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Erik Blair

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Bewertung vom 24.10.2020
Die Neuerfindung der Diktatur
Strittmatter, Kai

Die Neuerfindung der Diktatur


sehr gut

Ich hatte eingangs gar nicht beabsichtigt eine Rezension des Buches zu schreiben, möchte nun aber doch - vor allem aufgrund der wirklich beeindruckend guten Analyse des chinesischen Status Quo - einen Kommentar hinterlassen.

Strittmatter beschreibt in seinem Werk das, was der Titel bereits vorwegnimmt, nämlich wie ein Land den technologischen Fortschritt nutzt, um seinen Menschen mehr und mehr ihre Freiheit zu nehmen und sie gemäß des Weltbildes des Regimes umzuerziehen.

Kapitel, die mich besonders beeindruckt haben, waren: "Der Stift - Wie Propaganda funktioniert", "Das Blatt Papier - Warum das Volk vergessen muss", "Das Auge - Wie die Partei ihrer Herrschaft mit künstlicher Intelligenz ein Update verpasst", "Der neue Mensch - Wie Big Data und ein soziales Bonitätssystem den braven Untertanen gebären sollen" sowie "Der Untertan - Wie die Diktatur die Seelen verkrümmt". Die Stärke von Strittmatter besteht bei all diesen Aspekten nicht nur darin, dass er diesen digitalen Totalitarismus dokumentiert, sondern vor allem in der Verallgemeinerung seiner Strukturen. Man sieht bei der Lektüre also nicht nur eine chinesische Diktatur vor sich, sondern lernt, Diktaturen und Totalitarismen generell zu erkennen.

Ganz besonders bewegt hat mich das Letzte hier genannte Kapitel, in dem das chinesische Festland mit Taiwan verglichen wird. Während man in Ersterem eine vom Regime genährte Ellenbogengesellschaft vorfindet, in der eine Vielzahl von Bürgern den moralischen Verfall erkennt und beklagt, scheint es gerade das liberale Taiwan zu sein, dass eine wirklich authentische Zivilgesellschaft, ein harmonisches und lebenswertes Zusammenleben hervorgebracht hat. Ziele wohlgemerkt, die die KP vorgibt anzustreben, jedoch unter der Oberfläche sabotiert und zerstört.

Bei dieser wirklich hervorragenden Problemanalyse empfand ich es als sehr schade, dass Strittmatters Schlussfolgerungen so konformistisch und elitentreu ausfallen. Er spricht unentwegt von einem neuen "Wettstreit der Systeme" und bereitet so den Boden für seinen späteren Lösungsansatz: eine weitere Zentralisierung von politischer Macht innerhalb Europas. In dieser falschen Dichotomie von EU vs Nationalstaat vergiftet er den Brunnen bereits frühzeitig, indem er klassisch-liberale, dezentrale Lösungen mit asozialem Sozialdarwinismus gleichsetzt. Dabei scheinen die Auswege aus unserem aktuellen Dilemma doch so eindeutig: Wenn ein allumfassender Staat, dessen herrschende Eliten uns im Sinne ihres Weltbildes umerziehen und uns in diesem Prozess unsere Freiheit nehmen wollen, ein System ist, das wir ablehnen, dann lasst uns doch unbeirrt in die entgegengesetzte Richtung laufen. Lasst uns erkennen, dass ein kollektivistisch-autoritäres System wie das Chinas die Nächstenliebe an den Staat auslagert und gerade so dafür sorgt, dass diese aus den Herzen der Menschen verschwindet. Lasst uns aus dem taiwanischen Experiment lernen, dass eine lebenswerte Gesellschaft nicht dadurch erreicht wird, dass man immer mehr Macht in den Händen einiger Bürokraten zentralisiert, sondern man ihr näher kommt, wenn man den Menschen ihre Freiheit lässt.

Sollten wir es nicht schaffen diese alten europäischen Ideale von Individualismus und klassischem Liberalismus wiederzubeleben, fürchte ich, dass diese chinesischen Strukturen bald auch zu uns kommen werden.

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