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Denkt man an Japan, so kommen einem zunächst einmal vor allem Stereotype in den Sinn. Das "Land des Lächelns" gilt als Kulturraum, in dem die Menschen bis zum Umfallen arbeiten, strenge Förmlichkeit das Verhalten bestimmt und Tradition und Moderne eine eigenartige Symbiose eingegangen sind. Entsprechend changiert unsere Vorstellung von Japan zwischen Zen-Buddhismus und Japan-Pop, zwischen Kalligraphie und Manga. Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur japanisch und was kulturell ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet,…mehr

Produktbeschreibung
Denkt man an Japan, so kommen einem zunächst einmal vor allem Stereotype in den Sinn. Das "Land des Lächelns" gilt als Kulturraum, in dem die Menschen bis zum Umfallen arbeiten, strenge Förmlichkeit das Verhalten bestimmt und Tradition und Moderne eine eigenartige Symbiose eingegangen sind. Entsprechend changiert unsere Vorstellung von Japan zwischen Zen-Buddhismus und Japan-Pop, zwischen Kalligraphie und Manga. Ausgehend von der doppelten Frage, was an der japanischen Kultur japanisch und was kulturell ist, zeigt Florian Coulmas, was die heutige japanische Kultur von anderen unterscheidet, und verdeutlicht, was unter Kultur zu verstehen ist: das Verhalten im Alltag und die sozialen Beziehungen (Umgangsformen, Verwandtschaft etc.); Werte und Überzeugungen (vor allem religiöser Art); Institutionen wie der Jahreszyklus, die Schule oder die Firma; schließlich Formen materieller Kultur (u.a. Kleidung und Mode, Behausung und Architektur, Essen und Ästhetik). Die Analyse des geistigen Hintergrunds kultureller Traditionen ermöglicht es, Verhaltensweisen, Wertvorstellungen und Formen der ästhetischen Gestaltung zu verstehen, die auch dem hyper-modernen Japan von heute einen ganz eigenen, unverwechselbaren Platz in der zunehmend globalisierten Welterhalten haben.
Autorenporträt
Florian Coulmas, geboren 1949, ist Professor für Kultur, Geschichte und Sprache des modernen Japans an der Universität Duisburg-Essen. Er hat 17 Jahre lang in Japan gelebt und gelehrt und ist einer der Japanologen in Deutschland. Zahlreiche Veröffentlichungen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.10.2003

Wenn ich lächle, heißt das im Prinzip zwölferlei
Florian Coulmas erklärt, wie Sie ohne Axt durch den Höflichkeitswald der Japaner kommen

Ohne Filter, Klischees und westliche Apparate der Feldforschung geht das Japan-Buch von Florian Coulmas von Beginn an komparatistische Wege. Der auf "Objektivität" bedachte Ethnologe, so Coulmas, jage den Tatsachen hinterher und komme doch zwangsläufig zu spät. Coulmas selbst interessieren daher vielmehr die genuin japanischen Denkweisen, Maßeinheiten und ästhetischen Kategorien, welche die Globalisierungstendenzen manchmal grell und oft nur notdürftig übertünchen. Seine zentrale Fragestellung, "was an der japanischen Kultur kulturell und was japanisch ist", wendet er auf eine Vielzahl ihrer materiellen und immateriellen Ausuferungen, Routinen und Religionen an - von der höfischen Etikette über den Ehrenkodex der Krieger bis hin zur Aum-Sekte und zum Manga.

Coulmas beschreibt, wie es Japan gelungen ist, in den scheinbar profanen und vom Kommerz geprägten Facetten der Alltagskultur, in der individualistisch wirkenden städtischen Soziologie und in den Codes professioneller Beziehungen beim Alten zu bleiben - althergebrachte Werte, Zeitvorstellungen, Zeremonien, Jahreszyklen und Umgangsformen sublimiert zu bewahren. Eindrücklich schildert er die Vorgänge bei der Ladenöffnung in einem japanischen Kaufhaus, das auf den ersten Blick nicht anders aussieht als ein Tempel der Konsumkultur in Rom, Berlin oder Moskau. Doch spätestens wenn sich die Tore öffnen und die Kunden, ohne ersichtliches Zeichen, durch eine Phalanx des Verkaufspersonals strömen, die, sich tief verbeugend, "Irashaimase, irashaimase" ("Bitte treten Sie näher!") ruft, spätestens dann kommen hier besondere kulturelle Vorstellungen von Höflichkeit, Stil und Kundendienst zutage.

Die Grammatik des Lächelns ist dabei keine reine Formsache. Die Etikette reflektiert und zementiert die soziale Ordnung. Die japanische Schule der Höflichkeit und Dienstleistungsindustrie, so Coulmas' These, arbeitet mit kulturell verschiedenen Vorstellungen von Schicklichkeit, die sich beileibe nicht allein am Neigungsgrad der Verbeugung bemessen lassen.

Daß Höflichkeit und Förmlichkeit neben einem Reflex gesellschaftlicher Verhältnisse auch Schutzmechanismen und Selbstwert sind, zeigt sich auch in der Tendenz der Japaner, sich ohne ersichtlichen Grund von vornherein zu entschuldigen und sich im nachhinein für einen imaginären Gefallen zu bedanken. Anders als die christlichen transzendentalen Prinzipien wie Schuld und Sühne werden Scham oder Beschämung in den japanischen Alltagscodes durch kontextuelle Verhaltensgebote geregelt. Das Geben und Nehmen ist denn auch in den Höflichkeitsfloskeln der japanischen Sprache strukturell verankert, wie ein linguistischer Exkurs belegt.

Das wohl luzideste Kapitel des Buches widmet sich der japanischen Kultur des Schenkens und der "Ökonomie der Gabe". Diese ist weniger eine Herzens- als eine Vertragsangelegenheit - wie die "Pflichtschokolade" am Valentinstag oder das "Weihrauchgeld" bei Beerdigungen. Geldscheine, die man zur Hochzeit schenkt, müssen druckfrisch und die für ein Begräbnis alt und abgenutzt sein. Der Autor erkennt den Gabenkreislauf im Spannungsfeld von Pflicht und Neigung als Teil eines sozialen Systems, das von Ehre und Ansehen, Patronage und Abhängigkeit geprägt ist.

Coulmas legt im folgenden dar, wie sich die Gabe historisch in einen Vertrag verwandelte. Während die Schüler früher bei der Aufnahme in Privatuniversitäten zur Besiegelung des besonderen Lehrer-Schüler-Verhältnisses ihren Lehrern Geschenke übergaben, wurden seit 1868 Studiengebühren eingeführt. Die Modernisierung des Landes versachlichte die menschlichen Beziehungen, ohne dem Brauch auf privater Ebene ein Ende bereiten zu können. Bei der Regelung der Staatsgeschäfte aber bringt er die strukturelle Möglichkeit des Mißbrauchs mit sich, wenn Privates in Professionelles übergeht. Coulmas hat deshalb die These von einem "kulturspezifischen Charakter" der Korruption entwickelt.

Der Autor führt hierbei eine für den Nichtjapanologen möglicherweise verwirrende Vielzahl japanischer Ausdrücke ein, die leider am Ende des Buchs nicht nochmals in einem Glossar aufgeführt werden. Gleichwohl dienen Begriffe wie "giri" (Pflicht) oder "on" (Güte, Gunst) - welche von der Feudalzeit herrühren, in der ein Samurai als Gunst seines Herrn, dem er diente, Land empfing - als zeit- und schichtenübergreifende Erklärungsmuster, die bis in die kapitalistische Gegenwart hineinwirken. Als roter Faden in seiner Kulturgeschichte legt Coulmas dar, wie jene über die Jahrhunderte verinnerlichten Denkmodelle und Zeitrhythmen wie der Glaube an günstige und ungünstige Tage oder Riten der Ahnenverehrung nach wie vor die Lebensabläufe mitbestimmen.

Coulmas entlarvt andererseits den westlichen Standpunkt von angeblich typisch japanischen Eigenschaften und lächelnd mißverstandenen Konzepten wie Konformismus, Harmonie und Hierarchie, die die gängigen Japan-Publikationen leitmotivisch durchziehen. So beinhalte der westliche Begriff "Konformismus" auch westliche Ideen über das Leben als soziales Wesen, während Japaner Konventionen nicht mit Eigenschaften wie "unpersönlich" und "farblos", sondern mit Anstand und Takt verbinden. Coulmas beschreibt die Kultur vielmehr als Gewebe, das im Hintergrund vielfältiger sozialer Schauplätze erkennbar ist - ob im Verhalten in den überfüllten U-Bahnen, im Schullied und den Zeremonien des Schulalltags oder in der Wohnphilosophie hinter den Fassaden westlicher Bauart. Auch wenn die "Ästhetik des leeren Raumes", die Coulmas als Charakteristikum klassischer japanischer Architektur ausmacht, wegen Platznot kaum noch aufrechtzuerhalten ist, finden sich in vielen Wohnungen immer noch traditionelle Strukturelemente wie Schiebetüren anstelle von Wänden und Tatami-Matten, die als indigene Maßeinheit der Architektur (0,90 mal 1,80 Meter) statt des westlichen metrischen Maßes den japanischen Interieurs ihre harmonischen Proportionen geben.

Auch die Inneneinrichtung moderner Großraumbüros, die als Abbild der Hierarchie der Mitarbeiter den Autor an die Sitzordnung am mittelalterlichen Hof erinnern, hat als Medium der Gruppenkontrolle wenig mit aufgeklärten westlichen Ideen (Transparenz, gläsernes Unternehmen) gemein. Bei seinem Vergleich der Betriebskulturen der Automobilindustrien von Nagoya, Detroit und Wolfsburg stellt Coulmas der patriarchalisch-personalisierten, aber konsensorientierten Firmenphilosophie des Ostens das materialistisch-versachlichte westliche System gegenüber.

Auch wenn der Autor demnach geistigen Strömungen wie dem Konfuzianismus oder Zen-Buddhismus eine prägende Rolle in vielen Bereichen der japanischen Gesellschaft zuschreibt - von der Lernkultur bis hin zur spartanischen Ästhetik der Architektur -, warnt er vor allzu verallgemeinernden Formulierungen wie "konfuzianischer Kapitalismus" oder vor kulturalistischen Fallgruben wie "Vom Samurai zum Manager". Er relativiert die angeblich genuin japanische Idee von der Firma als Familie, der lebenslangen Anstellung und letztlich das Wirtschaftswunder, indem er auf pragmatische Gründe für die Vollbeschäftigung und den japanischen Arbeitsmarkt vor dem Pazifischen Krieg verweist, in dem Entlassungen und Streiks gang und gäbe waren.

Auch die sprichwörtliche Liebe des Japaners zur Natur erweist sich, wie Coulmas in seinem abschließenden kunsthistorischen Kapitel unterstreicht, als grundverschieden vom westlichen Naturschutzgedanken. Das romantisch-verklärende Konzept der "unberührten Natur" entspreche einer westlichen dualistischen Ontologie, also einer Trennung von Körper und Geist, Fühlen und Denken. Dagegen entwerfe der Japaner, für den die "Natur als Kultur" weit weniger widersprüchlich sei, geistige Modelle, wie sie in der Zen-Gartenkunst exemplarisch zum Ausdruck kommen. Anders als im Westen verliefen in Japan auch die Grenzen zwischen Kunst und Handwerk. Das Töpfern etwa habe weit mehr als in Europa eine geistige Dimension, und in der Teezeremonie werde die Opposition zwischen dem Funktionalen und Beschaulichen aufgehoben.

Florian Coulmas ist ein Standardwerk gelungen, das ohne eurozentrischen Blick und fernab der ausgetretenen Pfade der Mythologisierung alternative Wege zum Verständnis der japanischen Alltagskultur anbietet.

STEFFEN GNAM

Florian Coulmas: "Die Kultur Japans". Tradition und Moderne. Verlag C. H. Beck, München 2003. 334 S., 31 Abb., 7 Tab., geb., 24,90 [Euro].

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