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1989 liegt schon in weiter Ferne. Der Fall der Mauer ist ein Bild aus glücklicheren Tagen, überlagert von einem anderen: der Passagiermaschine, die auf das World Trade Center in New York zufliegt. Das Ende des 20. Jahrhunderts und der Beginn des 21. Jahrhunderts haben einen überdeutlichen Ausdruck gefunden. Wir hatten kaum Zeit, das Ende der alten Welt des Ost-West-Konflikts zu verarbeiten, schon sind wir hineinkatapultiert in eine Gegenwart, auf die wir nicht vorbereitet waren. Zwischen beiden Bildern hat sich die Welt bis zur Kenntlichkeit verändert. Die simple Welt des Ost-West-Konflikts…mehr

Produktbeschreibung
1989 liegt schon in weiter Ferne. Der Fall der Mauer ist ein Bild aus glücklicheren Tagen, überlagert von einem anderen: der Passagiermaschine, die auf das World Trade Center in New York zufliegt. Das Ende des 20. Jahrhunderts und der Beginn des 21. Jahrhunderts haben einen überdeutlichen Ausdruck gefunden. Wir hatten kaum Zeit, das Ende der alten Welt des Ost-West-Konflikts zu verarbeiten, schon sind wir hineinkatapultiert in eine Gegenwart, auf die wir nicht vorbereitet waren. Zwischen beiden Bildern hat sich die Welt bis zur Kenntlichkeit verändert. Die simple Welt des Ost-West-Konflikts ist passe. Wir müssen uns den Luxus des Innehaltens erlauben und den Film noch einmal anhalten. Wenn es schon keine Gewissheiten gibt, dann vielleicht Erkundungen, Reflexionen. Heraus kommt kein großes Projekt und keine neue Weltordnung, sondern etwas Kleineres, Mittleres. Dies ist vielen nicht genug, aber manchmal ist weniger mehr. Die europäischen Angelegenheiten erscheinen untergeordnet, sekund är. Doch Europa, Mitteleuropa, wird noch gebraucht. Es ist noch nicht über den Berg. Es gibt keinen Automatismus des Gelingens. Die Deutschen haben eine Chance, die sie nutzen, aber auch verspielen können. Davon handeln die Essays, die Karl Schlögel in Vorahnung von 1989 und im Jahrzehnt zwischen den beiden Bildern geschrieben hat.
Autorenporträt
Karl Schlögel, geboren 1948 im Allgäu, hat an der Freien Universität Berlin, in Moskau und St. Petersburg Philosophie, Soziologie, Osteuropäische Geschichte und Slawistik studiert und lehrt an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt/Oder. 2006 erhielt er den Lessing Preis der Stadt Hamburg und 2012 wurde Karl Schlögel mit dem Hoffmann-von-Fallersleben-Preis ausgezeichnet.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.07.2002

Krieger und Nomaden
Karl Schlögel schaut auf Mittel- und Osteuropa
Zur Zeit beschwert sich der Gouverneur der Enklave Kaliningrad, weil sich die EU-Beitrittsländer Polen und Litauen weigern, Transportwege nach Russland über ihr Territorium laufen zu lassen. Für Kaliningrad, das ehemalige Königsberg, kommt das einer Katastrophe gleich, weil die Lebensfähigkeit dieses einstigen Nordostpreußen gleichsam stranguliert würde. Und das, weil die EU auf strikten Regelungen an ihren Außengrenzen besteht: Gäbe es offene Straßen und wären Visa leicht zu bekommen, dann könnte Königsberg zu einem ungewünschten Einfallstor in die Festung Europa werden. Ein Fall für Karl Schlögel, möchte man sagen, der unermüdlich und mit immer neuer Leidenschaft jene Landstriche und Städte des ehemaligen Ostens ins Licht rückt.
Seit der Wende hat sich der Schleier aus verklärenden Mythen und schmerzlichen Erinnerungen über jenen Gefilden östlich des Eisernen Vorhangs gelüftet. Nur in den Köpfen der Westmenschen ist das noch nicht der Fall. Karl Schlögel, Spezialist für Osteuropäische Geschichte, Slawist und Professor an der Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder, hat sich seit längerem schon dieser Aufklärungsarbeit verschrieben, aus bloßen Ortsnamen und schemenhaften Vorstellungen wieder konkrete Räume, im doppelten Sinne des Wortes erfahrbare Landschaften und Orte Europas zu machen, die es für das allgemeine Bewusstsein dieses Kontinents zurückzugewinnen gilt.
Der Band „Die Mitte liegt ostwärts” versammelt dreizehn Aufsätze und Vorträge, die Schlögel zwischen 1986 und 2000 geschrieben und gehalten hat. Darunter ist auch jener umfangreiche Beitrag, dessen Titel hier, nicht ganz glücklich, wieder verwendet wird, so dass man meinen könnte, es handle sich nur um eine Neuauflage jenes hoch geschätzten, lange vergriffenen Essays.
Zu Beginn dieses Sammelbandes versucht Schlögel aber die neunziger Jahre als „Sandwichjahrzehnt” zwischen zwei ungeheuren Bildern zu skizzieren: Hier die Erstaunlichkeit des Falls der Berliner Mauer am 9. November 1989, dort der Wahnsinn der Attacke auf das New Yorker World Trade Center am 11. September 2001. Und dazwischen schien alles eine Epoche der Transformation und des Übergangs zu sein, „von Diktatur zu Demokratie, von Gewaltherrschaft zu Freiheit, von Sozialismus zu Kapitalismus, von Plan zu Markt, von Autarkie zu Welthandel, von geschlossener zu offener Gesellschaft”. Aber statt geradenwegs in die gelobte EU einzumünden, zeigten sich alte Gespenster und neue Grausamkeiten: Krieg, Vertreibung, „ethnische Säuberungen”, Massaker und Flüchtlingsströme, als ob man hinter dem Eisernen Vorhang nur auf eine Freiheit gewartet hatte, die es endlich gestattete, Racherechnungen aufzumachen und Blutquittungen auszustellen.
Schlögel entdeckt in alledem zwei zentrale, scheinbar alte, vergangene, in Wahrheit aber monumental aktuelle Gestalten, deren tatsächliche Realität ihrem in die Tiefe der Zeiten und Kontinente reichenden Symbolgehalt entspricht: es sind der Nomade und der Krieger. Letzteren sieht Schlögel als Träger der neuen Gewaltwillkür, als den, der alles verloren zu haben glaubt und sich deshalb nimmt, was ihm seiner Ansicht nach zusteht. Er interpretiert diesen neuen Typus Krieger, wie er in Bürgerkriegen auf dem Balkan aufgetreten ist, als eine Art Räuber mit dem Charakter eines Heckenschützen. Und er ahnt in diesem 1994 gehaltenen Vortrag, dass der religiöse Fundamentalismus sich der Gewalt als des großen einfachen Mittels bedienen könnte gegen die undurchschaubare, heil- und gottlose Kompliziertheit der modernen westlichen Gesellschaften – siehe den ominösen 11. September.
Zeit der Racherechnungen
Im großen, brillant formulierten und wahrlich erhellenden Essay „Planet der Nomaden” über Wanderung, Flucht, Vertreibung, Völkerverschiebungen und -umsiedlungen lässt Schlögel nichts aus, weder die Ängste Europas und Amerikas vor den anbrandenden Migrationsströmen noch deren die Welt verändernde Kräfte, und empfiehlt „heroische Gelassenheit”. Keine Mauer, keine noch so scharfen, abweisenden Kontrollen werden das Anwachsen der Minderheiten aufhalten. Nicht nur das: Vielmehr erscheinen im Zuge der Menschheitsgeschichte die Phasen ungestörter Sesshaftigkeit als Verhältnisse der Stagnation, denen die beweglichen, vielsprachigen Improvisationskünstler des Nomadentums Beine machen. In ihnen steckt das Potential der Erneuerung und der Weiterentwicklung. Wer von der Globalisierung spricht und es ernst damit meint, kann die nomadisierenden, wandernden, fliehenden, reisenden Menschen nicht ausklammern, nicht in ihren Heimatländern festkleben, weil sie in diesem Globalisierungsprozess das „Salz der Erde” sind.
HARALD EGGEBRECHT
KARL SCHLÖGEL: Die Mitte liegt ostwärts. Europa im Übergang. Hanser, München 2002. 254 Seiten, 21,50 Euro.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Ilma Rakusa ist voll des Lobes ob des neuen Essaybandes des Slawisten, Historikers und Soziologen Karl Schlögel, der sich auch hier wieder mit seinem zentralen Thema, Städten und Landschaften zwischen Vergangenheit und Gegenwart besonders in Osteuropa beschäftige. Innerhalb dieses Themas sei das Spektrum in den Aufsätzen aus über zehn Jahren allerdings breit gefächert: von der Wichtigkeit des Ostens auch im Rahmen der EU-Osterweiterung, der allerdings ohne seine Geschichte nicht zu haben sei, über Russland in Alltag und Intelligenz, auch im Gegensatz zu den Vereinigten Staaten von Amerika, bis hin zur Migration in Europa durch Krieg, Vertreibung oder Erfordernisse des Arbeitsmarktes. Die Rezensentin ist wahrhaft begeistert von diesem Autor, der es verstehe, mit Blick auf die Geschichte und detailliertem, breit gefächertem Wissen eine Flexibilität des Denkens zu vermitteln, die das Lesen eines solchen Buches "zum Abenteuer" mache.

© Perlentaucher Medien GmbH
"Das ist hervorragend, inspirierend, und könnte noch ein ganzes Regal voll genauerer Vergleichsstudien anregen. (...) Es herrscht eine klare Sprache vor und ein ebensolches historisch-politisches Urteil." Paul Nolte, Literaturen, April 2002 "Das ... Buch ... erweist sich als fesselnde Lektüre. Es handelt vom Rasen der Zeit, den Tücken der menschlichen Wahrnehmung und von einem lang gehegten Traum, dessen Erfüllung nur begrenzt wahrgenommen wird." Olaf Jahn, Berliner Morgenpost, 14.4.2002 "Hier schreibt ein Mann der Wissenschaft. Aber eben auch ein Mann, der solides, breites Wissen in plastische Bilder und genaue Beobachtungen umzusetzen versteht. Karl Schlögel hat die seltene Gabe, Wissen, Reflexion und Sinneseindrücke zu einem Ganzen zusammenzufügen. Ein Gewinn, einmal mehr." Emanuel La Roche, Tages-Anzeiger Zürich, 22.04.02 "Brillant und zum Widerspruch reizend: Karl Schlögels gesammelte Essays ... Wer verstehen will, warum Europa ohne den Osten keine Zukunft hat, kommt an den Essays Schlögels nicht vorbei." Klaus Bednarz, Die Zeit, 01.08.02 "Schlögels Interesse gilt Städten und Landschaften, in deren Topographie er das Zusammenspiel von Geschichte und Gegenwart entziffert. Seine Domäne ist der Essay, bei dem Anschauung und Reflexion, das subjektiv fokussierte Detail und der enzyklopädische Überbau sich ideal ergänzen. (...) Zu bewundern an Schlögels Essayistik ist die aus historischer Perspektive und umfassendem Wissen gewonnene Weitsicht, ein flexibles Denken, das Information und Erfahrung nicht nur bündelt, sondern in einen anschaulich-kreativen Diskurs überführt. Dass es dabei um bewegende Gegenwartsthemen geht, macht die Lektüre zum Abenteuer." Ilma Rakusa, Neue Zürcher Zeitung, 05./06.10.02…mehr