Kai Strittmatter
Broschiertes Buch
Die Neuerfindung der Diktatur
Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert
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China ist Boomland, längst einer der Motoren der Weltwirtschaft. Innenpolitisch blieb das Land dabei immer autoritär, außenpolitisch zurückhaltend. Doch unter Xi Jinping, dem mächtigsten Staats- und Parteichef seit Mao, erfindet sich der autoritäre Staat neu, in offener Konkurrenz zum Westen. China marschiert nun selbstbewusst in die Welt, gleichzeitig gewährt sich sein System ein Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts: Peking setzt auf Big Data und künstliche Intelligenz wie keine zweite Regierung. Die Partei glaubt, den perfektesten Überwachungsstaat schaffen zu können, d...
China ist Boomland, längst einer der Motoren der Weltwirtschaft. Innenpolitisch blieb das Land dabei immer autoritär, außenpolitisch zurückhaltend. Doch unter Xi Jinping, dem mächtigsten Staats- und Parteichef seit Mao, erfindet sich der autoritäre Staat neu, in offener Konkurrenz zum Westen. China marschiert nun selbstbewusst in die Welt, gleichzeitig gewährt sich sein System ein Update mit den Instrumenten des 21. Jahrhunderts: Peking setzt auf Big Data und künstliche Intelligenz wie keine zweite Regierung. Die Partei glaubt, den perfektesten Überwachungsstaat schaffen zu können, den die Erde je gesehen hat. Das Ziel ist die Kontrolle der KP über alle und alles. Kai Strittmatter beschreibt die Mechanismen der Diktatur, er zeigt, wie Xi Jinping China umbaut und was diese Entwicklung für uns bedeutet.
»Beeindruckend - die bislang anschaulichste und sachkundigste Darstellung von Chinas Wandel hin zum digitalen Totalitarismus.«
The Observer
»Beeindruckend - die bislang anschaulichste und sachkundigste Darstellung von Chinas Wandel hin zum digitalen Totalitarismus.«
The Observer
Strittmatter, KaiKai Strittmatter, Jahrgang 1965, studierte Sinologie in München, Xi'an (Volksrepublik China) und Taipei (Taiwan). Für die »Süddeutsche Zeitung« war er ab 1997 acht Jahre lang Korrespondent in Peking. Von 2005 bis 2012 berichtete er für die SZ von Istanbul aus über die Türkei und Griechenland, von 2012 bis 2018 war er wieder deren Korrespondent in Peking. Er gilt als einer der besten China-Kenner Deutschlands. Inzwischen ist er Skandinavien-Korrespondent für die Zeitung. Kai Strittmatter lebt mit seiner Familie in Kopenhagen, Dänemark. Bei Piper sind von ihm außerdem »Gebrauchsanweisung für Istanbul«, »Die Neuerfindung der Diktatur« und zuletzt »Chinas neue Macht« erschienen.
Produktdetails
- Piper Taschenbuch 31629
- Verlag: Piper
- 3. Aufl.
- Seitenzahl: 336
- Erscheinungstermin: 2. Juni 2020
- Deutsch
- Abmessung: 188mm x 121mm x 30mm
- Gewicht: 316g
- ISBN-13: 9783492316293
- ISBN-10: 3492316298
- Artikelnr.: 57938084
Herstellerkennzeichnung
Piper Verlag GmbH
Georgenstr. 4
80799 München
info@piper.de
»(...) (Strittmatter) bietet dem Leser tiefe Einblicke in die Geschichte der chinesischen Überwachung.« (CH) Neue Zürcher Zeitung 20190228
Wie man gegen die Schwerkraft regiert
Frank Sieren und Kai Strittmatter, zwei Kenner des Reiches der Mitte, liefern mit ihren Büchern erstaunlich unterschiedliche Zustandsbeschreibungen. Eines von beiden lohnt die Lektüre.
Zur Abwechslung von all den Destruktionsszenarien, von denen man im elysiumähnlichen Deutschland umgeben ist, bietet China das schaurig-schöne Bild eines konstruktiven Brutalismus. Das Land wird reicher, mächtiger und selbstbewusster. Es schafft sich in Asien und Afrika eine riesige Interessensphäre und erweitert seinen Einfluss bis nach Osteuropa, Lateinamerika und Australien. In mehreren Technologiebereichen greift es nach globaler Führerschaft. Nordamerikanischem Druck scheint es zu trotzen,
Frank Sieren und Kai Strittmatter, zwei Kenner des Reiches der Mitte, liefern mit ihren Büchern erstaunlich unterschiedliche Zustandsbeschreibungen. Eines von beiden lohnt die Lektüre.
Zur Abwechslung von all den Destruktionsszenarien, von denen man im elysiumähnlichen Deutschland umgeben ist, bietet China das schaurig-schöne Bild eines konstruktiven Brutalismus. Das Land wird reicher, mächtiger und selbstbewusster. Es schafft sich in Asien und Afrika eine riesige Interessensphäre und erweitert seinen Einfluss bis nach Osteuropa, Lateinamerika und Australien. In mehreren Technologiebereichen greift es nach globaler Führerschaft. Nordamerikanischem Druck scheint es zu trotzen,
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liberale Werte erklärt es ungerührt für irrelevant.
Obwohl er China als Korrespondent seit langer Zeit beobachtet, weiß Frank Sieren nicht so recht, was er von alldem halten soll. Sein Buch, in dem er, leider ohne einen einzigen Quellenbeleg, die medienbekannten Erfolgsmeldungen über Chinas Aufstieg noch einmal zusammenstellt, ist so wirr und widersprüchlich, dass man dem Autor (und seinen Lesern) auf dem Eilmarsch zur Druckerpresse eine Denkpause gewünscht hätte. Unterm Strich zeigt sich Sieren aber doch eher beeindruckt als skeptisch. In einer Gesellschaft von 1, 4 Milliarden Menschen fehlt es nicht an Problemen. Doch keine Sorge: "Peking ist sich all dieser Herausforderungen bewusst. Und geht sie mit einer Entschlossenheit und Konsequenz an, wie das nur in einem so autoritär ausgerichteten System möglich ist."
Alles ruhe in der festen Hand des Staatspräsidenten Xi Jinping, der die Kunst beherrsche, "kontrolliert Druck aus dem Kessel abzulassen", und, wie angeblich die Chinesen überhaupt, "hundert Jahre im Voraus" plane. Manche "rechtlosen Schleifspuren" von Xis resolutem Tun mögen, wie Sieren einräumt, zartbesaiteten Westlern Unbehagen bereiten. Selbstverständlich hat er nichts gegen "westliche Werte". Aber sie sind für ihn offenbar ein sentimentales Privatvergnügen.
Mit welchem Recht, fragt er im Ton eines demographisch quantifizierten Kulturrelativismus, kann eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung (zu der nicht einmal der amerikanische Präsident und seine dreiundsechzig Millionen Wähler gehören) der Mehrheit ihre eigenen Vorstellungen als universal gültig aufdrängen? Wo immer der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas auftritt, hat er die Legitimation der 1,4 Milliarden hinter sich. Dass sie ihn nicht gewählt haben, stört den chinabewegten Sieren nicht. Die verfolgten Menschenrechtsanwälte sind selber schuld. "Kaum jemand in China sehnt sich nach einem Umsturz."
Die Fassungslosigkeit, die Frank Sieren suggeriert, ist die über "unsere" - deutsche, europäische, westliche - Blindheit angesichts der blanken Tatsache, dass "wir" uns an China anpassen müssen, ob man es nun als "Gefahr" oder als "Chance" - da legt sich Sieren nicht fest - begreift. Neben einen solchen Schicksalsopportunismus stellt Kai Strittmatters Buch eine andere Art von Fassungslosigkeit: das blanke Entsetzen darüber, was in China selbst geschieht. Der langjährige Pekinger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" verlässt sich nicht auf seinen reichen Schatz an Impressionen und begnügt sich nicht mit einem forsch hingeworfenen Meinungsbeitrag in Buchlänge. Gründliche Quellenrecherchen machen seine prägnanten Schlussfolgerungen umso eindringlicher.
Auch Strittmatter beobachtet nicht aus interesseloser Distanz, wie im Zeitraffer eine Supermacht entsteht. Auch er fragt danach, was die Entwicklung Chinas für uns bedeutet. Aber er sorgt sich nicht vorrangig um den Absatzmarkt der deutschen Autoindustrie oder um parasitäre Technologieabschöpfung. Eines seiner Kapitel warnt vor der besonderen Art von aggressiver Soft Power, mit der die Volksrepublik in aller Welt Meinungsführer für sich gewinnt und Kritiker kaltstellt. Wer in Konfuzius-Instituten die harmlosen Verwandten der in der Tat liebenswerten Goethe-Institute vermutet, täuscht sich.
Viel beunruhigender jedoch sind die digitalen Überwachungsnetze, mit denen das Regime das ganze Land überzieht. Weder durch das Recht und eine unabhängige Justiz noch durch einen moralischen Respekt vor der Restwürde des Individuums daran gehindert, setzt der Staat Überwachungskameras, elektronische Bezahlsysteme, eine zunehmend digitalisierte Verwaltung und eine höchst erfolgreiche Internetzensur ein, um Fügsamkeit und Konformität zu erreichen.
Was Mao Tse-tung noch mit massenhafter Gewalt erzwingen musste, besorgen mehr und mehr die Smartphones, die bereits in die entlegensten Dörfer vorgedrungen sind. Die berüchtigte "Gehirnwäsche" der Mao-Zeit ist nicht mehr nötig, sobald digitale Datenakkumulation und eine technisch versierte Propaganda die Köpfe subtiler zu steuern vermögen und digitale Sündenregister, derzeit noch in regionaler Piloterprobung, die gesamte Bevölkerung disziplinieren.
An den Grenzen solcher Subtilität kümmern sich die bewährten Zwangsorgane um die Widerspenstigen und Unbelehrbaren. Auch nachdem die Staatssicherheit nicht länger in Papierbergen und Abhörbändern erstickt, bleibt die physisch zugreifende Polizei unentbehrlich. Die Übergänge sind elastisch. Wer bei der elektronischen Gesichtserkennung unangenehm auffällt, kann von Auslandsreisen ausgeschlossen werden, aber auch im Gefängnis oder Straflager landen. 99,9 Prozent aller Gerichtsverfahren enden mit der Verurteilung der Angeklagten. Revision unmöglich.
Kai Strittmatter ist kein Voyeur ausgefeilter Techno-Grausamkeiten. Hinter seiner Beschreibung einer Kombination von Psychomanipulation und Konsumchloroformierung - George Orwell und Aldous Huxley dystopisch vereint - verbirgt sich das Bild einer Gesellschaft ohne Grundvertrauen, moralische Selbstverständlichkeiten und halbwegs verlässliche Sicherheiten. Aus der Vergangenheit kann sie nichts lernen, da der Horror der großen Hungersnot um 1960 und der Kulturrevolution systematisch beschwiegen wird. Auch die Volksproteste von 1989 und ihre Unterdrückung fallen dem gewollten Vergessen anheim. Trotz allem: Strittmatter prophezeit keinen Kollaps der Parteidiktatur und keine soziale Implosion. Die KPCh hat es gelernt, wie er formuliert, "gegen die Schwerkraft" zu regieren, prosaischer: gegen die Liberalisierungserwartungen der westlichen Sozialwissenschaft.
Xi Jinping und sein Apparat sind dabei, "den perfektesten Überwachungsstaat aufzubauen, den die Welt je gesehen hat". Pech für die Chinesen. Das wäre indes zu kurz gedacht. Es ist nämlich nicht viel unausweichlich Chinesisches an dieser Brave New World; Strittmatter nennt als Gegenprobe immer wieder das zivilisiert-demokratische Taiwan. Und sie bedarf auch keiner angestrengten ideologischen Untermauerung wie in den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts; vermutlich nimmt nicht einmal sein Urheber das neuerdings kanonisierte "Xi Jinping-Denken" ernst. China ist potentiell überall. Künstliche Intelligenz muss nur in die Hände einer hemmungslosen natürlichen Intelligenz fallen. Das ist der dunkelste Abgrund, in den Kai Strittmatter uns blicken lässt. Deshalb sollten sich auch diejenigen für dieses Buch interessieren, denen China sonst egal ist.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Frank Sieren: "Zukunft? China!" Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert.
Penguin Verlag,
München 2018.
365 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Kai Strittmatter: "Die Neuerfindung der Diktatur". Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert.
Piper Verlag, München 2018. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Obwohl er China als Korrespondent seit langer Zeit beobachtet, weiß Frank Sieren nicht so recht, was er von alldem halten soll. Sein Buch, in dem er, leider ohne einen einzigen Quellenbeleg, die medienbekannten Erfolgsmeldungen über Chinas Aufstieg noch einmal zusammenstellt, ist so wirr und widersprüchlich, dass man dem Autor (und seinen Lesern) auf dem Eilmarsch zur Druckerpresse eine Denkpause gewünscht hätte. Unterm Strich zeigt sich Sieren aber doch eher beeindruckt als skeptisch. In einer Gesellschaft von 1, 4 Milliarden Menschen fehlt es nicht an Problemen. Doch keine Sorge: "Peking ist sich all dieser Herausforderungen bewusst. Und geht sie mit einer Entschlossenheit und Konsequenz an, wie das nur in einem so autoritär ausgerichteten System möglich ist."
Alles ruhe in der festen Hand des Staatspräsidenten Xi Jinping, der die Kunst beherrsche, "kontrolliert Druck aus dem Kessel abzulassen", und, wie angeblich die Chinesen überhaupt, "hundert Jahre im Voraus" plane. Manche "rechtlosen Schleifspuren" von Xis resolutem Tun mögen, wie Sieren einräumt, zartbesaiteten Westlern Unbehagen bereiten. Selbstverständlich hat er nichts gegen "westliche Werte". Aber sie sind für ihn offenbar ein sentimentales Privatvergnügen.
Mit welchem Recht, fragt er im Ton eines demographisch quantifizierten Kulturrelativismus, kann eine kleine Minderheit der Weltbevölkerung (zu der nicht einmal der amerikanische Präsident und seine dreiundsechzig Millionen Wähler gehören) der Mehrheit ihre eigenen Vorstellungen als universal gültig aufdrängen? Wo immer der Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas auftritt, hat er die Legitimation der 1,4 Milliarden hinter sich. Dass sie ihn nicht gewählt haben, stört den chinabewegten Sieren nicht. Die verfolgten Menschenrechtsanwälte sind selber schuld. "Kaum jemand in China sehnt sich nach einem Umsturz."
Die Fassungslosigkeit, die Frank Sieren suggeriert, ist die über "unsere" - deutsche, europäische, westliche - Blindheit angesichts der blanken Tatsache, dass "wir" uns an China anpassen müssen, ob man es nun als "Gefahr" oder als "Chance" - da legt sich Sieren nicht fest - begreift. Neben einen solchen Schicksalsopportunismus stellt Kai Strittmatters Buch eine andere Art von Fassungslosigkeit: das blanke Entsetzen darüber, was in China selbst geschieht. Der langjährige Pekinger Korrespondent der "Süddeutschen Zeitung" verlässt sich nicht auf seinen reichen Schatz an Impressionen und begnügt sich nicht mit einem forsch hingeworfenen Meinungsbeitrag in Buchlänge. Gründliche Quellenrecherchen machen seine prägnanten Schlussfolgerungen umso eindringlicher.
Auch Strittmatter beobachtet nicht aus interesseloser Distanz, wie im Zeitraffer eine Supermacht entsteht. Auch er fragt danach, was die Entwicklung Chinas für uns bedeutet. Aber er sorgt sich nicht vorrangig um den Absatzmarkt der deutschen Autoindustrie oder um parasitäre Technologieabschöpfung. Eines seiner Kapitel warnt vor der besonderen Art von aggressiver Soft Power, mit der die Volksrepublik in aller Welt Meinungsführer für sich gewinnt und Kritiker kaltstellt. Wer in Konfuzius-Instituten die harmlosen Verwandten der in der Tat liebenswerten Goethe-Institute vermutet, täuscht sich.
Viel beunruhigender jedoch sind die digitalen Überwachungsnetze, mit denen das Regime das ganze Land überzieht. Weder durch das Recht und eine unabhängige Justiz noch durch einen moralischen Respekt vor der Restwürde des Individuums daran gehindert, setzt der Staat Überwachungskameras, elektronische Bezahlsysteme, eine zunehmend digitalisierte Verwaltung und eine höchst erfolgreiche Internetzensur ein, um Fügsamkeit und Konformität zu erreichen.
Was Mao Tse-tung noch mit massenhafter Gewalt erzwingen musste, besorgen mehr und mehr die Smartphones, die bereits in die entlegensten Dörfer vorgedrungen sind. Die berüchtigte "Gehirnwäsche" der Mao-Zeit ist nicht mehr nötig, sobald digitale Datenakkumulation und eine technisch versierte Propaganda die Köpfe subtiler zu steuern vermögen und digitale Sündenregister, derzeit noch in regionaler Piloterprobung, die gesamte Bevölkerung disziplinieren.
An den Grenzen solcher Subtilität kümmern sich die bewährten Zwangsorgane um die Widerspenstigen und Unbelehrbaren. Auch nachdem die Staatssicherheit nicht länger in Papierbergen und Abhörbändern erstickt, bleibt die physisch zugreifende Polizei unentbehrlich. Die Übergänge sind elastisch. Wer bei der elektronischen Gesichtserkennung unangenehm auffällt, kann von Auslandsreisen ausgeschlossen werden, aber auch im Gefängnis oder Straflager landen. 99,9 Prozent aller Gerichtsverfahren enden mit der Verurteilung der Angeklagten. Revision unmöglich.
Kai Strittmatter ist kein Voyeur ausgefeilter Techno-Grausamkeiten. Hinter seiner Beschreibung einer Kombination von Psychomanipulation und Konsumchloroformierung - George Orwell und Aldous Huxley dystopisch vereint - verbirgt sich das Bild einer Gesellschaft ohne Grundvertrauen, moralische Selbstverständlichkeiten und halbwegs verlässliche Sicherheiten. Aus der Vergangenheit kann sie nichts lernen, da der Horror der großen Hungersnot um 1960 und der Kulturrevolution systematisch beschwiegen wird. Auch die Volksproteste von 1989 und ihre Unterdrückung fallen dem gewollten Vergessen anheim. Trotz allem: Strittmatter prophezeit keinen Kollaps der Parteidiktatur und keine soziale Implosion. Die KPCh hat es gelernt, wie er formuliert, "gegen die Schwerkraft" zu regieren, prosaischer: gegen die Liberalisierungserwartungen der westlichen Sozialwissenschaft.
Xi Jinping und sein Apparat sind dabei, "den perfektesten Überwachungsstaat aufzubauen, den die Welt je gesehen hat". Pech für die Chinesen. Das wäre indes zu kurz gedacht. Es ist nämlich nicht viel unausweichlich Chinesisches an dieser Brave New World; Strittmatter nennt als Gegenprobe immer wieder das zivilisiert-demokratische Taiwan. Und sie bedarf auch keiner angestrengten ideologischen Untermauerung wie in den Totalitarismen des zwanzigsten Jahrhunderts; vermutlich nimmt nicht einmal sein Urheber das neuerdings kanonisierte "Xi Jinping-Denken" ernst. China ist potentiell überall. Künstliche Intelligenz muss nur in die Hände einer hemmungslosen natürlichen Intelligenz fallen. Das ist der dunkelste Abgrund, in den Kai Strittmatter uns blicken lässt. Deshalb sollten sich auch diejenigen für dieses Buch interessieren, denen China sonst egal ist.
JÜRGEN OSTERHAMMEL
Frank Sieren: "Zukunft? China!" Wie die neue Supermacht unser Leben, unsere Politik, unsere Wirtschaft verändert.
Penguin Verlag,
München 2018.
365 S., Abb., geb., 22,- [Euro].
Kai Strittmatter: "Die Neuerfindung der Diktatur". Wie China den digitalen Überwachungsstaat aufbaut und uns damit herausfordert.
Piper Verlag, München 2018. 288 S., geb., 22,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Ich hatte eingangs gar nicht beabsichtigt eine Rezension des Buches zu schreiben, möchte nun aber doch - vor allem aufgrund der wirklich beeindruckend guten Analyse des chinesischen Status Quo - einen Kommentar hinterlassen.
Strittmatter beschreibt in seinem Werk das, was der Titel bereits …
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Ich hatte eingangs gar nicht beabsichtigt eine Rezension des Buches zu schreiben, möchte nun aber doch - vor allem aufgrund der wirklich beeindruckend guten Analyse des chinesischen Status Quo - einen Kommentar hinterlassen.
Strittmatter beschreibt in seinem Werk das, was der Titel bereits vorwegnimmt, nämlich wie ein Land den technologischen Fortschritt nutzt, um seinen Menschen mehr und mehr ihre Freiheit zu nehmen und sie gemäß des Weltbildes des Regimes umzuerziehen.
Kapitel, die mich besonders beeindruckt haben, waren: "Der Stift - Wie Propaganda funktioniert", "Das Blatt Papier - Warum das Volk vergessen muss", "Das Auge - Wie die Partei ihrer Herrschaft mit künstlicher Intelligenz ein Update verpasst", "Der neue Mensch - Wie Big Data und ein soziales Bonitätssystem den braven Untertanen gebären sollen" sowie "Der Untertan - Wie die Diktatur die Seelen verkrümmt". Die Stärke von Strittmatter besteht bei all diesen Aspekten nicht nur darin, dass er diesen digitalen Totalitarismus dokumentiert, sondern vor allem in der Verallgemeinerung seiner Strukturen. Man sieht bei der Lektüre also nicht nur eine chinesische Diktatur vor sich, sondern lernt, Diktaturen und Totalitarismen generell zu erkennen.
Ganz besonders bewegt hat mich das Letzte hier genannte Kapitel, in dem das chinesische Festland mit Taiwan verglichen wird. Während man in Ersterem eine vom Regime genährte Ellenbogengesellschaft vorfindet, in der eine Vielzahl von Bürgern den moralischen Verfall erkennt und beklagt, scheint es gerade das liberale Taiwan zu sein, dass eine wirklich authentische Zivilgesellschaft, ein harmonisches und lebenswertes Zusammenleben hervorgebracht hat. Ziele wohlgemerkt, die die KP vorgibt anzustreben, jedoch unter der Oberfläche sabotiert und zerstört.
Bei dieser wirklich hervorragenden Problemanalyse empfand ich es als sehr schade, dass Strittmatters Schlussfolgerungen so konformistisch und elitentreu ausfallen. Er spricht unentwegt von einem neuen "Wettstreit der Systeme" und bereitet so den Boden für seinen späteren Lösungsansatz: eine weitere Zentralisierung von politischer Macht innerhalb Europas. In dieser falschen Dichotomie von EU vs Nationalstaat vergiftet er den Brunnen bereits frühzeitig, indem er klassisch-liberale, dezentrale Lösungen mit asozialem Sozialdarwinismus gleichsetzt. Dabei scheinen die Auswege aus unserem aktuellen Dilemma doch so eindeutig: Wenn ein allumfassender Staat, dessen herrschende Eliten uns im Sinne ihres Weltbildes umerziehen und uns in diesem Prozess unsere Freiheit nehmen wollen, ein System ist, das wir ablehnen, dann lasst uns doch unbeirrt in die entgegengesetzte Richtung laufen. Lasst uns erkennen, dass ein kollektivistisch-autoritäres System wie das Chinas die Nächstenliebe an den Staat auslagert und gerade so dafür sorgt, dass diese aus den Herzen der Menschen verschwindet. Lasst uns aus dem taiwanischen Experiment lernen, dass eine lebenswerte Gesellschaft nicht dadurch erreicht wird, dass man immer mehr Macht in den Händen einiger Bürokraten zentralisiert, sondern man ihr näher kommt, wenn man den Menschen ihre Freiheit lässt.
Sollten wir es nicht schaffen diese alten europäischen Ideale von Individualismus und klassischem Liberalismus wiederzubeleben, fürchte ich, dass diese chinesischen Strukturen bald auch zu uns kommen werden.
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