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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 31.05.2010

Was sich im Kopf nicht alles finden lässt!

Dieses Buch wiegt ganze Regale an Literatur über das Gehirn auf: Maxwell Bennett und Peter Hacker unterziehen die Neurowissenschaften einer kritischen Sichtung und leisten vorzügliche Aufklärungsarbeit.

Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften", so lautet der Titel des Bandes von Max Bennett und Peter Hacker, der nun sieben Jahre nach der Originalausgabe endlich auch auf Deutsch vorliegt. Es ist ein Titel, über den man leicht stolpern kann. Sollten denn die Neurowissenschaften ein philosophisches Fundament brauchen? Schließlich gilt, salopp formuliert, Wissenschaft ist auch und nicht zuletzt, wenn es trotzdem funktioniert.

Nun haben aber Bennett und Hacker - Neurowissenschaftler in Sidney der eine, Philosoph in Oxford der andere - durchaus keine philosophische Theorie entworfen, die irgendwelche heiklen Punkte entscheiden will. Es geht nicht um Thesen über Hirn und Geist, freien Willen und kausale Geschlossenheit, Qualia, geistlose Zombies, invertierte Farbspektren und was Philosophie des Geistes sonst noch so alles im Angebot hat. Es geht den beiden Autoren ganz im Gegenteil darum, es auf philosophische Probleme gar nicht erst hinauslaufen zu lassen, die Thesen dieser Art zu ihrer Auflösung nach sich ziehen.

Was Bennett und Hacker dagegen im Blick haben, ist philosophische Aufklärungsarbeit. Im Geiste Wittgensteins nämlich, und das meint: Keine Theorien schmieden oder strittige Thesen verfechten, sondern vor Augen führen, wie wir die Begriffe gebrauchen, mit denen wir alltäglich von mentalen und psychischen Sachverhalten handeln: Empfindung und Wahrnehmung, Denken und Erinnern, Vorstellen und Wollen, Gefühl und (Selbst-)Bewusstsein und andere mehr. Denn der alltägliche Gebrauch bestimmt die Bedeutung dieser Begriffe, und diese Bedeutung ist auch für die Neurowissenschaften grundlegend: Sie wollen schließlich erklären, wie sich die neuronalen Mechanismen verstehen lassen, die jenen mentalen und psychischen Prozessen zugrunde liegen, auf die wir uns laufend mit genau diesen Begriffen beziehen.

Das klingt zwar bescheiden, denn was sollte so schwierig daran sein, uns an unserer eigenen üblichen Verwendung mentaler und psychologischer Begriffe zu orientieren. Doch dieser Eindruck täuscht, denn wir neigen hartnäckig dazu, unsere eigenen Sprechweisen misszuverstehen, sobald wir sie gleichsam abseits ihres selbstverständlichen Funktionierens in Augenschein nehmen und im Lichte vorgefasster Bilder oder auch Theorien interpretieren. Dann geraten wir schnell und unvermerkt auf die Bahn begrifflicher Verwirrungen. Wenn Hirnforschern solche Konfusionen unterlaufen - und sie sind dafür ziemlich anfällig -, bekommen die Verwirrungen überdies einen wissenschaftlichen Anstrich und stützen sehr merkwürdige Vorstellungen vom Gehirn wie von uns selbst.

Diese neurowissenschaftlichen Verzeichnungen haben Bennett und Hacker in ihrem Buch im Visier. Sie müssen sich nach ihnen auch nicht etwa lange umsehen, sondern können bei prominenten Neurowissenschaftlern aus dem Vollen schöpfen. Ein sicheres Indiz ist dabei, was die Autoren den "mereologischen Fehlschluss" nennen: nämlich einem Teil eines lebendigen Wesens Eigenschaften zuzusprechen, die sinnvoll nur diesem Wesen selbst beigelegt werden können. Der Teil ist in diesem Fall natürlich das Gehirn, das Hirnforscher gerne zum Subjekt befördern. Wer ihre Bücher liest, stößt denn auch häufig auf ein Gehirn mit einem entsprechenden Spektrum von Fähigkeiten: ein Gehirn, das wahrnimmt, denkt, konstruiert, vergleicht, erkennt, rechnet, sich erinnert, Hypothesen formuliert, glaubt, fühlt, Schlüsse zieht, entscheidet und mit symbolischen Repräsentationen der Welt hantiert.

Die Aufklärungsarbeit von Bennett und Hacker besteht im geduldig geführten Nachweis, dass diese Übertragung von uns wohlvertrauten Fähigkeiten auf das Gehirn nicht etwa falsch, sondern schlicht unsinnig ist - eben das Produkt einer begrifflichen Verwirrung. Denn diese Übertragung vergisst, dass die sinnvolle Zuschreibung solcher Fähigkeiten in unauflösbarer Weise an Verhaltenskriterien von Menschen - allgemeiner von Tieren einer gewissen Entwicklungsstufe - gebunden ist. Und diese kriterielle Verankerung lässt sich vor Augen führen, indem man nachzeichnet, wie wir üblicherweise solche Ausdrücke wie denken, fühlen, erinnern oder wahrnehmen gebrauchen: in einer übersichtlichen Darstellung der Begriffe, mit denen wir von unseren psychischen Vermögen handeln, und der zwischen ihnen bestehenden Beziehungen. Bennett und Hacker demonstrieren das auf beeindruckende und schnörkellose Weise.

Den Einwand, dass die neurowissenschaftliche Verwendung dieser Begriffe doch gegenüber deren alltäglichem Gebrauch eigene Wege gehen könne - ob als Analogien, Metaphern oder auch als strikte Neudefinitionen, die unsere bloße "Laienpsychologie" hinter sich lassen -, diesen Einwand wollen die Autoren nicht gelten lassen. Denn man könne nun einmal leicht sehen, dass die Begriffe in den Erklärungen der Hirnforscher durchaus die vertrauten Bedeutungen behalten. Was auch nicht weiter verwunderlich sei, denn wie anders sollte die neuronale Basis der in diese und keine anderen Begriffe gefassten mentalen Fähigkeiten auch erklärt werden können. Anders formuliert: Es gibt keine korrigierende Instanz "unterhalb" unserer eingespielten Begriffe und Redeweisen, jenseits ihrer mit Handlungskontexten eng verwobenen "Grammatik". Glaubt man, sich von dieser Grammatik dispensieren zu können, ist man schon auf einem Ausritt über die Grenzen des Sinns.

Zur Behandlung der unter Neurowissenschaftlern verbreiteten Neigung zu solchen Ausritten gehört bei Bennett und Hacker auch eine historisch ansetzende Diagnose. Sie lautet auf einen nur unvollständig überwundenen Dualismus von Körper und Geist, in dessen Zeichen die moderne Neurowissenschaft auf den Weg gekommen war. Statt diesen schiefen Dualismus der disziplinären Wegbereiter nämlich wirklich hinter sich zu bringen, rückte an die Stelle des Geistes später das Gehirn als neuer Träger aller psychischen Eigenschaften - was zwar auf den ersten Blick empirisch sehr solide wirkt, tatsächlich aber die alte Entgegensetzung in neuer Form fortschreibt. Zuvor war der Geist Schauplatz eines inneren Geschehens gewesen, das den körperlichen Ausdruck genauso wie unsere sprachliche Bezugnahme auf dieses Geschehen nachrangig, als eine Art von Übersetzung erscheinen ließ. Nun ist es das Gehirn, das als eigentlicher innerer Strippenzieher auftritt: selbst zwar körperlich und doch gleichzeitig genauso wie der weiland geisterhafte Geist des alten Dualismus von seinen äußeren Manifestationen seltsam abgehoben.

Woraus man ersieht, dass ein immer schon zu Missverständnissen einladendes Bild von innen und außen unter den neuen Auspizien - Hirn als materialisierter Geist - an Verführungskraft eher noch gewinnt als verliert. Denn wenn uns die dem Gehirn zugeschriebenen Vermögen auch bestens vertraut sind, auf vertrautem Terrain sind wir deshalb nicht unbedingt. Was das Gehirn erfährt und tut, spannt einen Raum des privaten Inneren auf, der von außen nach Kriterien des Verhaltens allenfalls indirekt erschließbar ist.

Nur der Besitzer dieses mentalen Innenraums selbst hat direkten Zugang zu ihm: Introspektiv erkennt er, in welchem Zustand er beziehungsweise sein Gehirn ist. Mein Schmerz ist eben nur mir zugänglich, und ich kann nicht wissen, wie sich der Schmerz oder die Rotempfindung des anderen anfühlt. Und ebenso ist Bewusstsein offensichtlich ein privates, auf die Perspektive der ersten Person eingeschränktes Phänomen - und aus neurowissenschaftlicher Perspektive eine Eigenschaft oder ein Merkmal des Gehirns beziehungsweise bestimmter seiner neuronalen Netzwerke.

Mit solchen schnell gezogenen Folgerungen steckt man natürlich schon mitten in tiefgreifenden Missverständnissen, wie sie von Bennett und Hacker analysiert werden: Ob es nun um Bewusstsein und Selbstbewusstsein geht, um Empfindungen, die kognitiven Vermögen, Emotionen oder das Wollen. Was die beiden Autoren demonstrieren, indem sie die Konturen unserer Begriffe von psychischen Fähigkeiten umreißen, kann man wohl so formulieren: Selbst wenn begriffliche Klarheit nicht unabdingbare Voraussetzung von neurowissenschaftlicher Forschung sein mag - sie lässt sich schon erreichen. Sie würde auch die veritable Mythologie des Gehirns abräumen, die sich mittlerweile herausgebildet hat und die tatsächlichen Einsichten und Perspektiven der Neurowissenschaften überlagert. Und schließlich ersparte solche Klarheit uns die vermeintlich tiefgründigen oder "harten" Probleme, an denen sich Hirnforscher wie Philosophen versuchen, nur weil sie die Sprache gerade wieder einmal feiern lassen.

Wer immer Hirnforschung im Blick behalten will, sollte an diesem tatsächlich fundamentalen Buch von Bennett und Hacker nicht vorbeigehen, die vor zwei Jahren übrigens mit einer "History of Cognitive Neuroscience" nachlegten (F.A.Z. vom 27. Januar 2009). Der Band, dessen Übersetzung vorzüglich ist, wiegt ganze Regale an Literatur über das Gehirn auf. Über den Preis darf deshalb nicht gemurrt werden.

HELMUT MAYER.

Maxwell R. Bennett und Peter M. S. Hacker: "Die philosophischen Grundlagen der Neurowissenschaften". Aus dem Englischen von Axel Walter. Mit einem Vorwort von Annemarie Gethmann-Siefert. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 2010. 565 S., geb., 79,90 [Euro].

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