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Andrei Makine, in Sibirien geboren, lebt heute in Paris. In diesem Roman erzählt er von drei Jugendlichen, die am Rande der menschenleeren Taiga, in der Nähe eines Straflagers leben. Eines Tages sehen sie im Kino einen "Belmondo"-Film. Sie beginnen, vom Westen zu träumen, sie ahnen, daß es eine andere Form des Lebens geben muß als Planerfüllung und Wodkakonsum. Jedem der drei eröffnet die Begegnung mit Belmondo die Möglichkeit zur Flucht, die aber gleichzeitig den Verlust der Unschuld bedeutet...

Produktbeschreibung
Andrei Makine, in Sibirien geboren, lebt heute in Paris. In diesem Roman erzählt er von drei Jugendlichen, die am Rande der menschenleeren Taiga, in der Nähe eines Straflagers leben. Eines Tages sehen sie im Kino einen "Belmondo"-Film. Sie beginnen, vom Westen zu träumen, sie ahnen, daß es eine andere Form des Lebens geben muß als Planerfüllung und Wodkakonsum. Jedem der drei eröffnet die Begegnung mit Belmondo die Möglichkeit zur Flucht, die aber gleichzeitig den Verlust der Unschuld bedeutet...
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.10.1998

Es klirrt die Wäsche in der Kälte
Im warmen Wind der Adjektive: Makine läßt das Eis schmelzen

Andreï Makine ist das passiert, wovon viele Schriftsteller träumen. Eben noch hatte der sibirisch-französische Autor auf harten Pariser Parkbänken gedichtet und ein Zimmerchen am Montmartre bewohnt, der Welt scheinbar abhanden gekommen, da schloß ihn diese stürmisch in die Arme. Makines vierter Roman "Das französische Testament" wurde im Jahr 1995 als ein poetisches "Wunder" gefeiert, erhielt die höchsten französischen Literaturpreise und bald internationale Ehrungen, er wurde millionenfach verkauft und in siebenundzwanzig Sprachen übersetzt.

Allein auf den literarischen Qualitäten beruht der von Frankreich ausgehende Ruhm dieses Autors nicht. Denn der Erfolgsroman war eine kaum überbietbare und gern erhörte Liebeserklärung an Frankreich und die französische Kultur. Die jugendliche Hauptfigur baut sich im fernsten Sibirien aus den Erinnerungen der französischen Großmutter ein farbenprächtiges Traum-Frankreich auf, eine sehnsüchtig verklärte Gegenwelt zum miesen russischen Alltag.

Die zunächst scheinbar private Erzählung einer sensiblen, träumerischen Kindheit weitet sich zum Geschichtspanorama. Dem schwärmerischen französischen Familienmythos stehen grausame Bilder der russischen Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts gegenüber. Unvergeßlich die Szene, in der Kriegskrüppel übereinander herfallen - arm- und beinlose Rümpfe in rollenden Holzkisten, vom unerbittlichen Volksmund "Samoware" genannt.

Bereits ein Jahr vor dem "französischen Testament" erschien in Frankreich der jetzt ins Deutsche übersetzte Roman "Die Liebe am Fluß Amur". Der zeitgenössisch aufgefrischte, von den russischen Klassikern des neunzehnten Jahrhunderts breit abgehandelte Gegensatz Asien-Europa bildet die Achse auch dieses Buches, wieder geht es um eine Jugendgeschichte in der Spannung von Ost und West. Die aufwendige Instrumentierung des "französischen Testaments" wagt Makine hier nicht. Vom schwingenden Pendel der großen Geschichte ist zwar die Rede, aber auf welthistorische Figuren und Bilder, auf Schreckensszenen aus Hungersnot und Krieg wird verzichtet.

Makine spielt sein Thema kammermusikalisch in kleiner Besetzung durch. Diese Beschränkung verstärkt den Eindruck von Lähmung und Stagnation in den menschenleeren Fernen des Breschnew-Reichs. Schauplatz ist ein kleiner Taigaort; in der Nähe befinden sich ein Straflager und die Stacheldrahtfabrik "Die Kommunardin", wo die "Stacheldrähte für alle Lager Ostsibiriens hergestellt werden". Die Parolen vom siegenden Sozialismus, die Hochrufe auf den fortschrittlich gesinnten Teil der Menschheit wirken hier besonders scheppernd und lächerlich. Trostlos erscheint die Zukunft der Hauptfigur Mitja und seiner beiden Freunde Utkin und Samurai: Entweder man wird ein trinkfreudiger Holzfäller oder Lastwagenfahrer wie die meisten hier, oder man gerät selbst eines Tages hinter den Stacheldraht.

Aber nicht die gesellschaftliche Misere bestimmt den Ton des Buches. Denn dieser Erzähler sucht den Enthusiasmus, und Anlaß dazu bieten ihm vor allem die Bilder der unwirtlichen und zugleich verwunschen-schönen sibirischen Natur: ein Winter jenseits des europäischen Maßes mit wüstenhaften, im Sonnenlicht blendenden Schneelandschaften und Frost von einer Schärfe, bei der die von der Leine genommene Wäsche den Frauen wie Glas in den Händen zerspringt. Die Kinder spucken klirrende Eisklümpchen auf die Straße, Bäume bersten krachend "wie Gewehrschüsse" unter dem Druck ihres gefrorenen Saftes. Im Frühjahr beginnt das große Eistreiben auf den Flüssen, und es gibt ungeheure Schneefälle, unter denen die Häuser verschwinden.

Solche sibirische Exotik verleiht dem Buch seinen größten Reiz. Nicht nur die Natur gerät im Frühling in "diesiges Schmachten", auch die drei Jungen schmachten nach ersten Liebeserfahrungen - erwachende Sexualität ist ein Grundthema Makines. Sie beobachten, wie ein riesiger Stier auf eine brüllende Kuh getrieben wird, und ziehen daraus ihre Schlüsse. Sie quasseln altklug und schwärmen über die Schönheit der Frauen, von der in dem diesem Ort nicht allzuviel zu bewundern ist; die derben Holzfäller kommen ohne die Schönheit aus. Also träumen die Jungen von einer geheimnisvollen "Westfrau" aus dem Transsibirien-Expreß. Mitja rafft schließlich allen Mut und alles Geld zusammen und macht sich auf zur Bahnhofsprostituierten, die wenige Gemeinsamkeiten hat mit der traumschönen Reisenden.

Das Muster dieser jugendlichen Desillusion ist nicht neu, die Erzählung in ihrem Detailreichtum dennoch überzeugend und reizvoll. Nur am Ende dieses Abschnitts erinnert man sich an Nabokovs Spott über Dostojewski: Es sei eine sentimentale "Stupidität" ohnegleichen, wenn der Mörder Raskolnikow und die Hure Sonja im Licht einer Kerze gemeinsam die Bibel lesen. So weit geht Makine nicht, aber auch hier gibt es Kerzenschein und Kaminfeuer, während die "dicke Frau in der halboffenen Bluse" Fotos aus einer besseren Zeit vor Mitja auf dem Bett ausbreitet. Das Zimmerchen "wurde mein wiedergefundenes Zuhause. Und diese Frau an meiner Seite ein vertrautes Wesen. Da wußte ich, wie sehr sie mir bisher gefehlt hatte." Die Hure lächelt "durch einen Tränenschleier". Schminke zerfließt und ebenso Makines Prosa.

Auch die französische Zauberwelt hat in diesem Buch ein reduziertes Format; sie beschränkt sich weitgehend auf die Actionkomödien im nächsten Kleinstadtkino, das zum "alchemistischen Kolben" wird. Belmondo heißt der fröhliche Heilsbringer aus dem Westen, der die Jungen vor der Langeweile ihres Kaffs, der russischen Schäbigkeit und dem Einerlei Asiens rettet.

Bekanntlich hat der Westen den Osten vor allem mittels seiner Trivialkultur, seiner Popularmythen niedergerungen. Von daher ist es schlüssig, wenn die Belmondo-Faszination der Jugendlichen anhand zahlreicher Filmszenen nachvollzogen und die Nachwirkungen der Kinoabende unter der ostsibirischen Bevölkerung beschrieben werden. Es ist schlüssig, aber für den Leser nicht so aufregend wie für die vom "Belmondo-Wahn" Ergriffenen selbst. Erst recht die programmatische Belmondo-und-der-Westen-Philosophie, die Makine in einem hausbackenen Essayismus feilbietet, gehört nicht zu den Höhepunkten der Lektüre. Später werden Mitja die Genüsse französischer Hochkultur zuteil. Wieder wird die unvermeidliche Madeleine in den Tee getunkt. Welchen Autor Makine beim Beschwören der Kindheitserinnerungen im Blick hat, hätte man auch ohne diese Episode gemerkt. Sie macht indessen das Prätentiöse seiner Proust-Nachfolge nur deutlicher. Das hypersensible Ästhetentum führt nicht selten ins Künstliche oder Verquere: "Jetzt steckte ein zähflüssiger Stoff in den finsteren Poren des Lebens, die von Worten, von einem Lächeln verdeckt wurden." Manche Formulierung ist Kitsh wie der "vergängliche Amber der Liebe" oder die "Lava des weiblichen Körpers". Wenn Mitja nach Petersburg zieht, geht das nicht ohne den "Schatten Raskolnikows, der irgendwo im Gewirr dieser nebelverhangenen Straßen umherirrte". Problematisch ist vor allem die Überfülle an Adjektiven, die lange nicht so erlesen sind, wie sie wirken sollen. Mehr noch als die außergewöhnliche Begabung gibt dieses Buch die Gefährdungen seines Autors zu erkennen. WOLFGANG SCHNEIDER

Andreï Makine: "Die Liebe am Fluß Amur". Roman. Aus dem Französischen übersetzt von Holger Fock und Sabine Müller. Verlag Hoffmann und Campe, Hamburg 1998. 288 S., geb., 39,80 DM.

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