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Die deutsche Geschichte von 1871 bis 1918 ist eine historische Periode voller Widersprüche und Paradoxien. Neben rückständigen, anachronistischen Elementen lassen sich moderne, entwicklungsfähige Züge entdecken. Gleichwohl zeigt sich, daß vieles, was im Nationalsozialismus schreckliche Wirklichkeit werden sollte, bereits in der wilhelminischen Ära angelegt war.

Produktbeschreibung
Die deutsche Geschichte von 1871 bis 1918 ist eine historische Periode voller Widersprüche und Paradoxien. Neben rückständigen, anachronistischen Elementen lassen sich moderne, entwicklungsfähige Züge entdecken. Gleichwohl zeigt sich, daß vieles, was im Nationalsozialismus schreckliche Wirklichkeit werden sollte, bereits in der wilhelminischen Ära angelegt war.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.10.1997

Kraftbewußtsein und Zukunftsangst
Zuviel Staatsgehorsam und zuwenig Ziviltugend / Volker Ullrichs Geschichte des Kaiserreichs

Volker Ullrich: Die nervöse Großmacht. Aufstieg und Untergang des deutschen Kaiserreichs 1871-1918. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1997. 715 Seiten, 68,- Mark.

Mit dem Zeitraum deutscher Geschichte zwischen 1871 und 1918, der die längste und stabilste Phase des 1945 zerstörten Bismarck-Reiches darstellt, haben sich die Historiker immer wieder beschäftigt. Herauszufinden suchten sie in diesem Zusammenhang nicht zuletzt, wie es zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges und warum es an seinem Ende zum Sturz der Hohenzollernmonarchie gekommen ist; wie die Republik von Weimar entstanden und warum sie so früh vergangen ist; wie Adolf Hitler aufzusteigen vermochte und warum sich das vollziehen konnte, was sich mit seinem Namen verbindet. Es ging also auch darum, in der Vergangenheit des Kaiserreichs Spuren der Zukunft zu finden, die einerseits auf den Parlamentarismus von Weimar und andererseits auf die Diktatur des Dritten Reiches verweisen. Beide Tendenzen, Parlamentarismus und Antiparlamentarismus, sind in jenen geschichtsmächtigen Dekaden zwischen der Reichsgründung im Jahre 1871 und dem Kriegsende im Jahre 1918 gleichsam aufgehoben.

Keineswegs darf darüber jedoch die historische Autonomie des deutschen Kaiserreichs geringgeschätzt werden, das im rückblickenden Urteil in zwei große Einheiten zerfällt: Das ist zum einen die Ära Bismarck, in der auf innenpolitischem Feld so viel Verdrossenheit anzutreffen war, weil die Nation zerrissen blieb, während auf außenpolitischem Terrain der Erfolg ganz unübersehbar war, weil der Frieden gewahrt werden konnte. Und das ist zum anderen das Wilhelminische Zeitalter, das in innenpolitischer Perspektive glücklicher dran war, weil die Einigung der Nation voranschritt, während die außenpolitische Entwicklung so katastrophal verlief, daß sie am Ende maßgeblich zum Ausbruch des großen Krieges beitrug.

Beiden Phasen des Kaiserreichs widmet Volker Ullrich seine Aufmerksamkeit, überprüft in kritischer Art und Weise vorwaltende Urteile der Geschichtswissenschaft, wie beispielsweise das über die Zäsur des Jahres 1890, und unterbreitet eine Darstellung, die Beachtung verdient: Es liegt ein gelungenes Buch vor, das sich auf eine außerordentlich gute Kenntnis der geschichtswissenschaftlichen Forschung gründet, das in literarischer Hinsicht anzusprechen versteht und das auf keiner Seite langweilig wird - obgleich der Verfasser ein Porträt der Epoche zeichnet, das von der großen Politik über Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur bis zum Alltag der Menschen alles Wichtige zu berücksichtigen versucht. Für solche Vollständigkeit zahlt der Leser nicht selten den Preis der Langeweile; in Ullrichs Werk ist er von diesem Obolus befreit. Das liegt nicht zuletzt daran, daß der Autor, der im übrigen einer differenzierten, teilweise ausgesprochen abgewogenen Urteilsbildung huldigt, sich nicht in theoretisierenden Erwägungen verliert. Vielmehr hält er, ungeachtet einer nicht zu verkennenden Pointiertheit seiner Thesen, durchweg gekonnt jeweils das sprechende, das erhellende, das nicht selten schlagende Zitat aus der Fülle des Materials parat.

Erzählend durchschreitet er die Geschichte des Kaiserreichs. Von der Gründung des neuen Nationalstaates und seinen inneren Problemen über die dilemmahaften Schwierigkeiten der äußeren Politik Bismarcks und das Ende seiner Ära gelangt er auf diesem Weg in das wilhelminische Deutschland. Dessen Entwicklung vom Agrar- zum Industriestaat wird ebenso eingehend betrachtet wie das unübersichtliche Regierungssystem, die verhängnisvolle Außenpolitik und der Kriegsausbruch 1914.

Außerordentlich einsichtsvolle Feststellungen gelingen dem Verfasser in einem den gesamten Zeitraum überbrückenden Kapitel, in dem die Gesellschaft des Kaiserreichs dargestellt wird, in dem es um soziale und gesellschaftliche Ordnung, um "Frauen in der Männergesellschaft", um Bildung, Wissenschaft und Kultur, um Universitäten und Hochschulen, um Nationalismus, Antisemitismus und Militarismus geht. Daß die Jahre des Ersten Weltkrieges überzeugen, verwundert den Kenner nicht, da Ullrich in diesem Zusammenhang bereits früher mit eigenen Forschungen hervorgetreten ist.

Wie lautet sein Befund? Auf allen Ebenen, im Politischen, im Gesellschaftlichen und im Kulturellen, existierte als "Hauptcharakteristikum" der Zeit ein "Neben-und Ineinander des scheinbar Unvereinbaren". Eben darin sieht der Verfasser den "Erklärungsschlüssel für die nervöse Reizbarkeit" des Zeitalters, die das "spezifische Merkmal von Politik und Mentalität", vor allem in der wilhelminischen Ära, ausmacht: "Neben einer überaus dynamischen, innovativen Industriewirtschaft", so faßt der Autor plausibel zusammen, "finden wir die monströse Spätblüte einer neoabsolutistischen Hofkultur; neben erstaunlichen Leistungen in Wissenschaft und Technik eine weitverbreitete Uniformgläubigkeit, die Vergötzung alles Militärischen; neben Tendenzen zur Parlamentarisierung und Demokratisierung die latente Drohung mit dem Staatsstreich, das Liebäugeln mit der Militärdiktatur; neben einer lebendigen avantgardistischen Kulturszene die plüschigste Salonkunst; neben einer erstaunlichen kulturellen Liberalität die kleinlichsten Zensurschikanen und eine harte Klassenjustiz; neben der Sozialfigur des wilhelminischen Untertanen, wie sie Heinrich Mann in seinem Roman so trefflich geschildert hat, den selbstbewußten großbürgerlichen Unternehmer und den klassenbewußten sozialdemokratischen Arbeiter; neben auftrumpfendem Kraftgefühl und ungebremster Aggressivität ein tiefsitzendes Gefühl von Angst und Unsicherheit."

Paradoxien und Ambivalenzen, eine widerspruchsvolle Verbindung von Beharrung und Modernität, eine Mixtur aus "Kraftbewußtsein und Zukunftsangst" bestimmten das "Grundgefühl" des wilhelminischen Deutschland. Das alles entfaltete sich vor dem "Hintergrund eines rapiden technisch-industriellen Wandels, der den Menschen ein bislang unbekanntes Maß an Mobilität und Veränderungsbereitschaft abverlangte. Innerhalb weniger Jahrzehnte erlebte die wilhelminische Generation den Ausbau des Eisenbahnnetzes, die Elektrifizierung, die Einführung des Fahrrads, des Automobils, des Flugzeugs, dazu die Anfänge einer modernen Massenkultur mit Film und Grammophon, Telefon und Schreibmaschine. All das bedeutete eine Flut von neuartigen Reizen und Anforderungen, die gleichermaßen faszinierend wie bedrohlich erschienen."

Fragt man darüber hinaus, was für Ullrich die schlüssige Erklärung liefert, warum die zwischen Angst und Anmaßung hin-und hergerissene Hohenzollernmonarchie gescheitert ist, dann gelangt man zu einem Resultat, das der Autor dem Leser durchgehend als Einsicht zu vermitteln bestrebt ist: Das Bismarck-Reich war ein Staat, der sein Zentrum nicht im Parlament fand, sondern der zunehmend einer Kaserne glich; es gab zuviel Staatsgehorsam und zu wenig Ziviltugend. Im Hinblick auf diese "Botschaft" des Verfassers hätte sich der Leser noch mehr an reflektierendem, kritischem Aufschluß gewünscht, als ihm ohnehin schon geboten wird: Was war an der Entwicklung des Kaiserreichs typisch deutsch, und was war allgemein europäisch? Hätte eine konsequente Parlamentarisierung das heraufziehende Unheil tatsächlich verhindert, wenn man sich vor Augen führt, daß man in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts in den Kabinetten Europas nach Franz Schnabels Urteil "mehr die Ideologie der deutschen Liberalen und Demokraten als die Machttendenzen des preußischen Staatsmannes" Otto von Bismarck gefürchtet hat? Wie kam es zur Ausbildung jenes deutschen Sonderbewußtseins, das den Primat der äußeren Politik und der militärischen Bereitschaft über die liberalen Forderungen nach innerer Parlamentarisierung und Demokratisierung stellte? Hing diese gewiß prägende Tendenz der Zeit mit der "ungeschickten Größe" des neuen Reiches zusammen, das zu groß war, um Europa nicht zu beunruhigen, und das zu klein war, um Europa beherrschen zu können? Hatte die fatale Entwicklung auch mit dem von Eberhard von Vietsch einmal so genannten "Gesetz der Enge" zu tun, das den amerikanischen Politikwissenschaftler David Calleo vor Jahren festzustellen veranlaßte, das moderne Deutschland sei eingekreist geboren worden?

In dieser Perspektive wäre der Leser gerade mit einem so sachkundigen und scharfsinnigen Autor gerne in einen noch intensiveren Dialog eingetreten, als ihn die Lektüre ohnehin bereits zu führen erlaubt. Nichtsdestoweniger: Auch beim Lesen der Partien und Thesen, denen man nicht ohne weiteres beipflichten möchte oder die einfach zweifelnde Neugier aufkommen lassen, beispielsweise in bezug auf die akzentuierte Kontinuität zwischen der Ära Bismarck und dem wilhelminischen Deutschland, beispielsweise im Hinblick auf die stark eingezeichneten Verbindungslinien zwischen dem Antiparlamentarismus des Kaiserreichs, der Republik von Weimar und des Nationalsozialismus und beispielsweise im Hinblick auf die eher ausgesparte Frage nach den Kosten des gesellschaftlichen Fortschritts, findet man in Volker Ullrichs Buch, weil es zum Nachdenken aufruft, viel willkommene Anregung.

Alles in allem: Über die Geschichte des Kaiserreichs steht ein außerordentlich lesenswertes Werk zur Verfügung, das sich den Resultaten einer detaillierten Forschung verpflichtet weiß und das ein anschauliches Bild vom Gesamten zu zeichnen, ja zu malen versteht. Daß im übrigen die vornehmste Aufgabe der Geschichte stets die Gegenwart zu sein hat, läßt der Autor immer wieder erkennen, wenn er dem heutigen Leser den Spiegel der Vergangenheit vorhält und beispielsweise über Bismarcks Reichsgründung urteilt: "So problemlos wie die äußere Einheit vollzog sich die innere Einheit nicht. Es wuchs nicht einfach zusammen, was zusammengehörte." An solch hintergründigen, aufschlußreichen Beobachtungen mangelt es dem Buche beileibe nicht; doch mit dieser Ankündigung soll es auch sein Bewenden haben: Der Appetit auf die Lektüre dürfte in gehörigem Maße geweckt sein. KLAUS HILDEBRAND

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