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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 03.12.1996

Fünfzig Millionen Muttersöhne
Nur Marshall McLuhan traut sich ran an die mechanische Braut / Von Hans-Joachim Neubauer

Wer erfand die Mythen des Alltags? Sechs Jahre bevor Roland Barthes seine berühmten "Mythologies" publizierte, erschien 1951 in New York ein seltsames Buch. Es hieß "The Mechanical Bride", und sein Untertitel verriet, wovon es handelte: von der Volkskultur des industriellen Menschen. Wer es aufschlug, blätterte in einem Album: sechzig Porträts von populären Ikonen der Werbung, sechzig bissige Traktate über Kommerz und Konsum, sechzig Bündel sprühender Assoziationen - eine Galerie der Entfremdung und zugleich ein moralisches Vademecum für den Kunden des kapitalistischen Karussells. Längst wird in amerikanischen Antiquariaten als Rarität gehandelt, was jetzt, fünfundvierzig Jahre verspätet und doch gerade zur rechten Zeit, auf deutsch vorliegt: Marshall McLuhans "Mechanische Braut".

Das Buch zeigt Amerika als wüstes Land des Geldes und des Zwangs zum Erfolg. Seltsame Homunkuli besiedeln den jungen Kontinent der Werbung: Autos sehen aus wie Haifische, Plattenspieler wie Totempfähle, und Körper gleichen Maschinen. Bilder von Waren sind Bilder vom Menschen, und die Fliehkräfte des ungehemmten Konsums erfassen auch die Geschlechter. Im Dreieck von Technik, Tod und Sex erscheint die nordamerikanische Familie als Auslaufmodell der Zeitenwende: Söhne und Töchter irren vaterlos durch das Waren-Universum. Ewig lächelt die Sonne der Werbung über einer Welt rigoroser Spezialisierung. In der Trennung von Privatleben und Arbeit erstarren die Männer zu Masken, und Mütter verwandeln ihren Frust in Stolz auf ihre Söhne. Ein "Making of Americans" als kollektiver Ödipus-Komplex. Wo Sex vor allem hygienisch und "geruchsneutral" sein soll, wird das sterile Cola-Reklame-Girl zur neuen Ikone: "zweimal gebadet, gepudert, desodoriert und enthaart". Und auf der Nebenbühne erscheint das Modell der europäischen Somnambulen à la Ingrid Bergman: "vornehm, sittsam, klassisch"; die Farbe ihrer Strümpfe gleicht "dem sonnengetränkten Gold des seidenglänzenden Fells eines Hengstes", wie die Werber texteten.

Schon 1930 soll der später als Medienkritiker berühmte McLuhan begonnen haben, die Werbewelten zu durchforsten. Für ihn bergen sie nicht weniger als den "Traum der Gesellschaft" von sich selbst. Zierleisten und Nylonbeine, Pillen und Enthaarungscremes liest er als Fährten der schrecklichen Verwandten, mit denen der spätindustrielle Prometheus die leeren Landschaften seiner Seele bevölkert. In seiner ikonographischen Spurensuche bleibt McLuhan dabei ganz in der Gegenwart; große Visionen und kritische Theorien, Marx und Freud spielen keine Rolle. Allenfalls stützt er sich auf zeitgenössische Analysen, so die sozialpsychologischen Schriften Margaret Meads und vor allem Siegfried Giedions "Herrschaft der Mechanisierung". Er möchte "die beachtlichen Strömungs- und Druckkräfte" analytisch nutzen, die "die mechanischen Einwirkungen von Presse, Radio, Kino und Werbung um uns herum aufgebaut haben".

Schon die Oberfläche der Phänomene, glaubt der Mythendeuter, enthält die Wahrheit; der Schein spricht - man denkt an die "Geschichte des Eigensinns" und die "Männerphantasien". Allenthalben zeigt sich der Geist von Cambridge, dem Mekka des New Criticism, wo McLuhan studierte: "Es gibt keine zurückgezogenen und bequemen Perspektiven mehr, weder künstlerisch noch national. Alles ist im Vordergrund anwesend. Werbung ist die Handschrift an der Wand." Nicht jeder vermag sie zu lesen.

Wer von einem ganzen Kontinent spricht, meint auch die eigene Familie, besonders wenn er sagt, daß "die amerikanische Frau emotional viel reifer ist als der amerikanische Mann". In ihrem Nachwort zeigen Jürgen Reuss und Rainer Höltschl, daß McLuhans Vater Herbert als Enkel europäischer Einwanderer im kanadischen Winnipeg gern eine ruhige Kugel schob und sich, ganz unamerikanisch, mit dem zufrieden zeigte, was er hatte und war. Sehr zum Leidwesen des Sohnes, der, wie er seiner Mutter klagte, ganz Nordamerika in der Hand von "fifty million mama's boys" sah; als "tough guy" des Wissens blieb er mitten im ödipalen Dilemma Mamas Bester. Vielleicht dachte er ja an sie, als er schrieb: "Die Ziele einer kommerziellen Gesellschaft erreichen, wenn sie durch das Medium mütterlichen Idealismus gefiltert werden, eine tödliche Intensität. Denn Frauen erfinden die Ziele der Gesellschaft nicht. Sie übersetzen sie in ihre Kinder." In seinem Fall bestand diese Übersetzung in seiner Liebe zur Literatur und seinem Ehrgeiz - eine Mischung, die ihn quer durch den akademischen Kosmos und, wie viele Amerikaner auf der Suche nach den Wurzeln, bis nach Europa und zurück trieb.

McLuhan las gerne. Nur die Literatur, glaubte er, sei in der Lage, die disparaten Erlebniswelten der Moderne zu umfassen. Sein Buch durchsetzt er mit entsprechenden Hinweisen. Gern ruft er Edgar Allen Poe, Ernest Hemingway, Wyndham Lewis oder James Fenimore Cooper zu Zeugen auf. Ein besonders origineller Leser ist er dabei nicht: über Mallarmé, Joyce oder Arthur Conan Doyle las man schon damals Besseres. McLuhans fixe Idee, mit der "mechanischen Braut" gar "eine neue Form von Science-fiction, eine neue Romanform" ersonnen zu haben, braucht man nicht allzu ernst zu nehmen. Sein Buch ist kein Roman, auch kein avantgardistischer, und selbst als Essay-Sammlung hat es seine Schwächen: Vieles wiederholt sich, und oft wirken seine Digressionen reichlich kurzatmig. Wer sich aber einem eher lässig springenden Lesestil verschreibt, wie McLuhan rät, kommt ganz auf seine Kosten, denn an Witz und Zorn fehlt es nicht. Wo sonst liest man schon von schüchternen Leichen und wuchernden Know-hows, von Audiometern und Galluputanern, wer außer McLuhan bietet seinen Lesern an, sie zu Bulldozern umzubauen? Und wer sonst könnte treuherziger versichern, daß de Sades Lustideal "gewiß voller Destruktivität" steckte? Mit der "mechanischen Braut", ahnt man, rächt sich ein Ästhet für die Hemdsärmeligkeit Amerikas.

So eigensinnig das Album daherkommt: Marshall McLuhan war und blieb ein pädagogischer Moralist. Stark von G. K. Chesterton geprägt, glaubte er ganz ironiefrei, in der "Kunstanalyse" den "Schlüssel zum Verständnis unserer Welt zu finden und sie in vernünftigere Bahnen zu lenken." Überhaupt ist "Vernunft" sein Zauberwort im Kampf gegen die Gespenster des Alltags. Seltsam verloren steht der später allzu moderne Autor an der Schwelle der kybernetischen Revolution: Während James Dean als grundloser Rebell in Hollywood seinen tränenreichen Traum träumt und Charlie Parker den Bebop zum Sound der Zeit macht, während Jack Kerouac sein "On the road" schreibt und Jerome D. Salinger den Fänger in den Roggen schickt, ruft McLuhan unbeirrbar das kritische Denken auf den Plan. Was lässige Hipster, Beatniks und andere weiße Großstadt-Intellektuelle längst "cool" oder "hot" in Kauf nehmen und als "camp" ihrem ästhetischen Lebensstil einverleiben, die Entfremdungen des Industriezeitalters, das bleibt für den Vater von sechs Kindern stets der große Feind einer Welt, in der ein Mann "weder Angst vor Büchern noch vor Frauen" hat.

Bei alldem bewahrt sich McLuhan einen beinahe kindlichen, staunenden Blick. Wie Hegels geschichtsphilosophische Griechen vor ihren eigenen Quellen erschaudern, so schaut hier der Sammler in das Bestiarium der industriellen Folklore. Seine Begegnung mit den Aliens der Massenproduktion gleicht einer moralischen Abwehrschlacht gegen die Invasion der erstarrten Mieder und gefrorenen Grimassen, einem Kampf gegen gefühllose Kreaturen, die gar zur Homosexualität neigen, wie er maliziös notiert. So wacker er die Lanze der Kritik schwang, er mußte doch bald erkennen, daß sich die Windmühlenflügel des technologischen Fortschritts schneller drehten, als er dachte. Schon zwei Jahre nach der Veröffentlichung erklärte er das Gutenberg-Zeitalter für beendet - und damit auch die Haltung des kritischen Beobachters; anstelle der müden Braut tanzt nun die jüngere elektronische Schwester ihren magischen Tanz.

Heute, da der kapitalistische Mensch als Kunde in den Cyber-Welten der ganz neuen Medien mit seinem eigenen Virtuellen verschmilzt, knarzt die mechanische Braut wie eine Maschine aus den Zeiten, als die Autos noch den Frauen glichen und die Männer ihren Hüten und als die Kulturkritiker noch lustig fragten: "Ist unsere Psyche wirklich ein Verbrennungsmotor?" Vielleicht stimmt McLuhans Buch deshalb so melancholisch, weil wir heute längst auf der anderen Seite des Spiegels stehen, den er seiner Zeit vorhielt. Sehnsüchtig blickt man hinüber in jene Welt tröstlich wirklicher Mythen und träumt von dem einen, kleinen und unmöglichen Schritt zurück aus dem Wunderland.

Marshall McLuhan: "Die mechanische Braut". Volkskultur des industriellen Menschen. Aus dem Amerikanischen, mit Anmerkungen und einem Essay von Rainer Höltschl, Jürgen Reuß, Fritz Böhler und Martin Baltes. Verlag der Kunst, Leipzig 1996. 254 S., Abb., geb., 48,- DM.

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