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Das osteuropäisch-jüdische Berlin der 1920 und 30er Jahre in TextenDie Jüdinnen und Juden, die nach den Erfahrungen von Welt- und Bürgerkrieg, Revolution und Pogromen aus Osteuropa nach Berlin kamen, fanden in der Metropole Zuflucht und eine vorübergehende Bleibe. Es entstand eine lebendige Kultur, die durch Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität geprägt war. Die Herausgeberinnen versammeln in ihrer Anthologie literarische Stimmen aus fünf verschiedenen Sprachen: Russisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch.Die zum Teil bisher unveröffentlichten Texte changieren zwischen Heimatverlust…mehr

Produktbeschreibung
Das osteuropäisch-jüdische Berlin der 1920 und 30er Jahre in TextenDie Jüdinnen und Juden, die nach den Erfahrungen von Welt- und Bürgerkrieg, Revolution und Pogromen aus Osteuropa nach Berlin kamen, fanden in der Metropole Zuflucht und eine vorübergehende Bleibe. Es entstand eine lebendige Kultur, die durch Mehrsprachigkeit und Multiperspektivität geprägt war. Die Herausgeberinnen versammeln in ihrer Anthologie literarische Stimmen aus fünf verschiedenen Sprachen: Russisch, Hebräisch, Jiddisch, Deutsch und Englisch.Die zum Teil bisher unveröffentlichten Texte changieren zwischen Heimatverlust und Aufbruchstimmung, Fremdheit und Vertrautheit und lassen sich auch als Entgegnungen auf die Herausforderungen einer fremden Umwelt und als Überlebensstrategien in einer modernen Großstadt lesen. Sie zeugen von der großen Diversität jüdischen Lebens im Berlin der 1920/30er Jahre und zeigen einen geschärften Blick auf die gesellschaftlichen Verwerfungen der Weimarer Republik.Mit Texten u.a. von Chaim Nachman Bialik, Vera Broido, Simon Dubnow, Boris Pasternak, Marcel Reich-Ranicki und Joseph Roth.[...]In der Zelle meines ZimmersIrre ich von Wand zu WandFremd ist mir mein Traum,fremd bin mir auch ich_...Die Himmel hüllen sich in GrauIch bin so starr, dass Teufel und GottSich gegen mich erhebenUnd in jedem Schatten lauert der Tod_...Die Stadt schläft tiefAls sei sie übermüdBis an der Tage Ende -Erklingt nie mehr ein Lied.[...]Aus: Jacob David Kamson: Berlin
Autorenporträt
Verena Dohrn ist Historikerin und Autorin mit dem Schwerpunkt Jüdische Geschichte und Kultur im östlichen Europa.Veröffentlichungen u. a.:»Die Nacht hat uns verschluckt«. Poesie und Prosa jüdischer Migrant_innen im Berlin der 1920 /30er Jahre (Mithg., 2018); Jüdische Eliten im Russischen Reich (2008); Simon Dubnow »Buch des Lebens« (Hg., 2004 /05);Baltische Reise (1994); Reise nach Galizien (1991).

Britta Korkowsky, geb. 1978, ist Slawistin und war wissenschaftliche Mitarbeiterin im DFG-Projekt »Charlottengrad und Scheunenviertel - osteuropäisch-jüdische Migranten im Berlin der 20er und 30er Jahre«.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 04.08.2018

Stiefmutter aller russischen Städte
Brillante Texte von jüdischen Migranten im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre

Schon wieder ein Buch über jüdische Emigranten im Berlin der zwanziger und dreißiger Jahre? In der Tat. Aber dieses ist das Buch der Bücher. Es ist das Buch, mit dem Sie anfangen sollten, falls Sie diese Welt noch nicht kennen, weil Sie danach zum Beispiel nie wieder von "den" Juden sprechen werden. Die Lektüre führt Sie in eine Welt von so unterhaltender Vielfalt und elektrisierender Intensität, dass Sie sich wünschen, das Buch wäre doppelt so lang. ". . . die Nacht hat uns verschluckt" ist eine Anthologie von gut sechzig Texten (Gedichte, Essays, Briefe, Erinnerungen) von knapp fünfzig jüdischen Autoren, die Revolution, Krieg, Hunger und Pogrome aus Osteuropa nach Berlin vertrieben.

Sie gehörten zu den etwa sechzigtausend jüdischen Flüchtlingen, die kurze Zeit überall in Berlin, bevorzugt aber in "Charlottengrad" (um den Kurfürstendamm) und im Scheunenviertel (unweit des Alexanderplatzes), wohnten und versuchten, ihre Lebensfäden weiterzuspinnen, also genau das zu tun, was sie schon in Kiew, Moskau, Wilna, Riga und St. Petersburg getan hatten, nämlich von der Arbeit ihres Verstandes zu leben und dabei noch irgendwie die Lage der Juden zu verbessern. Bei fünfzig Autoren begegnet man da, wie es ein alter jüdischer Witz will, einundfünfzig Methoden, darunter auch jenen, ganz in der russischen Literatur aufzugehen (wie Lev Lunts und Boris Pasternak) oder zum Islam zu konvertieren (wie Lev Nussimbaum alias Essad Bey). Die Ursache für diese Fluchten artikulierte Joseph Roth in seinem genialen Feuilleton von 1929 über die conditio iudaica: "Jeder andere muss sich . . . zu seinem ,Volkstum' bekennen. Der Jude allein bekennt sich automatisch. Er wird agnostiziert, bis ins zehnte Geschlecht. Wo ein Jude stehenbleibt, erhebt sich eine Klagemauer. Wo immer ein Jude sich niederlässt, erhebt sich ein Pogrom." So auch im Berliner Scheunenviertel 1923.

Auch die drei klugen Herausgeberinnen, Anne-Christin Saß, Verena Dohrn und Britta Korkowsky, die seit Jahren dieses Milieu erforschen, agnostizieren (ein Austriazismus für das Zuschreiben von Identität) im Falle des russischen Dichters Wladislaw Chodassewitsch, dessen Vater ein polnischer Adliger und dessen Mutter die Tochter von Iakov Brafman war. Er konvertierte 1858 zur russischen Orthodox und schrieb 1869 "Kniga kagala", einen Klassiker des russischen Antisemitismus. Der Enkel wurde ein guter russischer Lyriker. Eines seiner Gedichte enthält die legendäre Bezeichnung Berlins als "Stiefmutter der russischen Städte" (die Mutter ist Kiew).

Zum Glück sind die Gedichte am Anfang der Anthologie gebündelt, denn mit der Dramatik der Briefe und Erinnerungen können sie nicht mithalten. Die Ausnahme ist Moyshe Kulbaks satirisches Versepos "Disner Childe Harold" über einen jungen Ostjuden, der zur westlichen Hochkultur pilgert und in der Berliner Armut aus seinem Traum erwacht. Es ist spritzig und exakt von Andrej Jendrusch aus dem Jiddischen übersetzt. Allerdings entstand die ironische Darstellung einer romantischen Enttäuschung erst 1933 in Minsk, wo insbesondere für jüdische Schriftsteller, die wie Kulbak einmal im Westen gewohnt hatten, Denunziation der bürgerlichen europäischen Kultur angesagt war. Kulbak wurde 1937 als Spion und reaktionärer Nationalist (= Jude) exekutiert.

Wie in Kulbaks Epos geht es auch in vielen anderen Beiträgen nicht wirklich um Berlin. "Berlin ist eine Durchgangsstation", schrieb Joseph Roth, "in der man aus zwingenden Gründen verweilt." Wichtiger als Berlin selbst ist in diesen Texten, woher einer kam und wohin er wollte. Aus dem vielfältigen Kommen und Gehen entsteht mentales Chaos wie auf einem Bahnhof. Genau das macht das Prickelnde dieser Anthologie aus. Witzig gewählt ist der erste Prosatext, ein Feuilleton von Lev Lunts: "Komme in Berlin an. Bahnhof. Name: Schlesischer Bahnhof! . . . Gehe aufs Männerklo. Wenn der Lokus in Ordnung ist, denke ich mir, dann ist man echt im Ausland." Von Lunts bringt die Anthologie noch einen herrlichen Brief an die Serapionsbrüder, eine Gruppe junger Schriftsteller in St. Petersburg, mit köstlichem Klatsch über die russischen Literaten in Berlin (Viktor Schklowsky, Chodassewitsch, Ilja Ehrenburg). "Übers Russkij Berlin allgemein. Tatsächlich eine scheußliche Stadt . . . Berlin ist ein zweites Moskau." Die russisch(-jüdischen) Emigranten zogen von 1925 an nach Paris weiter.

"Durch Europa zieht eine Karawane, die den Weg verloren hat", kommentierte der jiddische Lyriker und Essayist David Eynhorn den neuen Exodus. "Jetzt ist es im Romanischen Café wieder still . . . Gras wächst um die Tische. Das Publikum hat die Pferde angespannt, das bisschen geistige Armut zusammengepackt und ist mit Sack und Pack nach Paris gefahren. Angehalten hat man neben dem ,Café de la Rotonde'. Und so wurde Paris das neue jüdische Zentrum." In einem zweiten Essay beschreibt Eynhorn, dessen Werk zum ersten Mal in deutscher Sprache erscheint, wie im nächtlich-eisigen Berlin die Armen, die Krüppel, die Verhungernden sich zum Totentanz formieren.

Im Vergleich zu Eynhorns empathischem Hinsehen ist die Prosa der sowjetisch orientierten Autoren tödlich maschinell. David Bergelsons berühmter Aufsatz "Drei Zentren" aus dem Jahr 1926, in dem er über die Zukunft des Jiddischen in New York, Warschau und Moskau nachdenkt, enthält den Satz über Moskau: "Der bessere Teil der Intelligenz arbeitet gemeinsam mit der jüdischen Arbeiterschaft auch an der sozialpolitischen und nationalkulturellen Gleichberechtigung der Juden."

Dass diese nach 1917 überhaupt noch der "Arbeit" bedurfte, gab Bergelson wohl zu denken, denn er kehrte als einer der letzten Emigranten im Jahr 1934 nach Moskau zurück und wurde am 12. August 1952 als reaktionärer Nationalist (= Jude) exekutiert. Bei allem Ernst ist ". . . die Nacht hat uns verschluckt" eine ungemein unterhaltende Anthologie, die langsam anläuft und sich zum Feurigen steigert. Brillant ist die vergleichende Analyse des Statistikers Jakob Lestschinsky der Pogrome in Deutschland und der Pogrome im zaristischen Russland. Sie werden sich nach der Lektüre an den Kopf fassen und sagen: Ja, genauso war es.

SUSANNE KLINGENSTEIN

Anne-Christin Saß, Verena Dohrn, Britta Korkowsky (Hrsg.): ". . . die Nacht hat uns verschluckt".

Eine Anthologie.

Wallstein Verlag, Göttingen 2018. 396 S., geb., 29,90 [Euro].

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»Die Lektüre führt Sie in eine Welt von so unterhaltender Vielfalt und elektrisierender Intensität, dass Sie sich wünschen, das Buch wäre doppelt so lang.« (Susanne Klingenstein, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 04.08.2018) »Jede Geschichte ist auf ihre Art wundervoll.« (Paul Schall, www.prettyinnoise.de, 24.08.2018)