstmals im Druck.

Produktbeschreibung
Geboren in Reinbek bei Hamburg, in Frankreich in einem Internat erzogen und vor der Deportation durch die Nationalsozialisten gerettet – diese Überlebensgeschichte und die deutsche und die französische Sprache haben Georges-Arthur Goldschmidt gleichermaßen geprägt. Im Juni 1995 hat er im Literaturhaus in Hamburg an vier Abenden aus seiner ganz eigenen Sicht über das Schreiben und dessen Verbindung zu Sprache, Leben, Malen und Übersetzen gesprochen. Anlässlich der Übergabe seiner deutschsprachigen Manuskripte und Briefe erscheinen diese Vorträge – durchgesehen vom Autor – nun erstmals im Druck.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.12.2014

Der Schwarzfahrer hat niemanden, der ihm zuhört
Überleben in Literatur: Georges-Arthur Goldschmidts Schlüsselerzählung "Der Ausweg" überträgt er selbst ins Deutsche und lässt seinen Befrager ins Leere laufen

Man befürchtet das Schlimmste. Interviews sind eine spannende Sache, aber für Bücher eine schwierige Gattung. Das muss auch Hans-Jürgen Heinrichs geahnt haben. Er schickt seinem Gespräch mit Georges-Arthur Goldschmidt eine Einleitung voraus, die mit vielen Unterkapiteln "Die Dimension des Projekts" - einer der Titel, Punkt vier - und noch mehr Fußnoten Fragen wie "Warum Dialogisieren?" beantwortet. Seine Leistung hält er indes bereits im ersten Satz fest: "Dieses Buch erzählt von dem Abenteuer eines verstehenden Austauschs über Ideen, Erkenntnisse und Gefühle." Schön wär's, von Verstehen und Austausch keine Spur.

Es wird alles noch grotesker. Nach einer weiteren Vorbemerkung beginnt das Gespräch auf Seite 35. Das erste Steckenpferd, auf dem Hans-Jürgen Heinrichs herumreitet, ist "die Freude am Leben und das Wunder des Existierens", in der Tat ein zentrales Thema für Goldschmidt. Schließlich war er dafür bestimmt, zu Lampenschirmen und Seife verarbeitet zu werden. "H-J H" kommt dann aber lieber auf Israel und seine Siedlungspolitik zu sprechen, "das jüdische Denken war doch einmal Statthalter der Moral als solcher".

"G-A G" fühlt sich weder besonders verantwortlich noch überhaupt zuständig, aber "diese Frage à la Günter Grass beantworte ich gerne". Es ist die einzige, von der er das sagt: "Warum stellen Sie die Frage mir, wo ich doch immer wieder betone, dass ich Jude nur im Sinne Hitlers und der Nürnberger Gesetze bin? Sonderbar, dass gerade solche Fragen immer wieder an vermeintliche Verantwortliche gestellt werden von Nachkommen der wahren Verantwortlichen. Alle diese Fragen haben denselben Zweck: Das Geschehen ungeschehen zu machen, in der Hoffnung, man könne nun endlich Israel Hitlerdeutschland gleichstellen, so hätte man da endlich ein schönes eins zu eins.

Nach Israel geht es um die Teilnahme an der "Pariser jüdischen Kultur", von der Goldschmidt "nichts weiß und die mich nicht mehr als andere Kulturen angeht: "Sie wollen mich immer wieder zum Juden machen, was ich noch mal gesagt, nur in Hitlers Augen bin."

Mit der gleichen gnadenlosen Penetranz will Heinrichs dem doppelsprachigen Schriftsteller das Geheimnis seiner Eigenübersetzungen, die großartige Zweit- und Nachdichtungen sind, entlocken - vielmehr: Er will es ihm und uns erklären.

Goldschmidt - in Hochform - lässt ihn ins Leere laufen: Abweichungen rechtfertigt er mit seiner Faulheit, er sei schlicht zu bequem gewesen, um im Nebenzimmer das Nachschlagewerk zu holen. Seine kreative Freiheit gerät bei jeder Frage mit Heinrichs' zwanghafter Systematik in Konflikt: "Auch hatte ich nicht immer die französische Fassung dabei, das fand ich albern und habe einfach aufs Geratewohl ins Blaue übersetzt." Er ist viel zu höflich, um dem Schrecken ein Ende zu bereiten. Aber er weiß sich zu helfen. Manchmal hat er das Gefühl, einem "Verhör" zu unterliegen. Der Vorwurf wiederum bringt Heinrichs auf die Palme, "aggressiv" nennt er das Verhalten des Schriftstellers, der in seiner Literatur doch längst schon alles gestanden hat. Für den Titel wurde wieder einmal auf Goldschmidts existentielle Fremdbestimmung als "Schwarzfahrer des Schicksals" zurückgegriffen.

"Aus dem Französischen vom Verfasser" ist Goldschmidts gerade erschienene autobiographische Erzählung "Der Ausweg" ins Deutsche übertragen worden. Es geht aufs Neue um die Zeit des Kriegs und die Jahre danach. Um die Scham des Überlebenden, dem seine gerechten Retter die Schuld und die Dankbarkeit in Kopf und Körper geprügelt haben und deren Verbalisierung ihm Heinrichs wie ein Schuldgeständnis abringen will. Goldschmidts Ausweg im Leben war die Literatur, und dieser Text ist ein Schlüssel zu seinem Verständnis. Mit ganz besonderer Beklommenheit folgt man den Bahnfahrten des Jungen im Nachkriegsfrankreich. Der Bahnhof von Sallanches ist wie vor siebzig Jahren. In dieser Erzählung steckt auch die konkrete Urszene vom Schwarzfahrer ohne Geld und Fahrkarte, der dem Schaffner erzählt, Mutter und Vater seien im Konzentrationslager gestorben. "Der Kontrolleur, interessiert, setzte sich neben ihn. Er wollte die Geschichte hören" - stieg aber an der nächsten Station wieder aus und ließ dem Jungen keine Zeit, "sich mit seiner Lüge zu arrangieren": Die Mutter war im Bett, der Vater zwei Jahre nach der Deportation in Theresienstadt, wo er als Seelsorger wirkte, gestorben. "Er selber hatte einen Luxuskrieg erlebt: wohlgeborgen, untergebracht, ernährt, ausgepeitscht und spazierend, was wollte er denn mehr? Er fuhr schwarz und nutzte skrupellos den Tod anderer aus."

Seine Familiengeschichte beleuchtet Jan Bürger im Begleittext zu Goldschmidts Hamburger Poetikvorlesungen aus dem Jahr 1995: "Die Schreibspanne". Die handschriftlichen Aufzeichnungen wurden 2012 beim Zusammenstellen der Dokumente, die der Schriftsteller dem Literaturarchiv Marbach überlassen will, gefunden. Sie sind eine herrliche Trouvaille: "Literatur ist ein Weg zur Selbstentdeckung, den schon viele andere - wie Jean-Jacques Rousseau oder Franz Kafka - gegangen sind."

Im Jahr 1981 besuchte Georges-Arthur Goldschmidt den Philosophen Vladimir Jankélévitch. Der große Denker hatte den Krieg im Widerstand überlebt und griff in einem Interview, das erst nach seinem Tod erscheinen sollte, die Intellektuellen an, die sich während der Besatzung arrangiert und in den Wohnungen der Deportierten eingenistet hatten. Nach dem Krieg beanspruchten Philosophen wie Merleau-Ponty oder Sartre, die keine Helden gewesen waren, die Meinungsführerschaft. Die wahren Widerstandskämpfer aber wurden vergessen - und auch Jankélévitch in seiner Bedeutung lange unterschätzt. Er hatte sich nach 1945 jedem Dialog mit der deutschen Kultur verweigert. Dass diese Haltung auf eine Beleidigung seines Besuchers hinauslief, der in Gesellschaft seiner entfernten Kusine Clara Malraux - geborene Goldschmidt - gekommen war und sich nie von der Literatur seiner Herkunft abgewandt hatte, versuchte dieser dem Gastgeber klarzumachen. Noch allerdings schrieb Goldschmidt seine Bücher ausschließlich auf Französisch, erst 1991 veröffentlicht er "Die Absonderung", seinen ersten Text in der deutschen Muttersprache, den Peter Handke - dessen französischer Übersetzer Goldschmidt ist - als "Traumbuch" charakterisierte. Von Jan Bürger erfährt man in der "Schreibspanne", dass die ersten deutschsprachigen Versuche auf die siebziger Jahre zurückgehen.

Auf Goldschmidts Vorwürfe reagierte Vladimir Jankélévitch "verwirrt und genierte sich". Monate später bekam er den Brief eines jungen Deutschen, dem er den Dialog nicht verweigerte. Wiard Raveling, frankophiler Lehrer und Journalist, hatte Jankélévitch im französischen Rundfunk gehört. Dem Brief folgte eine rege Beziehung, über die Raveling jetzt ein Buch geschrieben hat: "Ist Versöhnung möglich?" Die Ausgabe enthält die deutsche und französische Version - Goldschmidt steuerte das Vorwort bei, in dem er seinen Besuch beschreibt.

Im Schlagabtausch mit Heinrichs hat er das letzte Wort. In seinen Schlussbemerkungen erwähnt er unvermittelt über hundert E-Mails, die er von Isabel Kupski "zur Ermunterung" erhalten habe. Sie sind noch einmal ein Hinweis auf das Klima, in dem das unmögliche Gespräch stattgefunden hat. Als "hochkultivierten, eminenten Ethnologen und Schriftsteller, dem keine Kombination des Denkens und des Erdenkens fremd ist", lobpreist Goldschmidt den Mann, der ihn verhörte und dessen Wissen er seine eigene "krasse Ignoranz" und "nicht einmal lückenhafte Bildung" unterwirft. Er weiß hingegen, warum Hans-Jürgen Heinrichs' hochtrabendes "Abenteuer eines verständigenden Austauschs", dem er sich verweigerte, scheiterte: "Weil der eine am anderen vorbeifragte und der andere dann absichtlich so tat, als verstünde er die Fragen nicht."

Georges-Arthur Goldschmidt weiß sich zu helfen. Im Widerstand gegen seinen deutschen Befrager setzt er zu einem Höhenflug an, auf dem er herrliche Formulierungen über die beiden so unterschiedlichen Sprachen und Kulturen führt. Aus ihnen könnte man eine Sammlung wertvollster Aphorismen exzerpieren. Aber auch weil es über einen hohen Unterhaltungswert verfügt, wird das Protokoll seines Verhörs zweifellos zum Kultbuch der deutsch-französischen Beziehungen in der Ära von Merkel und Hollande avancieren. Der 86 Jahre alte Dichter bricht derweil zu neuen Horizonten auf. Erstmals hat er begonnen, eines seiner auf Deutsch geschriebenen Bücher ins Französische zu übertragen.

JÜRG ALTWEGG

Georges-Arthur Goldschmidt: "Der Ausweg". Eine Erzählung.

Aus dem Französischen vom Verfasser. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2014. 160 S., geb., 16,99 [Euro].

Georges-Arthur Goldschmidt: "Die Schreibspanne". Hamburger Poetikvorlesungen. Mit einem Nachwort von Jan Bürger. Deutsche Schillergesellschaft, Marbach 2013. 92 S., br., 14 ,- [Euro].

Wiard Raveling: Ist Versöhnung möglich?" Meine Begegnung mit Vladimir Jankélévitch. Mit einem Vorwort von Georges-Arthur Goldschmidt.

Deutsch und Französisch. Isensee Verlag, Oldenburg 2014. 174 S., br., 19,90 [Euro].

Georges-Arthur Goldschmidt im Dialog mit Hans-Jürgen Heinrichs: "Schwarzfahrer des Lebens".

S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 210 S., geb., 19,99 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr