Produktdetails
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 15.06.1999

Aber ich kann länger als Sie
Wie Thomas Nagel eine neue Runde im Streit zwischen Hume und Kant einläutete

Oscar Wilde schrieb einmal, daß es sich nicht lohne, Bücher zu lesen, in denen etwas bewiesen werden solle. Er hätte nun doppelten Grund gehabt, die Handschuhe nicht abzulegen, um nach Thomas Nagels "Die Möglichkeit des Altruismus" zu greifen, will dieser doch in seiner Schrift von 1970 gleich zwei Dinge beweisen. Erstens, daß Menschen durch Vernunft dazu motiviert werden können, etwas zu tun. Und zweitens: Es kann auch für altruistisches Handeln Vernunftgründe geben. So legte der heute in New York lehrende Philosoph schon in seinem ersten Buch die Basis für die kühne Verbindung eines rationalistischen Ansatzes mit der analytischen Methode. Seitdem hat er sie auf viele verschiedene Bereiche, vor allem auf politische Philosophie, Bewußtseinsphilosophie und Epistemologie ausgedehnt.

Es ist verwunderlich, daß dieses frühe Werk eines der populärsten zeitgenössischen analytischen Philosophen erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde. Es könnte an Nagels Konzentration auf die Debatte um Handlungsmotive liegen, die in der englischsprachigen Welt in diesem Jahrhundert zum "moralischen Problem schlechthin" (M. Smith) avancierte, während sie in Deutschland die philosophischen Gemüter lange Zeit kaltließ. Das war nicht immer so: Nachdem Hume behauptet hatte, daß hinter jeder Handlung ein Begehren als Antrieb stehen müsse, blieb Kant gar nicht gelassen. Hume traute der Vernunft lediglich zu, die Angemessenheit von Mitteln für vorgegebene Zwecke zu zeigen - Vernunftgründe können demnach den Willen nur bestimmen, wenn schon eine Neigung vorausgegangen ist, an die sie anzuknüpfen vermögen. Ohne eine solche Neigung wäre jeder Versuch der Vernunft, zum Handeln zu motivieren, ohnmächtig und vergleichbar mit dem Ansinnen, mit Argumenten eine Nelke im Knopfloch am Verblühen hindern zu wollen. Kant witterte hier einen "sanften Tod aller Moral", da dann jede Vernunftbegründung moralischen Handelns in einer schlechten Lage wäre. Bei der Debatte mit Hume steht also viel auf dem Spiel, aber zum Glück für Thomas Nagel hat Kant noch nicht alle Fragen geklärt.

Das gibt Nagel die Gelegenheit, zur Ehrenrettung der Vernunft gegen Hume ein neues Argument zu entwickeln. Würde jedes Handeln auf ein Begehren gründen, so Nagel, dann ließe sich nicht erklären, wie wir weitsichtig handeln können. Was unserer eigenen Zukunft dient, entspricht schließlich nicht in jedem Fall schon den Zielen unseres gegenwärtigen Begehrens: Oft verlangen kluge Entscheidungen gerade, daß wir gegen solche Begehren handeln. Gegen den möglichen Einwand im Sinne Humes, in solchen Fällen gebe es neben den gegenwärtigen ein weiteres Begehren, nämlich daß es uns auch in der Zukunft gutgehen möge, argumentiert Nagel listenreich mit komplexen Gedankenexperimenten. Sie sollen zeigen, daß es auch in diesem Falle noch Aufgabe der Vernunft bliebe, zu entscheiden, welchem Begehren wir folgen sollten, dem kurzfristigen oder dem weitsichtigen. Und so würde doch wieder die Vernunft den entscheidenden Handlungsanstoß geben. Es sei also nicht eine Art verschachtelten Begehrens langfristiger Begehren, sondern eben ein "Grund", den wir besäßen, wenn wir uns über die Zeit mit uns selbst identisch wüßten. Dieser Grund zeige uns dann, ob es vernünftig sei, auch gegen gegenwärtige Begehren zu handeln.

So hat Nagel die Brücke zu einer philosophischen Analyse des Menschen als Vernunftwesen geschlagen. Es geht ihm um nicht weniger als um eine Selbstaufklärung der Vernunft - ein durchaus kantisches Programm. Auch das Resultat würde Kant gefallen. Nagel zeigt, wie der Mensch als Vernunftwesen die Fähigkeit hat, neben seiner gegenwartsbezogenen Ich-Perspektive eine objektive Sicht auf sich einzunehmen. Deswegen kann er sich zeitunabhängig zu sich verhalten. Damit hat Nagel seinen zweiten Beweis vorbereitet. In gleicher Weise, wie wir von unserem zeitlich-gegenwärtigen Ich abstrahieren können, vermögen wir nach Nagel auch, dieses Ich als eines unter vielen zu betrachten. Wenn wir nur die Realität anderer Menschen anerkannt haben, können wir eine unparteiische Urteilsposition einnehmen und uns dann von den Einsichten, die wir dort gewinnen, motivieren lassen. Durch diese objektive Sicht ist der Mensch befähigt, auch einen solchen Handlungsgrund zu akzeptieren, der ausschließlich das Wohlergehen anderer betrifft. Damit kann Nagel sein kleines Buch beenden, der Grundstein einer rationalistischen Ethik scheint gelegt - es ist gezeigt, daß Altruismus kein pathologisches Selbstverhältnis der vom Helfersyndrom Gepeinigten ist, sondern gerade den Vernünftigen auszeichnet.

Der Stachelkopf bleibt im Rennen

Gegenwärtig sind es ja nicht mehr vereinzelte Helden, sondern ganze Heerscharen, die von ihren abendländischen Mittelgebirgen herunterziehen, um die frohe Botschaft zu verkünden, daß der Geltungsanspruch der Vernunft in der Ethik verwirkt sei. Als da sind: Philosophen, Psychologen, dekonstruktivistische Literaturwissenschaftler und Soziologen, Systemtheoretiker, Kommunikationswissenschaftler und natürlich auch Theologen, wie stets guten Willens, alle ausgezogen, um den Menschen aus den Ketten fremdverschuldeter Unmündigkeit eines eurozentrischen Rationalitätswahns zu erlösen. Nur leider fehlt für die Befreiungslust ein Gegner - kaum ein Vernünftiger ist schließlich so unvernünftig, mit der feinen Silberflöte der Rationalität gegen dieses tremolierende Gesamtkunstwerk der Vernunftkritik antreten zu wollen. Thomas Nagel ist da eine erfreuliche Ausnahme. Und mit seinen spitzfindigen Argumenten kann man sogar die Frage der Spieltheoretiker beantworten, ob sich nicht hinter jedem vermeintlichen Vernunftanspruch doch nur das Medusenhaupt des menschlich-allzumenschlichen Egoismus erhebt. Es könnte, so zeigt Nagel, bei dem Ansinnen, in Moralangelegenheiten auf die Vernunft zu setzen, doch noch mit rechten Dingen zugehen.

Reicht Nagels Argumentation zur Begründung einer neuen Vernunftethik? An entscheidender Stelle kommt auch Nagel nicht über Plausibilitätsannahmen hinaus. Damit ist Hume aber noch nicht zwingend widerlegt; Humes Handlungslehre könnte in verfeinerter Form durchaus auferstehen - wie es in der Tat seit dem Erscheinen von Nagels provozierendem Buch geschehen ist. Das ganze Streben nach überzeitlicher Identität könnte ja, so argumentieren Parfit, Williams und andere zeitgenössische Gefolgsleute Humes, bloß ein weiteres, besonders subtiles Begehren des Menschen sein. Wie beim Wettkampf von Hase und Igel könnte sich nach jedem weiteren Einspruch der Vernunft dagegen, in solch einem subtilen Begehren den letzten Quell aller Handlungen zu sehen, wieder das stachelige Haupt Humes erheben und er genau diesen vermeintlich vernünftigen Einspruch seinerseits als Ausdruck eines noch subtileren Begehrens bezeichnen. Das Problem scheint unlösbar, und vielleicht gibt es nur einen praktischen Ausweg: abwarten, welche der beiden Seiten den längeren Atem hat.

Überzeugender wäre es, wenn Nagel eine positive Erklärung dessen vorlegen könnte, was diese geheimnisvolle Wirklichkeit von "Gründen" eigentlich ist. Leider hat das Nagel nicht versucht. Sein Buch gibt nicht einmal darüber Auskunft (außer dem Verweis auf einige Intuitionen), woran wir denn nun "gute" objektive Gründe überhaupt erkennen sollten. Er erklärt nur formal, was es heißen soll, aus objektiven Gründen zu handeln. Aber diese Bestimmung ist blutleer: Nach ihr könnte sich auch ein ideologischer Fanatiker durchaus auf objektive "Gründe" berufen und im Sinne Nagels altruistisch handeln. Diese Gefahr sieht auch Nagel. Alles, was er wolle, sei, so sagt er, gegen den moralischen Skeptizismus eine Bresche zu schlagen für die Möglichkeit, vernünftig altruistisch zu sein. Das ist zuwenig als Grundstein für eine rationalistische Ethik: Sie muß nicht nur zeigen, daß wir vernünftig sein können, sondern auch, daß wir es sein sollen.

Aber dieser Einwand schmälert nicht die Bedeutung des Buches. Nagels hartnäckiges Nachdenken zeigt, wie abgrundtief das Problem von Begehren und Vernunft ist - und eine Unklarheit als Folge der Erschütterung vermeintlich problemloser, allseits populärer Lösungen kann durchaus ein Fortschritt sein.

Nach fast dreißig Jahren liegt jetzt endlich auch die deutsche Ausgabe vor. Sie liest sich zwar flüssig und zeigt das Bemühen, den oft sehr komplexen Diskussionen sprachlich gerecht zu werden. Doch der Anspruch der Übersetzer und Herausgeber war noch höher: Der Text solle im Deutschen "mindestens" so angenehm lesbar sein wie im Englischen, schreiben sie. Daß ein Bestreben, ein Buch durch eine Übersetzung noch besser zu machen, zu Schrulligkeiten führen muß, überrascht nicht. So ergänzen die Übersetzer dort, wo Nagel von dem Bedürfnis spricht, eine Persimone zu verspeisen, eilfertig in Klammern: "Diospyros virginiana" - wohl um zu vermeiden, daß ein mit Dattelpflaumen weniger vertrauter Leser Persimone für eine junge Studentin von Thomas Nagel hält. Krabbelt bei Nagel eine Wespe auf einem Hamburger, so wird dieser flugs durch einen Berliner ersetzt, da ja die Lebenserfahrung lehrt, daß Wespen eher das Süße suchen.

Und Nagels Rationalismus soll auf keinen Fall in den Verruf der Weltfremdheit geraten. Die kühne Übersetzung von "the most extreme devotee of carefree decisions" mit "der radikalste Sponti" verfolgt vermutlich das Ziel, das Buch von 1970 nun endlich auch politisch in der Bundesrepublik von 1980 ankommen zu lassen. Daß die Übersetzer und Herausgeber nicht nur Luhmann kennen, sondern auch überzeugt sind, jenseits von Nagel bleibe sowieso nicht mehr viel zu sagen, wird dann spätestens in den von ihnen beigefügten Literaturhinweisen deutlich: Da taucht unter anderem das Buch "Thomas Nagel, Die Möglichkeit des Altruismus. Bodenheim: Philo Verlagsgesellschaft 1998" auf. Der Kreis schließt sich. Wenn das letzte Wort gesagt ist, kann es offensichtlich nur noch auf sich selbst verweisen.

CHRISTIAN ILLIES

Thomas Nagel: "Die Möglichkeit des Altruismus". Aus dem Amerikanischen, mit einem Nachwort sowie Literaturhinweisen von Michael Gebauer und Hans-Peter Schütt. Philo Verlagsgesellschaft, Bodenheim 1998. 232 S., kt., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr