Marktplatzangebote
3 Angebote ab € 0,45 €
  • Broschiertes Buch

In diesem warmherzigen Buch erinnert sich Ignatieff an seine Mutter - und zeichnet damit das Schicksal einer Frau nach, die sich von der unkonventionellen jungen Malerin nach und nach in eine Alzheimer-Patientin verwandelt.

Produktbeschreibung
In diesem warmherzigen Buch erinnert sich Ignatieff an seine Mutter - und zeichnet damit das Schicksal einer Frau nach, die sich von der unkonventionellen jungen Malerin nach und nach in eine Alzheimer-Patientin verwandelt.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.04.1995

Seele gegen Zelle
Michael Ignatieff tritt ins Sterbezimmer / Von Wolfgang Steuhl

Als wäre eine besonders raffinierte Irreführung beabsichtigt, ist im Untertitel des ungewöhnlichen Buches "Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs" lediglich von der "Geschichte einer Familie" die Rede. Was folgt, nimmt sich wegen des teils wissenschaftlichen, teils bekenntnishaften Inhalts, der aus der Ich-Perspektive wiedergegeben ist, aus wie die Fallstudie eines Krankheitsverlaufs aus der Sicht eines exakt recherchierenden Betroffenen. Erst ganz am Schluß stößt der Leser nach einigen Danksagungen noch auf die bekannte Floskel: "Dieses Buch ist ein Roman. Eventuelle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt."

Ebendarum ist in künstlerischer Hinsicht um so höher zu bewerten, was dem 1947 geborenen, heute in England lebenden Kanadier Michael Ignatieff mit diesem Werk gelungen ist. In seinem von Larmoyanz und Gefühlsduselei völlig freien, ebenso souveränen wie radikalen Roman verzichtet er darauf, den Leser abermals mit den Klagen über die Apparatemedizin zu belästigen. Er vermeidet es, ein barockes Lamento über die Allgegenwart des Todes mitten im Leben zeitgemäß aufzuwärmen. Gleichwohl erzählt er zunächst eine erschreckende, deprimierende Verfallsgeschichte. "Menschen, die buchstäblich aus ihrem Leben hinausgewandert sind", faszinieren Ignatieffs Hauptfigur, einen Philosophielehrer, der den jahrelangen, unaufhaltsamen Leidensweg seiner an "präseniler Demenz" erkrankten Mutter schildert.

Vordergründig scheint es dem Erzähler allein um das Dahinsiechen der Mutter zu gehen. Der Roman beginnt allerdings mit deren Tod: "Die furchtbar verzweifelten Atemzüge, diesen von Krämpfen gefolterten schwachen Leib, diese von Blut genäßten Lippen" möchte der Sohn am liebsten vergessen, sucht aber in der Abwehr dieser wiederkehrenden Erinnerung bereits "einen Weg, mich davon zu überzeugen, daß die banale Herzlosigkeit dieses Vorgangs nicht umsonst gewesen ist". Indem er bereits zu Anfang des Buches eine zentrale Frage stellt, nämlich "Wann beginnt das Sterben?", deutet er schon an, daß Leiden und Tod der Mutter vor allem Anlaß zum Reflektieren der Frage werden, wie man die Aufgabe bewältigt, sich "der Vergänglichkeit der Dinge entgegenzustemmen".

Die Tatsache, daß die Krankheit die Ich-Identität der Mutter allmählich zerstört, erschwert das Ringen mit einer solchen Aufgabe zusätzlich. "Die Identität des Menschen", so werden wir an einer Stelle mitleidlos erinnert, "beruht auf neurochemischen Vorgängen." Etwa von der Zeit an, als die rhetorisch mäßig begabte Mutter, die eine beachtliche Malerin gewesen ist, mit etwa fünfzig die Künste aufgegeben hat, treten erste Anzeichen eines Verfalls auf, der sich alsbald beschleunigt. Bei Alltagsdingen versagt zunehmend das Kurzzeitgedächtnis: "Erst die Brille, dann die Handtasche. Dann die Schuhe. Danach die Töpfe, die sie auf dem Herd vergißt. Danach ein Braten, der im Backofen verkohlt."

Der Sohn, der den hilflosen Vater nicht allein lassen mag, macht sich auf der Farm der Eltern nützlich. Er vernachlässigt zunehmend seine eigene Familie, verspürt den "Riß im Gewebe" auch seines eigenen Lebens, indem seine Mutter "entsetzlich schnell" altert und ihre Fähigkeit, geistig präsent zu sein, vollends einbüßt. Als der Vater jäh stirbt, veranlassen die beiden Söhne (der ältere, ein Arzt, lebt in Boston seit vielen Jahren ausschließlich für seinen Beruf), daß die Mutter in einem Pflegeheim untergebracht wird, wo sie in immer länger währenden Entrückungszuständen ihrem Tod entgegendämmert.

Der Verlauf der Geschichte, die sich im "wirklichen" Leben wohl immer wieder so abspielen mag, erscheint bedrückend, aber für sich genommen nicht unbedingt geeignet zu einer Bearbeitung in Form eines literarischen Kunstwerks. Was diesen Roman über sein Thema hinaushebt, sind dessen Implikationen, die den Ich-Erzähler beschäftigen. Es ist die literarische Auseinandersetzung mit Fragen wie: Steckt uns "die Kapitulation vor dem Sterben . . . von Anfang an in allen Zellen"? Gibt es das, was nordamerikanische Lebenshilfebücher, die das "positive Denken" propagieren, uns nahebringen wollen: "Sieg des Geistes über die Materie, der Seele über den Körper, des Charakters über den Zellverfall"?

Bei der Erkundung solcher Fragen, die zu Obsessionen werden können, läßt uns Ignatieff nicht nur am Dahinsiechen und Sterben einer alten Frau, sondern auch an einem Entwicklungsprozeß auf seiten seiner Erzählerfigur teilnehmen. (Sämtliche wichtigen Gestalten in diesem Buch haben übrigens keine anderen Namen als "Mutter", "Vater", "mein Bruder" sowie "ich" und erscheinen zwar exemplarisch, aber keineswegs schablonenhaft.) Am bewußtesten durchleidet der Ich-Erzähler das Geschehen, indem er mit allerlei erfolglosen Strategien gegen die eigene Verstörung und Resignation ankämpft. Als Philosophielehrer sondert er zunächst neunmalkluge Reden über "Krankheit und Stoizismus" ab; als Sohn entfremdet er sich von der eigenen Familienvaterrolle und zerstört durch ein ohne innere Anteilnahme begonnenes Verhältnis mit einer Krankenschwester die eigene Ehe. Er beschäftigt sich mit den neuesten Ergebnissen der Hirnforschung und steht staunend vor dem ungebrochenen Lebenswillen eines Patienten, der an "amyotrophischer Lateralsklerose", der Krankheit Stephen Hawkings, dahinsiecht und im Zustand weitgehender Hinfälligkeit nur noch wenige Monate zu leben hat.

Mittels komplizierter Erfahrungen gewinnt er schließlich eine zwar auf Dauer gefährdete, aber lebenswichtige Distanz zur eigenen Todgeweihtheit - eine Distanz, der man mit Wendungen wie "Aussöhnung mit dem Unausweichlichen" oder "intensiv leben" niemals gerecht werden könnte. Ohne Seelenstärkung durch irgendeine religiöse oder sonstige Instanz wird der auf prekäre Weise Geläuterte seine Lebensbahn fortsetzen, obwohl er möglicherweise den Keim der Krankheit in sich trägt, die seiner Mutter Persönlichkeit und Leben geraubt hat.

Daß die schrecklichsten Einsichten zu den Themen Leben, Individualität und Tod paradoxerweise auch die tröstlichsten sein können, lehrte uns Arthur Schopenhauer. Mit seinem von der ersten bis zur letzten Seite faszinierenden Roman "Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs" (der übrigens in ein ausgezeichnetes, von Anglizismen freies Deutsch übersetzt wurde) hält Michael Ignatieff eine literarische Herzstärkung für Heutige bereit, die gerade deshalb so gut anschlägt, weil sie kühl, gekonnt und offensichtlich guten Mutes zubereitet wurde.

Michael Ignatieff: "Die Lichter auf der Brücke eines sinkenden Schiffs". Geschichte einer Familie. Aus dem Englischen übersetzt von Werner Schmitz. Insel-Verlag, Frankfurt am Main und Leipzig 1995. 236 S., geb., 38,- DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
…mehr
"Was für ein kluges, optimistisches Buch." (Die Welt) "Ein von der ersten bis zur letzten Seite faszinierender Roman." (FAZ)