nach Beendigung des Kalten Krieges wird wieder über besonders schwere Menschenrechtsverletzungen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord gestritten. Beide aktuellen Konflikte touchiert Joachim Dolezik zwar kurz, ohne aber eine vertiefte Betrachtung anzustreben. Das tut er auch im Falle anderer, weiter zurückliegender und besser ergründbarer Krisen und Kriege nicht wesentlich intensiver, geht es ihm doch weder um eine genealogisch genaue noch um eine rechtshistorische Darstellung, sondern vielmehr um eine grundsätzliche normativ-konzeptionelle und rechtsphilosophische Erörterung des prekären Verhältnisses von Menschen- und Völkerrecht sowie einer liberalen Friedensordnung zwischen idealem Anspruch und realer Ausprägung.
Für eine Dissertation - es ist Doleziks zweite nach einer juristischen über "Narrative zum Gerechten Krieg im Völkerrecht", auf die er häufig verweist - hat er sich mithin nicht gerade ein kleines Thema gewählt, dem er so belesen wie gründlich zu begegnen sucht. Der spürbare Drang, verarbeitete Quellen und Literatur so vollständig wie möglich erkennbar werden zu lassen, machen die Lektüre nicht immer zu einer erquicklichen Übung, zumal Dolezik in die eigenen Sätze regelmäßig Paraphrasen und Zitate einbindet. Entsprechend ausladend ist der Fußnotenteil, der selbst noch in der Schlussbetrachtung passagenweise bis zu vier Fünftel der Seite ausmacht.
Das gibt allerdings keinen Anlass für Polemik oder Häme, schließlich handelt es sich um eine gewichtige akademische Qualifikationsschrift und kein auf Popularisierung wissenschaftlicher Erkenntnisse bedachtes Sachbuch. Die detailgenaue Registratur und Einordnung der verschiedenen Facetten und Thesen der Forschung stellt für sich genommen eine große Leistung dar. Darüber hinaus zieht Dolezik auch selbst Schlussfolgerungen, wenngleich sich nicht immer leicht auseinanderhalten lässt, was Referat und was eigene Bewertung ist.
Neben ideengeschichtlichen Grabungen zum Menschenrechtsverständnis und zum Friedensbegriff mit verschiedenen Traditionssträngen - so neben einer universalistischen "kantischen" Strömung, die auf eine Weltfriedensordnung republikanischer Staaten zielt, eine "realistische" hobbesianische im Zeichen von Macht und Interessen sowie eine gleichsam dazwischen angesiedelte, auf Staatenkooperation und Rechtsbindung setzende "grotianische" Schule - zeichnet Dolezik mit großer Akkuratesse das normative Spannungsverhältnis zwischen Friedenssicherung und Menschenrechtsschutz in der aktuellen Debatte nach, an der sich außer Juristen unter anderen Politologen, Philosophen und Historiker beteiligt haben. Allein aus der Vielzahl der Blickwinkel ergibt sich der Abschied von einer essenzialistischen Auffassung des Völkerrechts wie von unumstrittenen universellen Menschenrechtsstandards.
Mit Übersicht und Detailgenauigkeit bringt der Autor kosmopolitische gegen partikularistische Denkansätze in Stellung, würdigt Argumente der "Critical international human rights"-Schule ebenso wie von postkolonialen, feministischen, aber auch pragmatischen Kritikern gegenüber den Leitperspektiven, wie sie Verfechter einer westlich-liberalen Weltordnung vorgeben. Dolezik arbeitet überzeugend heraus, als wie überlagert bisweilen hehre völker- und menschenrechtliche Ansprüche von andersartigen ideologischen, politischen, ökonomischen und kulturell-hegemonialen Ingredienzen waren und weiterhin sind. Er hebt nicht zuletzt Interessen eines globalisierten Kapitalismus hervor, der sich (national-)staatlicher Kontrolle wie ethisch-moralischen Reglements entzieht. Weniger düster würde das Bild vermutlich ausfallen, wenn man den jüngeren Haltungswandel mancher weltweit agierenden Unternehmen gegenüber sozialen Herausforderungen, Klimawandel und Menschenrechten in Betracht zöge.
Gleichwohl ist Doleziks ideologiekritische Inventur liberaler Völkerrechtskonzeptionen und der daran gekoppelten Menschenrechtsthematik zu begrüßen. Häufig wurde an sie eine Fortschritts- und Zivilisierungserzählung gebunden, die zu einer "Blindschaltung" (so ein Lieblingswort des Autors) tatsächlicher Motive hinter einer moralisch verbrämten Fassade geführt hätte. Ob die Rede von "Humanitätseschatologie" oder "Menschenrechtsfundamentalismus" nicht übers Ziel hinausschießt, sei dahingestellt. An dem Umstand, dass Carl Schmitt, aus dessen Werkzeugkoffer der Liberalismus- und Imperialismuskritik sich Dolezik gern bedient, als gar nicht so heimlicher Held der Studie auftritt, dürften sich die Geister ebenfalls scheiden.
So genau Dolezik Ambivalenzen des Liberalismus und mit ihnen verbundene Bigotterien beleuchtet, hätte man gern noch etwas mehr über außerhalb westlich-europäisch-atlantischer Argumentationslinien liegende Begründungszusammenhänge erfahren, ob über Menschenrechtsdeklarationen in Afrika wie der islamischen Welt oder das Erbe des "sozialistischen Völkerrechts" aus Zeiten des Ost-West-Konflikts. So viel Wasser Dolezik in den Wein eines perfekten internationalen Menschenrechtsregimes als Friedensgrundlage geschüttet hat, ist dadurch doch nicht an dem nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs formulierten Paradigma zu zweifeln: Ungeachtet der Überdehnung von individuellen Schutz- hin zu positiven Gestaltungsansprüchen, Spannungen zwischen Theorie und Praxis, Macht und Recht, Symbol- und Realpolitik führt kein Weg hinter den internationalen Geltungsanspruch der Menschenrechtsidee zurück. Es gilt, weiter hartnäckig an deren Implementierung zu arbeiten. Aller Kritik zum Trotz dürfte die Protagonistenrolle dabei nach wie vor dem liberalen Westen zufallen. ALEXANDER GALLUS
Joachim Dolezik: Die prekäre Verbindung von Menschenrechten und Frieden. Zur Ambivalenz des Liberalismus und der Ordnungsmuster des Völkerrechts.
Duncker & Humblot, Berlin 2024. 320 S., 89,90 Euro.
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