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Produktdetails
  • Verlag: Claassen Verlag
  • Seitenzahl: 259
  • Deutsch
  • Abmessung: 25mm x 130mm x 210mm
  • Gewicht: 392g
  • ISBN-13: 9783546002486
  • ISBN-10: 3546002482
  • Artikelnr.: 09784333
Autorenporträt
Christine Wunnicke wurde 1966 in München geboren und wuchs dort auf. Sie studierte Linguistik, Altgermanistik und Psychologie in Berlin und Glasgow, Seit 1991 arbeitet sie als freie Autorin für verschiedene Hörfunktsender. 1998 erschien beim Kanus Verlag ihr vielbeachteter erster Roman "Fortescues Fabrik". Für "Jatlag" erhielt sie 1999 das Literaturstipendium der Stadt München.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Für Hans Pleschenski hat die Schriftstellerin Christine Wunnicke mit ihrer Biografie des Kastraten Filippo Balatri "nach gut 250 Jahren einen Schatz ans Licht geholt". Selbst Fachleute dürften nach Einschätzung von Pleschenski von dem Lebenslauf des 1682 in Pisa geborenen Balatri überrascht werden, der viele Jahrzehnte als Sänger an verschiedensten Höfen Mittel-, Nord- und Osteuropas wirkte. Auf der Grundlage eines umfangreichen und zum Teil erst kürzlich zugänglich gemachten Nachlasses habe Wunnicke eine faszinierende Lebensgeschichte entfaltet, die zugleich eine Kulturgeschichte der Musik, der Höfe und des Reisens im frühen 18. Jahrhundert darstellt. Im Vordergrund aber steht für Pleschenski die menschliche Tragödie eines Kastraten-Schicksals, "die der empfindliche Lebenskünstler peu a peu für sich zur Tragikomödie erklärte".

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.11.2001

Der Khan hört gern Sopran
Christine Wunnickes bockiger Kastrat / Von Hans Pleschinski

Ich sammle, wie eine Ameise, meine Vorräte für die Ewigkeit." Die beiden Werke, in denen dieses rüstige Vorhaben festgehalten ist, heißen "Vita e Viaggi" und "Frutti del Mondo". Die neun handschriftlichen Bände "Leben und Reisen" lagern in einer Moskauer Bibliothek, die einzigartigen tausend gereimten Strophen von "Früchte der Welt" werden in der Bayerischen Staatsbibliothek verwahrt: die Erinnerungen des charmantesten Erdenkinds, das man sich vorstellen kann. Wer und was er war? "Ich bin um eine Antwort recht verlegen. Sag ich ,ein Mann'? Die Lüge ist banal. Sag ich ,ein Weib'? Das sag ich nicht, von wegen! Und ich erröte, sage ich ,neutral'."

In einer Biographie des Kastraten Filippo Balatri mit übersetzten Textproben hat die Münchener Schriftstellerin Christine Wunnicke nach gut zweihundertfünfzig Jahren einen Schatz ans Licht gehoben. Selbst Musikologen dürfte Balatri bis jetzt kein Begriff gewesen sein. Dieser Sänger zeigte wenig Neigung, auf einer Bühne zu glänzen, er sang im Schatten seiner Kollegen Senesino und Farinelli und war's zufrieden, wenn er über eine Opernpremiere notieren konnte: "Wir haben angefangen, dann haben wir mit gutem Beifall weitergemacht, schließlich sind wir fertig geworden, ohne daß man uns ausgebuht hätte." Balatri wurde 1682 in Pisa geboren. Dem Knaben widerfuhr ein seinerzeit typisches Unglück. Er sang zu gut im Kirchenchor. In Absprache mit Cosimo III., Großherzog der Toskana, willigte der Vater in die Kastration seines Sohns ein. In der Hofkapelle des frömmelnden Medici sollte der entmannte Felippo den Lobpreis Gottes intonieren. Doch der Großherzog verschenkte den Siebzehnjährigen in die Wüste, an den Zarenhof Peters I. Im Kreml sollte das halbe Kind nicht nur singen, sondern die Russen vom Katholizismus überzeugen und völkerkundliche Studien für Florenz betreiben.

Endlose Wälder in Kärnten, zuviel Schnee in Wien, Rast in Polen. Auf Moskaus Wällen begrüßten gepfählte Aufständische das über den Schlittenrand spähende Geschöpf aus der Toskana. Doch der erste Kastrat jenseits der Weichsel entwickelt sich zum Hätschelkind von Moskowiterinnen, Peter der Große überhäuft ihn mit Pralinen und Vertrauen, und der nicht uneitle neutrale Jüngling singt so ausgiebig, daß er schließlich auf dadaistische Nonsens-Verse verfällt, da ohnehin niemand etwas versteht. Balatri avanciert zum einzigen Kastraten, der jemals in der Wilden Tatarei vor dem Großkhan Da-capo-Arien anstimmte. Die Wilden lynchten den seltsamen Vogel mit Spitzenmanschetten nicht. Vielmehr war der Khan so entzückt, daß er dem Wunderwesen das höchste Privileg angedeihen ließ und ihm das Hammelfleisch vorkaute. Als der Italiener doch einmal in Gewahrsam genommen wurde, sang er so lange Koloraturen, bis die Horden ihn freiließen und Stille in der Steppe herrschte.

Belcanto erwies sich als die Vielzweckwaffe des bedrängten Profis in einer nicht als gastlich determinierten Welt. Liebevoll eingestimmt auf die bockige Gottergebenheit ihres wiederbelebten Helden, läßt Christine Wunnicke die Stationen eines geschüttelten Lebens Revue passieren. Balatri gefällt sich darin, als Mädchen verkleidet sich in Moskau zu tummeln, über das er bald mit großer Herzenswärme schreibt. Grausam verlief für den zur Kunst verstümmelten Künstler die Liebe einer Kaufmannstochter, die er körperlich nicht erwidern konnte: "Bellen kann ich wohl, beißen aber nicht." Die Bemerkung beinhaltet eine Tragödie, die der empfindliche Lebenskünstler peu à peu für sich zur Tragikomödie erklärte. Erfolgreich wehrt er sich, jemals nackt erblickt zu werden.

Kunst und Reisen, später die Gesellschaft seines Bruders ersetzen üblichere Lebensverhältnisse. Balatri wird nach Florenz zurückberufen, wo er Zwangsdolmetscher wird, bis ihm ein Engagement nach London neue Freiheit verschafft. Er lernt den Komponisten "Giorgio Endel" kennen, hört Konzerte der Fleischer-Innung und amüsiert ich über ein Englisch, das ihm grotesk vorkam: "Sanabicc!", "Gaddiniur!" - son of a bitch. God damn you.

Von Düsseldorf bis Venedig begeisterte Balatri mit einer selbstkomponierten Nachtigallen-Arie, die ihn derartig forderte, daß er seine Zuhörer warnte: "daß ich dabei die Vibration meiner Mandeln bis zu den Schuhschnallen spüre, daß es die Salze meines Körpers trenne . . . und daß ich wahrscheinlich bald eine Fehlgeburt bekäme". Das alternde Brüderpaar wollte sich am Canal Grande zur Ruhe setzen. Es bekam Gott sei Dank nicht die erwünschte Wohnung, in der wenige Tage später neue Mieter vom Vermieter getötet und zerstückelt wurden.

Seinen letzten Aufenthalt nahm der Kastrat und Chronist in Bayern, wo er in der Münchener Oper gefeiert wurde, aber lieber mit dem Fürstbischof von Freising musizierte: "Wenn Hoheiten etwas wollen, dann wollen sie es, weil sie es wollen, und wenn sie es wollen, weil sie es wollen, so zweifle man nicht, daß sie auch ein Mittel finden, das Gewollte zu kriegen, einfach weil sie es so sehr wollten." Nach dem Tod seines Bruders zog Filippo Balatri sich in die Zisterzienserabtei von Fürstenfeldbruck zurück, wo er 1756 starb. Balatris freundliche, bisweilen ungestüme Lebhaftigkeit wirkt bis heute ansteckend.

Christine Wunnicke: "Die Nachtigall des Zaren". Das Leben des Kastraten Filippo Balatri. Claassen Verlag, München 2001. 261 S., Abb., geb., 38,92 DM.

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