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Ein nicht gedeuteter Traum ist wie ein nicht gelesener Brief
"Der Größe der Literatur ist bei David Albahari so gut wie keine Grenze gesetzt." - Neue Zürcher Zeitung
Der Erzähler in David Albaharis neuem Roman hat viel Zeit. Einmal die Woche schreibt er eine Kolumne für eine Belgrader Zeitung, ansonsten macht er das, was viele in zerfallenden autoritären Regimen tun: Er macht sich unsichtbar. Was bleibt, sind die kleinen, täglichen Rituale, die ihn daran erinnern, dass das Leben wirklich vergeht: der morgendliche Spaziergang an die Ufer der Donau, die von Joints befeuerten…mehr

Produktbeschreibung
Ein nicht gedeuteter Traum ist wie ein nicht gelesener Brief

"Der Größe der Literatur ist bei David Albahari so gut wie keine Grenze gesetzt." - Neue Zürcher Zeitung

Der Erzähler in David Albaharis neuem Roman hat viel Zeit. Einmal die Woche schreibt er eine Kolumne für eine Belgrader Zeitung, ansonsten macht er das, was viele in zerfallenden autoritären Regimen tun: Er macht sich unsichtbar. Was bleibt, sind die kleinen, täglichen Rituale, die ihn daran erinnern, dass das Leben wirklich vergeht: der morgendliche Spaziergang an die Ufer der Donau, die von Joints befeuerten philosophischen Gespräche mit Marko, seinem besten und einzigen Freund - und die langen, dunklen Nächte in seiner kleinen Wohnung, die er mit alten Vinylplatten von Cream, den Beatles und Marianne Faithfull teilt. Den Zumutungen des Alltags begegnet er mit einer humorvollen Melancholie, die sich als stoischer Fatalismus tarnt - bis eine zufällige Beobachtung seine Neugier weckt: Ein junger Mann ohrfeigt eine junge Frau. Sein unmittelbarer Impuls, dem Übeltäter zu folgen, weicht dem Gefühl der Unsicherheit, als er einen weiteren Mann bemerkt, der ihn und die Szene gesehen hat. Kurz darauf sind beide Männer und die Frau verschwunden, und unser namenloser Erzähler versucht ein Rätsel zu lösen, das scheinbar keine Lösung hat...

Ein Roman aus dem Geist von Hitchcock? Vielleicht. Aber eher ein Literatur gewordenes Mysterium von Tarkowskij, das in einer kunstvoll monologischen Sprache davon erzählt, wie das Absurde sich des Alltäglichen bemächtigt und die Wirklichkeit zu Fall bringt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.02.2008

Auch Gott schafft heute mit Microsoft-Programmen

Serbien, wie durch die Brille eines Thomas Pynchon gesehen: David Albahari erzeugt in seinem neuen Roman ein Labyrinth aus Schuld und Sühne, in dem sich auch der Erzähler verirrt. Die Unterdrückung der Juden wird zum Leitmotiv der jugoslawischen Katastrophe.

Von Friedmar Apel

Verschwörungstheorien rücken uns heute wieder näher, als selbst die skeptischsten Dialektiker der Aufklärung befürchtet hätten. Das Internet begünstigt die Verbreitung des Obskuren, und so scheinen immer mehr Menschen anzunehmen, dass die soziale Wirklichkeit von finsteren Mächten gesteuert wird. Romane, in denen sich lauter der Nachprüfbarkeit entzogene Hypothesen gegenseitig stützen, sind daher immer gut für die Bestsellerliste. Ein Zentrum der Produktion von Verschwörungstheorien ist derzeit zweifellos Belgrad. Auf der prekären Kippe zwischen Nationalstolz und Resignation, Despotie und demokratischem Aufbruch fühlen sich viele Serben mehr denn je bedroht und verraten. Die Allgegenwart von Bindungsverlust, Identitätszweifeln und kollektiver Einsamkeitserfahrung in Serbien ist der Nährboden für irrationale Weltbilder, aber auch für große widerständige Literatur. Schon die schwermütige Kunst Aleksandar Tismas konnte sich aus den Scherben der jugoslawischen Geschichte zu höchstem poetischen Niveau aufschwingen, mit seinem neuen Roman kommt auch David Albahari dem nahe.

Kabale und Kabbalistik.

Sein Ich-Erzähler ist zum Dasein eines melancholischen Flaneurs mehr verdammt als geneigt. Außer einer wöchentlichen Kolumne für eine Zeitung hat er im Belgrad des Jahres 1998 wie viele andere nichts Besonderes zu tun. So streift er ziellos durch die Stadt und beobachtet Menschen, sitzt in den Cafés herum, trinkt Schnaps oder raucht einen Joint mit seinem einzigen Freund Marko und führt mit ihm tiefsinnige Gespräche. In der nächtlichen Einsamkeit seiner kleinen Wohnung hört er die Rockmusik der frühen Jahre mit ihren längst verhallten Versprechungen von Freiheit, Glück und Liebe. Er hat es aufgegeben, die verkehrte Welt seiner Heimat, den Krieg, die Inflation, den politischen Terror und den archaischen Hass, begreifen zu wollen. "Was in den letzten Jahren um uns herum geschah, zeigte mir mit jedem Tag, dass mein Leben praktisch beendet war und ich jetzt in einer Zeit danach lebte, in einem Leben ohne Leben."

Sein zuweilen auch heiterer Fatalismus weicht einem immer intensiveren Deutungseifer, als er bei seinem gewohnten Spaziergang an der Donau beobachtet, wie ein Mann einem Mädchen eine Ohrfeige verabreicht, woraufhin diese mit einem Fuß in den Fluss tritt. Ein zweiter Mann im schwarzen Mantel, der die Szene offenbar auch beobachtet hat, lässt ihn davon Abstand nehmen, dem Mädchen zur Hilfe zu kommen. Er geht ihr nach, woraufhin sie wegläuft. Er, der jeden Winkel Belgrads kennt, so dass der Leser seine Gänge auf der Karte verfolgen kann, nimmt eine Abkürzung, aber sie entkommt ihm. Später geht er wie unwillkürlich zurück zum Ort des Geschehens. Dort findet er einen Knopf und darunter "ein kleines Zeichen: ein Kreis, darin ein Dreieck und in diesem wieder ein auf dem Kopf stehendes Dreieck". Von nun an versucht er, zunehmend getrieben, jeder Beobachtung eine Bedeutung zuzuschreiben, als hinge wie in der alchemistischen oder kabbalistischen Weltdeutung alles mit allem zusammen.

Im Gestrüpp der Hypothesen.

Neun Wochen lang versucht er, das Rätsel zu lösen, und verstrickt sich dabei in ein chaotisches Geflecht von Hypothesen, die durch die Beobachtungen und Ereignisse der geschilderten Realität je überboten werden. Überall wittert er "geheime Abmachungen, Zeichen, Verfolger und Verfolgte, Verschwörer und Irre". Über eine Anzeige in der Zeitung kommt er auf eher profane Weise an ein Manuskript, in der die Geschichte Zemuns chiffriert ist, des von je umkämpften Grenz- und Schwellenorts, der heute ein Stadtteil Belgrads ist.

Wie bei Jorge Luis Borges entsteht nun aus dem Text eine Welt von Möglichkeiten. Bei seinen Versuchen, ihn zu deuten, vertieft sich der Journalist in die serbische Geschichte, vor allem die der Unterdrückung der Juden vom Österreichischen Vielvölkerstaat bis zur sozialistischen Republik. Von drei alten Juden, einer davon selbst leidenschaftlicher Erzähler, der kein Ende finden kann, wird er in die Geheimnisse der Kabbala und ihrer Symbolik eingeweiht. Bei ihnen trifft er auch das geohrfeigte Mädchen wieder, Margareta heißt sie, und er verliebt sich natürlich in sie. Im Blick des Zeichendeuters bleibt nun nichts, wie es war, und niemand, was er war, am wenigsten er selbst.

Die Veränderungen des Erzählers schlagen sich auch in seinen Zeitungskolumnen nieder. Immer leidenschaftlicher beklagt er darin die Unfähigkeit der Serben, ihre schreckliche Geschichte zu begreifen und sich ihren gegenwärtigen Folgen zu stellen. Das beschert ihm, der kein Jude ist, selbst wieder Ohrfeigen auf offener Straße und antisemitische Beschimpfungen: Mitsamt dem Judenpack soll er sich davonscheren. Durch Margareta erfährt er von einer obskuren "Patriotischen Armee der Einigkeit und des Heils", die 1992 auf den Plan getreten sein soll, um zunächst eher gemäßigt vor Überfremdung zu warnen, nachdem die ersten jüdischen Flüchtlinge aus Sarajevo in Belgrad eingetroffen waren.

Damals tauchten die ersten antisemitischen Schmierereien und Grabschändungen auf und den Juden wurde wieder einmal "die Schuld für nahezu alles Böse in der Welt in die Schuhe geschoben". In der Fraktionierung und Radikalisierung dieser Organisation spiegelt sich schließlich die politische Zersplitterung Serbiens, in der auch eine jüdische Gegenverschwörung auf der Basis mystischer Lehren eine maßgebliche Rolle zu spielen scheint. Der Erzähler mutmaßt schließlich, dass er von ihr als Medium benutzt und gesteuert worden ist. Rätselhaft bleibt das alles nur umso mehr.

Die Vorgänge in Jugoslawien differenzieren und verwirren sich in Albaharis Roman zu einem chaotischen erzählerischen Labyrinth, in dem sich als Schuld und Widerschuld die bedrohten ethnischen Identitäten vermischen, in dem die Täter auch als Opfer erscheinen und umgekehrt. In die apokalyptisch und messianisch zugleich erscheinende Geschichte einer raumzeitlichen Grenzerfahrung wird auch der Journalist und Erzähler bis an den Rand der Identitätsauflösung verstrickt. So erscheint der Roman im Rückblick als eine Seelenwanderung, die der Leser mit Aufmerksamkeit und nicht ohne Qual mitgehen soll.

Eine Lösung hat die Geschichte nicht, und Erlösung ist ihrem Protagonisten nicht vergönnt, nur Entrinnen. Der Erzähler flüchtet aus Belgrad, um am fremden Ort seine Geschichte aufzuschreiben, "denn einen, der sich selber Geschichten erzählt, hält man für verrückt, während man jemanden, der dasselbe aufschreibt, achtet und von ihm sagt, er sei schöpferisch tätig, als sei das gesprochene Wort keine Schöpfung". In dem melancholischen Autor, der "aus den Schichten der Erinnerung mühsam" Worte schneidet, kann der Leser am Ende den 1948 geborenen und seit 1994 in Calgary lebenden David Albahari erkennen, der sich im Exil vom literarischen Popstar zum tiefgründigen Chronisten der jugoslawischen Katastrophe wandelte.

Nach wie vor freilich beherrscht er die Manier des kalkuliert unzuverlässigen Erzählens und das postmoderne, manchmal durchaus alberne Spiel mit der Virtualität der Welt "des ungezügelten Kapitalismus und der freien Marktwirtschaft", in der nichts unmöglich ist, nicht einmal, dass es im Himmel Rechner mit Microsoft-Programmen gibt, obwohl doch Gott "über alles Bescheid weiß, einschließlich dem, was er nicht weiß".

In "Die Ohrfeige" hat Albahari zu einer Romankonzeption gefunden, die das mündliche Erzählen der jüdischen Tradition höchst kunstvoll mit den besten Techniken der europäischen und amerikanischen Tradition des erinnernden Schreibens zusammenführt. Seine ausgezeichneten Übersetzer Mirjana und Klaus Wittmann haben dafür einen eindringlichen Sprachduktus gefunden. Am Ende soll der Leser den Begriff der Verschwörung nachträglich streichen. In der Intensität des Eingedenkens aus der Distanz verwandelt sich die Verschwörungsgeschichte in ein so poetisches wie bewegendes Kunstwerk. Das aber ist zugleich eine Expedition ins kollektive Gedächtnis und ein Dokument einer historischen und politischen Konstellation, das dem Leser die serbische Mentalität zwischen Mythos und spröder Gegenwart, Traum und Alltagsbewältigung eindringlich vermittelt.

- David Albahari: "Die Ohrfeige". Roman. Aus dem Serbischen übersetzt von Mirjana und Klaus Wittmann. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 368 S., geb., 22,95 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.10.2007

Rote Wange, leuchtendes Zeichen
Zwischen Kabbala und Kohlhaas: David Albaharis Roman „Die Ohrfeige” erzählt von der inneren Emigration im Serbien des Balkankriegs. Und davon, wie man von der Mutlosigkeit zur Selbstbehauptung findet. Von Hans-Peter Kunisch
Am 6.März 1998 läuft der namenlose Ich-Erzähler des neuen Romans von David Albahari, ein eigenbrötlerischer Journalist, Übersetzer und Cannabis-Liebhaber, am Donauufer entlang. Wie jeden Sonntag, ob bei Sturm oder Schnee. Gerade jedoch geht nicht einmal ein kühler Wind, die Wolken türmen sich, die Sonne schaut durch. Zu mehr als gewöhnlicher Unzufriedenheit besteht kein Anlass. Da, als der Mann den Apfel anbeißt, den er von zuhause mitgebracht hat, beobachtet er ein Paar, das am Kai steht. Plötzlich gibt der Mann der Frau ohne jede Ankündigung eine Ohrfeige. Der Schlag scheint leicht, „das Mädchen geriet dennoch ins Taumeln”, sie tappt mit dem Fuß ins Wasser. Der Mann holt noch einmal aus, geht dann jedoch weg. „Man sah deutlich, wie der Fluss ihre Fessel umspülte, wie sich der Strumpf mit Wasser voll saugte, wie ihr Fuß im Schlamm versank.”
Am Ufer der Donau, auf der „anderen” Seite des Flusses liegt an dieser Stelle Zemun, Belgrads Judenviertel, seit die Serben der Toleranz der osmanischen Herrscher ein Ende setzten. Doch Reste dieser Toleranz überleben noch heute, und wenn es etwas gab, was im Balkankrieg für Belgrad sprach, dann war das die Geschichte, die damalige Unempfänglichkeit für faschistische Ideologie, das damit verbundene Bombardement Belgrads durch die Deutschen, das sich nicht wiederholen sollte, usw.
David Albahari, schon lange im kanadischen Calgary lebend, stammt aus Zemun. Seine Mutter, eine Serbin, hatte den Vater, einen praktizierenden Juden, nach dem Krieg geheiratet und war übergetreten. In nahezu allen seinen Büchern hat ihr 1948 geborener Sohn auf unterschiedliche Weise an die Geschichte der Juden in Jugoslawien erinnert. Etwa in dem schmalen Roman „Götz und Meyer”, in dem er das Leben zweier gewöhnlicher SS-Angehöriger verfolgt.
Diesmal etwas ganz anderes. Denn über die Beobachtung der Ohrfeige, die er für „ungerecht” hält, gerät der Ich-Erzähler in eine Geschichte, die immer unangenehmer wird, weil sie mit dem wenig bekannten, ungern akzeptierten Belgrader Antisemitismus zu tun hat, der sich während des Balkankriegs entwickelte. Nach banalem, wirksamem Muster. Wer führte die Weltverschwörung gegen das kleine, mehr oder weniger mutige serbische Volk an? Natürlich.
Innere Emigration ist in Deutschland als Terminus nicht mehr beliebt, weil nach dem Zweiten Weltkrieg plötzlich alle dagegen gewesen waren, aber an der Möglichkeit der dadurch bezeichneten Lebensform besteht kein Zweifel. Albaharis Buch ist eine großangelegte Darstellung dieser Lebensform an einem aktuellen Beispiel, das minutiöse Porträt einer Emigration nach ins Innere. Der Ich-Erzähler ist gegen Milosevic, er hält das Regime, das sich demokratisch nennt, für eine Diktatur, aber bislang hat er den Rückzug gewählt, hat sich mit wohlriechenden Dämpfen benebelt, Musik gehört, die ihm immer gefallen hat, Tai Chi probiert und dem Herzen nur im Gespräch mit Freund Marko Luft gemacht.
Albahari selbst ist 1994, kurz vor dem eigentlichen Krieg, nach Kanada ausgewandert. In einem Interview hat er einmal erzählt, dass er nie einen Graben zwischen sich und seiner serbischen Umgebung gespürt habe. „Für mich persönlich war Jugoslawien ein einziges Land, und ich habe es geliebt.” Doch weil die Familie ihre Wohnung in Zemun behielt und Albahari, nebenbei immerhin ehemaliger Vorsitzender der Jüdischen Gemeinde Jugoslawiens, bis heute auch dort lebt und schreibt, hat er den doppelten, den Innen- und Außenblick.
In „Die Ohrfeige” deutet er das über die flüchtige Begegnung des Ich-Erzählers mit einem Schulkameraden an, der jetzt eine dunkle Brille trägt und erzählt, wie es in Edmonton sei. Der Ich-Erzähler hat keine Ahnung, wo das liegt, der „kanadische” Schnösel verschwindet schon wieder . . . Wenn man will, kann man „Die Ohrfeige” also als Porträt der vermuteten Innenansicht eines alten Bekannten lesen, der im Buch mit seiner Kolumne für die Wochenzeitschrift „Minut” in Schwierigkeiten gerät. Die „Ungerechtigkeit” des Zufallszeichens Ohrfeige hat den in sich Versunkenen geweckt. Er exponiert sich zunehmend, fordert Zivilcourage, ist kein Jude, aber schreibt gegen Antisemitismus.
Doch der Weg in die Außenwelt ist hier keine Einbahnstraße, sondern voller verschlungener Zeichen, die die Frau mit Ohrfeige, der der Ich-Erzähler eine Weile lang gefolgt ist, hinterlassen hat, als sie verschwand. Der Ich-Erzähler wendet sich zwecks Interpretation von Dreiecken an einen alten Bekannten, der Mathematiker geworden ist und bemerkt in der Zeitung eine Kleinanzeige, die seine innere Unruhe seit dem Vorfall zu verspotten scheint: „Ein Ohrfeige verändert manchmal den ganzen Kosmos”, steht da, dann nur noch: „Chiffre: Handfläche.” Über einen Kreis älterer Juden macht der Ich-Erzähler Bekanntschaft mit der Kabbala, findet die Frau und muss sich fragen, ob das alles nur für ihn organisiert worden ist.
David Albahari, das war schon bei „Tagelanger Schneefall”, dem vor Jahren ersten ins Deutsche übersetzten Buch zu sehen, ist kein Erzähler, der im Schlafwagen ans versöhnende Ziel führt. Immer wieder treibt er sein Spiel. Etwa in jenem schön verschnörkelten, schwindlig machenden Satz, der das Erzählprinzip des Romans verdeutlicht und davon berichtet, dass die Ohrfeige das Leben des Ich-Erzählers wirklich verändert habe, was er nicht bedauere, „sondern lediglich als eine Tatsache erwähne, vor allem weil ich fühle, dass in einer Erzählung, in der man gerade solche Tatsachen vermisst, die wir gewöhnt sind, ich meine Tatsachen, die uns von Zweifeln befreien, und nicht solche, die Zweifel fördern, jede Tatsache willkommen ist.”
Natürlich ist auch die Aussage, das eigene Leben habe sich verändert, keine leicht zu verifizierende Tatsache. Denn mit jeder Tatsache wächst hier der Zweifel, und hinter jedem Zweifel lauert, vielleicht, eine Tatsache. Wichtig für das Erzählverfahren Albaharis ist dabei vor allem die Balance zwischen Vagheit und Konkretem, zwischen den Zweifeln und Tatsachen, die er sät, eine Mischung aus deutlich wiedererkennbarer Politik und Kabbala. Man merkt, es geht hier um etwas, das weit über Buchseiten hinausreicht, und trotzdem Kilometer von Parolen entfernt bleibt.
Hier wird Unsicherheit nicht bloß gemimt. Vielmehr wird hier die Unsicherheit des Einzelnen angesichts seiner Zeit in ein virtuoses Mäandern überführt, das präzise benennt und zugleich in einen Sog zieht, der mehr mit Lobo Antunes’ Epen von Portugals Niedergang zu tun hat als mit spielerischeren Autoren wie Javier Marías oder Jan Kjaerstad.
Albahari hat einmal gesagt, er fühle sich auf gewisse Weise als traditioneller Erzähler, der, wie Faulkner letztlich nur „am menschlichen Herzen” interessiert sei. Man könnte hinzufügen: an dessen Reaktionsweisen auf die es umgebende Welt. Diesmal ist der Ich-Erzähler selbst das Studienobjekt, ebenso unzuverlässig wie schillernd. Er ist ein im klassischen Sinne unfertiger Mensch in der Krise, im wesentlichen allein, leicht beeinflussbar, aber auch störrisch. Wenn er einmal etwas gefunden hat, bleibt er dabei, gibt seine weltverbesserischen Aktivitäten auch nicht auf, als er immer wieder mit antisemitischen Parolen dekorierte Scheißhaufen vor der Tür findet und zunehmend in die Enge getrieben wird. Er hat in den Apfel des Zuschauers der Ungerechtigkeit gebissen und geht als eigenwilliger serbischer Erbe von Kleists Michael Kohlhaas seinen Weg bis zu einem überraschend sanften Ende.
David Albahari
Die Ohrfeige
Roman. Aus dem Serbischen von Mirjana und Klaus Wittmann. Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007. 367 Seiten, 22,95 Euro.
Wie in eine Kathedrale blickt die Kamera in diesen portugiesischen Steinbruch hinein. Auf der iberischen Halbinsel haben schon die Phönizier und die Römer ihren Marmor gebrochen, später verzierten die Araber ihre Moscheen, die Spanier ihre Kirchen mit dem dekorativen Stein. Der Rohstoffverbrauch von Jahrhunderten manifestiert sich in den gigantischen Löchern, die der kanadische Fotograf Edward Burtynsky über 15 Jahre hinweg, von 1991 bis 2006, in Indien, China, Spanien, Portugal, Italien und Nordamerika fotografiert hat. Der Steidl Verlag hat seinen verführerisch eleganten, großformatigen Aufnahmen von Steinbrüchen nun einen ebenso prächtigen Bildband gewidmet (Quarries. Mit Essays von Michael Mitchell. Göttingen, 2007. 192 Seiten, 60 Euro). Manche der dort abgebildeten Löcher wirken wie Schablonen der Schlösser, Kirchen und Städte, die mit den dort herausgehauenen Steinen erbaut wurden. Irritierend schön sind diese Fotografien, die doch so offenkundig Zerstörung, Ausbeutung der Natur dokumentieren. Die Farben der Steine, die Schattierungen von Grau und Braun, sind delikat; und Kabel und Leitern bilden mit den Bruchstellen der herausgehauenen Quader raffinierte grafische Strukturen. knb
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ein großes Meisterwerk annonciert der Rezensent Andreas Breitenstein. Spätestens mit diesem jüngsten Roman sei der 1994 aus Serbien nach Kanada exilierte Schriftsteller David Albahari endgültig unter den ganz Großen der Gegenwartsliteratur angekommen. Den Schilderungen des Rezensenten ist zu entnehmen, dass die Geschichte des Romans nicht nur überaus kompliziert ist, sondern dass einem der unzuverlässige Ich-Erzähler die Entscheidung, was darin Realität ist, was Halluzination, oftmals unmöglich macht. Alles beginnt mit der titelgebenden "Ohrfeige" auf offener Straße in Belgrad, deren Zeuge der Ich-Erzähler (er hat keinen Namen) wird. Eine Zeitungsannonce und weitere als Zeichen lesbare Vorkommnisse nähren den Verdacht, diese Ohrfeige sei extra für ihn inszeniert. Ein Manuskript kommt ins Spiel, es geht um Kabbalismus, serbischen Antisemitismus, "Seelenwanderung, Sphärenmusik, Zahlenmagie". All das aber verstehe der Autor, so der Rezensent, schillernd und uneindeutig zu einem Werk zu komponieren, in dem die Motive einander spiegeln und überlagern, sich der eindeutigen Auflösung widersetzen. Die Nähe zum Paradox rücke Albaharis Schreiben in die Nähe Kafkas, meint Breitenstein, der dieses Urteil offenkundig sehr ernst meint. Schließlich handelt es sich seiner Überzeugung nach um einen "unfassbar großen, unheimlich komplexen Roman".

© Perlentaucher Medien GmbH
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