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Produktdetails
  • Verlag: Propyläen
  • Seitenzahl: 439
  • Abmessung: 40mm x 145mm x 220mm
  • Gewicht: 732g
  • ISBN-13: 9783549059890
  • ISBN-10: 3549059892
  • Artikelnr.: 25499720
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Die Echtheit der von Wolkow erstmals vor dreißig Jahren in den USA herausgegebenen Biografie des russischen Komponisten wurde damals sofort bezweifelt, schreibt Gerhard R.Koch, ist heute jedoch kaum noch "ernsthaft bestritten". Dennoch wird sich wohl nie klären lassen, welche Passagen von Schostakowitsch sind und welches Wolkows Formulierungen. Der Rezensent diskutiert im Kontext der Besprechung dieser neu aufgelegten Übersetzung von Heddy Pross-Werth die Aktualität und Geschichte der russischen Musik-Avantgarde, die zeitweilig zur Staatskunst mutierte, entsetzlich drangsaliert wurde und schließlich, im Falle Schostakowitsch, zur Ikone erhoben wurde. Zum Thema "Genie und Gewalt" bzw. Dissidentum und Anpassung ist die Lektüre dieser Memoiren nach wie vor "erregend", findet der Rezensent.

© Perlentaucher Medien GmbH

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.03.2000

Die reine Seele
Schostakowitsch, Edler vom Ehrenfeld / Von Gerhard R.Koch

Der Zufall will es, dass sowohl in Paris wie in St. Petersburg Prokofjews ausladende Tolstoi-Oper "Krieg und Frieden" aufgeführt wird. Zumindest aus russischer Sicht ist sie derzeit höchst aktuell: als Hymnus auf die glorreiche Befreiung der heiligen russischen Erde von teuflischen Invasoren. Die Parallele ist klar: Galt es 1812, Napoleons Grande Armée aus Moskau zu vertreiben, so heißt es nun, den fragwürdigen Sieg über die tschetschenischen "Rebellen" zu feiern - dass die geografisch-historischen Koordinaten ganz andere sind, tut dem neuerlichen Hurra-Geschrei keinen Abbruch. Aber schon in Prokofjews Werk spürte man den Widerspruch zwischen "Lyrischen Szenen" und kompositorischem Kanonendonner im Zeichen des "Großen Vaterländischen Krieges". Zur russischen Kunst dieses Jahrhunderts gehört die unentwirrbare Verquickung von revolutionärem Elan, individuell kreativer Autonomie und politischem Druck, ja Terror. Den meisten Großen ist dieses Dilemma nicht erspart geblieben; am ehesten noch den Emigranten - um den Preis des Heimatverlustes.

Eisenstein starb schon 1948, Prokofjew am selben Tag wie Stalin, am 5. März 1953. Dmitri Schostakowitsch indes hat vom Geniestreich der ersten Sinfonie (1925) bis zu seinem Tode 1975 splendeur et misère der Sowjetunion voll durchlebt und durchlitten. Während dieses immerhin halben Jahrhunderts fühlte er sich zumindest zwischen 1936 und 1953 unter dem Damokles-Schwert der Stalinschen Ungnade und Drohungen, ausgesprochener und unausgesprochener: "Warten auf die Exekution ist eines der Themen, die mich mein Leben hindurch gemartert haben", heißt es denn auch in den von Solomon Wolkow herausgegebenen Memoiren des Komponisten.

Die Beziehungen zwischen den Avantgardisten in Musik und Bildender Kunst, Theater und Film und dem Sowjetstaat waren von unglaublicher Intensität - sowohl im Sinne anfänglicher enthusiastischer wechselseitiger Identifikation als auch unter dem Aspekt ständig zunehmender Reglementierung, Verfolgung und sogar Liquidierung unter Stalin und seinem kunstideologischen Bluthund Shdanow. Das Verhältnis zwischen Schostakowitsch und Stalin bleibt demnach ungebrochen exemplarisch für das zwischen Genie und Gewalt. Dass am 30. April in Leipzig eine von Luca Lombardi komponierte und von Hans-Klaus-Jungheinrich geschriebene Oper über Schostakowitsch und Stalin uraufgeführt wird, belegt die Aktualität. Doch schon 1984 hat in Düsseldorf das Theaterstück "Meisterklasse" des Engländers David Pownall frappiert: eine Vier-Personen-Groteske, in der Prokofjew und Schostakowitsch Stalin das Komponieren beibringen sollen, wobei Jovialität und Brutalität des Diktators, verstärkt durch Shdanow, unberechenbar umkippen.

Nun sind, dreißig Jahre nach der amerikanischen, zwanzig nach der deutschen Erstausgabe "Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch - Herausgegeben von Solomon Wolkow" neu aufgelegt worden. Um wenige Bücher hat es derartige, selbst hochpolitische Kontroversen gegeben, standen Aureole ungeschminkter Wahrheit und Vorwurf plumper Fälschung so krass gegeneinander. Mittlerweile wird die Authentizität dieser autobiografischen Aufzeichnungen nicht mehr ernsthaft bestritten, zumal analoge Dokumentationen, Briefe und die auf die Bekanntschaft mit Schostakowitsch gründenden Publikationen Krzysztof Meyers parallele Bestätigungen liefern. Selbst der ursprüngliche Gegner der Edition, Schostakowitschs Sohn Maxim, hat seine Einwände zurückgenommen. Doch Schostakowitschs dritte Frau Irina Anotnowna bezweifelt nach wie vor, dass Wolkow und Schostakowitsch so viel Zeit miteinander verbracht haben, um dieses Manuskript zu erstellen. Wolkows Aufzeichnungen sind zwar größtenteils von Schostakowitsch als "authentisch" abgesegnet worden; doch was Formulierungen des Komponisten und was solche Wolkows sind, wird sich mit Gewissheit kaum sagen lassen.

Der Herausgeber der neuen Edition, Michael Koball, hat gut daran getan, den Zickzackkurs um die Echtheit nicht zu verschweigen. Schostakowitschs Frage "Glauben Sie etwa, die Geschichte sei eine ehrbare Frau?" verrät manches von der Ambivalenz auch dem Sowjetstaat gegenüber, dessen jugendlicher Hymniker er war, dessen Allmacht er angstvoll ausgeliefert war, dem er sich anpasste und den er kritisierte, der ihn feierte und zu liquidieren drohte und schließlich zur Ikone erhob. Gewiss war er ein Schmerzensmann, dessen Horrorerfahrungen sich tief in sein Gesicht eingegraben hatten. Doch das Ausmaß seines Dissidententums ist unklar. Zur russischen Tradition gehört die des "Gottesnarren", der reinen Seele, die in verwirrter Form die Wahrheit spricht, beispielsweise Predigten als Grotesken verkleidet: "echter Dostojewski, nacherzählt von Chaplin" (Sollertinski). Womöglich war es sogar solch archaischer Respekt vor dem "Anderen", der Stalin beim tödlichen Vollzug seiner Verdikte zögern ließ. Letzte Klarheit ist da nicht zu gewinnen, der Blick in die Sowjet-Geschichte macht schwindlig. So oder so bleiben Wolkows Schostakowitsch-Memoiren erregend.

Solomon Wolkow (Hrsg.): "Die Memoiren des Dmitri Schostakowitsch". Eingeleitet von Michael Koball. Aus dem Russischen von Heddy Pross-Weerth. Propyläen Verlag, Berlin 2000. 439 S., Abb., geb., 48,- DM.

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