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Auf breites geschichtliches Material zurückgreifend, zeichnet Wolfgang Schivelbusch die Aufbrüche und die aus tiefer Demütigung kommenden Energieschübe nach, die Niederlagen den Besiegten bringen. Nicht nur eine Vielzahl aktueller Bezüge verblüfft, sondern auch eine grundlegende Einsicht: "Wehe den Siegern!"

Produktbeschreibung
Auf breites geschichtliches Material zurückgreifend, zeichnet Wolfgang Schivelbusch die Aufbrüche und die aus tiefer Demütigung kommenden Energieschübe nach, die Niederlagen den Besiegten bringen. Nicht nur eine Vielzahl aktueller Bezüge verblüfft, sondern auch eine grundlegende Einsicht: "Wehe den Siegern!"
Autorenporträt
Wolfgang Schivelbusch, geboren 1941, Dr. phil., Habilitation, ist freier Autor und lebt seit 1973 in New York und in Berlin. Er ist Träger des Heinrich-Mann-Preises 2003 der Akademie der Künste zu Berlin. Im Jahr 2014 wurde ihm der Lessing-Preis der Freien und Hansestadt Hamburg verliehen.
Rezensionen

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 20.10.2001

Mutter aller Niederlagen
Sucht nach Bewegung: Wolfgang Schivelbusch fragt, was man nach einem verlorenen Krieg macht
Vom Ende des Zweiten Weltkriegs ist in diesem Buch, das von Niederlagen handelt, wenig die Rede. Denn 1945 fand eine komplette Niederlage statt: ein Untergang. Und die völlige Erschöpfung des Landes war mit der schlimmsten Schuld gepaart. Es war eine Niederlage, an der nicht herumgedeutelt wurde. Für Wolfgang Schivelbuschs Betrachtungen ist sie vermutlich deshalb nicht komplex genug. Schivelbusch will generell gültige Dinge darüber sagen, wie Völker mit Niederlagen fertig werden, indem sie diese umdeuten oder verdrängen. Aber was er sagen will, kann er nicht anhand eines jeden verlorenen Krieges sagen. Deshalb hat er sich drei Niederlagen aus der Epoche der modernen Volkskriege ausgesucht, die seiner kulturhistorisch gesättigten Völkerpsychologie gelegen kommen. Sie repräsentieren drei unterschiedliche Varianten der psychischen Verarbeitung.
Wenn der Pulverdampf auf den Feldern sich legt, dann steigen in den Städten die Mythen: Als die amerikanischen Südstaatler vom Norden bezwungen waren, verloren sie sich an die Vorstellung, Vertreter einer noblen, wenngleich verlorenen Sache zu sein: Edward A. Pollards Roman „The Lost Cause” gab das Stichwort für diese nostalgische Attitüde, die es den Verlierern ermöglichte, doch wieder auf die Sieger herabzuschauen. „Es wäre die schlimmste Folge der Niederlage” schrieb Pollard 1866, „wenn der Süden durch sie seine moralische und geistige Identität verlöre und aufhörte, sich seiner überlegenen Zivilisation bewußt zu sein.” Der Süden „zog sich in seine von allen Elementen der Realität gereinigte Dornröschenburg romantischer ‘Chivalry’ zurück”, schreibt Schievelbusch. Er lebte im Traum, ein Hort der Ritterlichkeit zu sein, ein geistiges Bollwerk gegen das kapitalistische Nützlichkeitsdenken des Nordens.
Schivelbuschs zweites Verliererszenario heißt „Sedan”. Über dem deutsch-französischen Krieg von 1870/71 stürzte das zweite Empire. Wenige Monate später hatte die Republik den Krieg verloren, und die Nation flüchtete sich in die Forderung nach der „Revanche”, von der Léon Gambetta sagte, die Franzosen sollten „nie davon sprechen und stets daran denken”. Schivelbusch bringt die „Revanche” sowohl mit der Tradition des Duells wie mit den Spielregeln des Sports in Verbindung. Welch zivilisierte Form des Rachegelüstes sie war, zeigt sich auch an den sagenhaften Gestalten, die sie für ihre Sache aufbot: Jeanne d'Arc, den Ritter Roland und Vercingetorix. Sie waren Märtyrer, Unterlegene im Kampf für eine gerechte Sache. Schivelbusch glaubt, dass die Ideologie der Revanche in Wahrheit nicht auf Vergeltung zielte, sondern vielmehr auf „spirituellen Triumph durch heroisches Erdulden”.
Die dritte Niederlage kostete die meisten Menschenleben, und sie brachte den Topos hervor, der Schivelbusch offenkundig am stärksten fasziniert: Im Zentrum seines Buches steht – unausgesprochen – die Dolchstoßlegende. So wie er ihre „Antizipation” darin erblickt, dass die Pariser Kommune 1871 von ihren Gegnern verteufelt wurde, so entdeckt er auch „eine amerikanische Version der Dolchstoßlegende nach dem Vietnamkrieg”. Die Idee vom Verrat aus den eigenen Reihen muss einen Autor wie Schivelbusch deshalb so sehr intrigieren, weil sie die Analogie zwischen der Nation und dem Individuum der Psychoanalyse beflügelt: Das psychoanalytische Denken kann mit objektiven, mit wirklichen Gegnern wenig anfangen, viel interessanter erscheint ihm der Feind, der alter Ego ist.
Wolfgang Schivelbusch ist mit kulturgeschichtlichen Darstellungen bekannt geworden: Er hat über die Eisenbahn geschrieben, über die Geschichte der Gerüche und die der elektrischen Beleuchtung – solide gearbeitete und dabei originelle Bücher, kluge Synthesen der vorhandenen Literatur und der Quellen. Von großer Belesenheit zeugt auch sein neues Buch. Allerdings gibt der Autor sich mit der klassischen Kulturgeschichte nicht mehr zufrieden. Wolfgang Schivelbusch, der nicht von Lehrverpflichtungen auf den Boden des historiografischen Konsenses genötigt wird, hat seine Ansprüche an sich selbst und an seinen Stoff in enorme Höhen geschraubt.
„Die Kultur der Niederlage” vermittelt allenthalben den Eindruck, als wäre die Geschichte als solche dem Autor nicht vielsagend genug. Historische Ereignisse beschäftigen ihn vornehmlich dann, wenn sie als Ausformung einer Gesetzmäßigkeit oder doch wenigstens als historische Wiederholung dargestellt werden können. Den Aufständischen der Pariser Kommune zum Beispiel traut Schivelbusch nicht zu, dass sie für die Freiheit der Gemeinden und sozialistische Ideen kämpften. Auch die politischen Anliegen der deutschen Revolution von 1918/19 nimmt er nicht ernst. „Niederlagen”, schreibt er, „sind Zeiten des Vatermords und der Rückbesinnung auf die Mutter Nation, zu deren Rettung und Bewahrung nun die Söhne aufstehen. Daher die Revolutionen – das Wegfegen der Verliererväter.”
Zeiten des Vatermords
Also bezeichnet er Napoleon I., die Regierung des Second Empire und die deutsche Reichsregierung von 1918 als „Sündenböcke”, denen die Schuld an der Niederlage in die Schuhe geschoben worden sei – und übersieht dabei, dass ein Sündenbock der Definition nach unschuldig ist, wohingegen die genannten ihre Kriege absichtlich begannen und durchaus Leid über ihre Untertanen brachten.
Den Menschen, die die Geschichte machten, wähnt Schivelbusch sich zwiefach überlegen: Als Psychohistoriker weiß er besser als sie, was sie bewegte. Und als Kulturhistoriker weiß er, wann sie lediglich meinten, eigenem Ermessen gemäß zu reden, während sie in Wahrheit ihren Part in einer historischen Reprise nachsprachen. Beispiel: „Die Wilsonsche Forderung nach Abschaffung der Militärmonarchien Mitteleuropas” war „nichts anderes als die Wiederholung der Forderung des Abolitionismus nach der Abschaffung der Sklaverei.” Oder: „Ein Vergleich der amerikanischen Weltkriegspropaganda ab 1917 mit der des Bürgerkriegs” zeigt „bis in die Formulierungen hinein dieselbe Psychologie der Verteufelung des Gegners.” „Die Mahnung an den Sieger von 1870/71, sich nicht zu überheben, war wie so vieles andere eine Wiederaufnahme der Rhetorik, mit der sich die öffentliche Meinung in Frankreich nach dem Siebenjährigen Krieg getröstet hatte.” „Bis in die Wortwahl hinein gleichen sich die Beschreibungen der Zusammenbrüche von 1918 und 1932”, die Deutschland erschütterten.
Die Fülle der Parallelen, die Schivelbusch zieht, entkräftet ihre Plausibilität. Fatal wird das dort, wo der Autor aus so großer Distanz auf die Dinge blickt, dass er nicht zu merken scheint, wenn er vom Apolitischen ins Reaktionäre abgleitet. Seine weiträumigen Periodisierungen – die ganze Weimarer Republik sei „ein Megazusammenbruch”, der Zweite Weltkrieg wird als Teil eines „Weltbürgerkriegs” verbucht – machen die Zuweisung politischer Verantwortlichkeiten unmöglich.
So werden Täter zu „Sündenböcken”, und das Politische löst sich in psychologische Phantasmen auf. Der Nationalsozialismus schrumpft – und wächst zugleich – zu einer Modernisierungs- und Rationalisierungsbewegung. Diese These ist alt, aber anders als Schivelbusch glaubt, wird sie nicht von „der” Forschung, vertreten, sondern von der Sorte Leute, die von deutscher Leitkultur reden und die nationale Identität beschwören.
Als Bewunderer Walter Rathenaus denkt Schivelbusch, dass die Ökonomie unser Schicksal sei. Außerdem hält er die Ökonomie des zwanzigsten Jahrhunderts für so etwas wie Krieg mit anderen Mitteln. Im Schlußkapitel verschwimmen alle möglichen Schlagwörter in einer assoziativen Kette. Die geht ungefähr so: Rationalisierung – Taylorisierung – nationalsozialistische Modernisierung – Amerika als Vorbild – Propaganda – Kino und Volkswagen – Autobahn – Rausch der Geschwindigkeit – und daran anschließend ein furioser letzter Satz in den unverdünnten Unfug: Der Verkehr auf der Autobahn erinnert Schivelbusch an die vielen Formen „jenes Bewegungstriebes”, welcher „uns als ‘Levée en masse’, als ‘gymnastique’, Turnen und Sport – vor allem Rennsport – , als Tanzsucht, als Fließbandutopie, Girlmaschine, Weltverkehrsplatz und schließlich als arditi des Faschismus und Sturmabteilungen des Nationalsozialismus begegnete”. Abschließend fragt er: „Könnte es sein, dass die Sehnsucht nach Bewegung bei der Verarbeitung des nationalen Niederlagentraumas das zentrale Element ist?” So kann es gehen mit der frei flottierenden psychologischen Kulturgeschichte: Manchmal driftet sie ab. FRANZISKAAUGSTEIN
WOLFGANG SCHIVELBUSCH: Die Kultur der Niederlage. Der amerikanische Süden, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 464 Seiten, 69,34 Mark.
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Thesen und Prothesen für angeschlagene Nationen
Der Krieg ist der Vater aller Dinge, die Niederlage die Mutter aller Schuldzuweisungen: Wolfgang Schivelbusch vergleicht die Mythen der Verlierer / Von Jürgen Kaube

Der Krieg ist die mythogene Situation par excellence. Was immer Jäger oder Forscher von ihren Ausflügen ins Unbekannte erzählen, kommt an Intensität und Sinnverlangen den Nachwirkungen gewaltsamer Konflikte in der Einbildungskraft der ihnen Ausgesetzten nicht gleich. Im Krieg selber freilich wird, allen Befunden der Militärsoziologie nach, nicht viel vom Krieg erzählt. Genauer: Die Begleitgeräusche des Krieges, Propaganda, Konstruktion des Feindes und Mobilisierung zu außergewöhnlichen Anstrengungen, setzen zumeist Distanz zum Kampfgeschehen voraus. Der Mythos ist ein Kind des Sieges und der Niederlage, des Entronnenseins, der Demütigung und des Triumphes. Weit entfernt, überhistorische Tatbestände der politischen Geschichte zu sein, sind Sieg und Niederlage dabei ganz alte und ganz junge Reizquellen kollektiver Einbildungskraft. In einfachen Gesellschaften engagierte der Krieg das ganze Gemeinwesen und bot insofern zu Mythen vom Rang der "Ilias" und "Odyssee" den umfassenden Erfahrungsstoff. Zunehmend aber beschränkte sich die Deutung des Siegens und Besiegtwerdens auf die kriegführenden Schichten als ein besonderes Segment des Ganzen, auf Söldner und Militär, den Adel, den Hof. Der Krieg wurde gewissermaßen zur professionellen Erfahrung und später sogar - einer Formulierung des vorliegenden Buches zufolge - "wie ein Aktenvorgang geführt". Für die meisten blieb er ohne tatsächliche oder eingebildete Todesdrohung.

Erst seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts, als bereits die Massenmedien im Krieg ihre Wirkung zu entfalten beginnen und das "Volk" als beider Resonanzkörper beansprucht wurde, teilt sich der Konflikt wieder ganzen Populationen mit. Seitens der Kriegführenden wird dem Demos zunehmend eingeschärft, es gehe ums Ganze, am Ende sogar um die Welt. Da das Kampfgeschehen aber lange Zeit noch, anders als dann im Zweiten Weltkrieg, weitgehend nach alter Manier begrenzt bleibt, kommt es zwischen 1800 und 1918 zu einer kulturgeschichtlich einzigartigen Situation: Der Krieg ist bereits ein Sachverhalt kollektiver Sinngebung, ohne aber schon selber als Krieg mittels des Kollektivs geführt zu werden. In der Epoche der Bildung und Machtentfaltung von Nationalstaaten ergriff die Vorstellung, vom Ausgang eines Krieges nicht nur materiell, sondern intellektuell, seelisch und kulturell betroffen zu sein, die Öffentlichkeit, oder die "Massen", wie man oft sagt. Erst hier trieb die Beteiligung aller möglichen Kreise am Krieg und das Interesse an einer Sinngebung seines Ausganges wieder eine Vielfalt politmythologischer Blüten hervor.

Über drei Kriege dieser Epoche handelt Wolfgang Schivelbusch; über den ersten Krieg innerhalb einer Massendemokratie, über das vielleicht kürzeste Duell zweier moderner Großmächte und über den ersten Weltkrieg. Er charakterisiert und vergleicht, wie die Besiegten von 1866, 1871 und 1918 ihre Niederlage verarbeiteten und aus welchen Deutungstraditionen sie hierfür schöpfen konnten. Dabei schreibt er nicht nur äußerst anschauliche, reich mit anekdotischer Evidenz versehene Nachkriegsgeschichten der amerikanischen Südstaaten, Frankreichs und Deutschlands. Ohne schematisch vorzugehen oder bloß eine sozialpsychologische Theorie durchs Material laufen zu lassen, geht es dem Autor um Reaktionsmuster auf Niederlagen, sich wiederholende Verhaltensweisen der Unterlegenen. Vor allem aber geht es um Zurechnungen. Gefragt wird von Schivelbusch also weniger nach den tatsächlichen Gründen der jeweiligen Niederlage als danach, worin die Zeitgenossen solche Gründe fanden und wo solche Gründe überhaupt typischerweise von Verlierern gesucht werden.

Typischerweise werden die Besiegten grundsätzlich. Im Zeitalter ideologisch motivierter Kriege bleibt es nicht dabei, den Verlust auf strategische, ökonomische, technologische Defizite oder den Zufall, Gottes Beistand zurückzuführen. Die Frage wer einen Krieg gewonnen hat, ist zumeist nicht schwer zu beantworten. Um so bedeutsamer wird für den Verlierer die, was gesiegt beziehungsweise verloren hat. Die Frage nach den Prinzipien, die gesiegt oder verloren haben, wird dabei nach innen wie nach außen gerichtet. Nach innen beginnt die Verarbeitung beinahe jeder Niederlage mit der Formulierung, das bisherige Regime habe sich der Abweichung vom Wesen der Nation schuldig gemacht. Mancher wird auf Schwachstellen einst gepflegter Ideologien aufmerksam. Nach außen wird die Frage der prinzipiellen Gründe fürs Verlieren doppelt beantwortet.

Zum einen soll der Sieger nicht aus guten Gründen gewonnen haben. Er habe sich nicht an die Regeln gehalten und verdanke seinen Sieg außermilitärischen Tatbeständen wie seiner Wirtschaftsmacht oder seiner Rücksichtslosigkeit. Der Verlierer ist dann für einen höheren Wert geschlagen worden, ist Märtyrer nicht nur seiner, sondern einer allgemeinen Sache. Das erhält ihm die Würde. Die Südstaaten statteten sich mit chevalresken Attributen aus, während den Norden merkantile Rohlinge bevölkerten. Dem Bürgerkrieg ging eine märchenhafte Beschreibung des Nord-Süd-Dualismus voran: Wildnis und Garten standen darin einander gegenüber, Lohnarbeit und sklavereigestützte Muße, protestantische Ethik und antiker Epikuräismus, Yankees und Gentlemen. Je mehr der Süden dabei ökonomisch ins Hintertreffen geriet, desto elaborierter wurden seine Vorstellungen zivilisatorischer Überlegenheit. Mit dem Krieg verwandelte sich die Sklaverei, die zuvor als notwendiges Übel einer agrarischen Produktionsweise galt, zum kulturellen Argument: Besser als "weiße Sklaverei" sei sie allemal, eine Form patriarchalischen Sozialismus'.

Damit solche Vorstellungen besser wärmten, kleidete man sich in schottisches Tuch. Bereits vor dem Krieg hatte eine Welle der Begeisterung für die Romane Walter Scotts den Süden ergriffen: Man fühlte sich elegisch in das mittelalterliche Schottland ein, führte Turniere auf. "Es gibt Mythen im Wartestand", formuliert Schivelbusch und meint damit sowohl diesen Ritterkult wie die französische Belebung der Figur Jeanne d'Arcs und des Rolandliedes nach 1871 oder die Wagner-Verehrung der Deutschen, die nach 1918 auf freilich seltsame Weise auch die Dolchstoß-Legende instrumentieren sollte.

Diese Kritik des Siegers ist eine am Fortschritt, als dessen Repräsentanten er sich gern darstellt. In der Formel vom "Vae victoribus!", deren erstaunliche Geschichte Schivelbusch erzählt, mischen sich die antike Warnung vor Hybris mit der christlichen Aufforderung zur Demut und Gewähr von Gnade. Die Frage, wer die Geschichte schreibt, Sieger oder Besiegte, wird in diese Geschichte selber eingeführt, die Verlierer sprechen sich die eigentliche Kraft zur Reflexion zu, denn der Sieger ist nicht nur der gedankenarme aber taten- und ruhmreiche Barbar. Er verkennt auch in seinem Triumph dessen zeitliche Begrenzung. In den Südstaaten führte das zur Melancholie und noch im zwanzigsten Jahrhundert zur für manchen Intellektuellen reizvollen Möglichkeit, Antikapitalist zu sein, ohne Marxist zu werden. In Deutschland wendete sich die Kritik nach innen, wurde der falsche Fortschritt von den Sozialdemokraten repräsentiert. Nur in Frankreich mußte man nach 1871 vorsichtig mit Fortschrittskritik umgehen, hatten sich die Verlierer doch selber in die Tradition von 1789 gestellt. Also bedurfte es zweier Fortschrittsbegriffe, um den deutschen Sieg als zwiespältige Leistung zu beschreiben. Kalt, mechanisch, berechnend, herzlos - Deutschland, das zuvor als romantisch versonnen galt, war von Preußen geschluckt worden, die offenbar Engländern ähnelten! Gesiegt hatte, so vor allem Victor Hugo, der rationale Egoismus anstatt die universalistische Vernunft. Frankreich war sowohl ihr Vertreter wie das Opfer der Universalgeschichte. Diese Doppelstellung hielt sowohl den reaktionären wie den republikanischen Kräften die Idee der Revanche wach. War die Niederlage in den Augen ersterer die Folge der Säkularisierung, so für die letzteren das Ergebnis des royalistischen und bonapartistischen Abweichens vom Pfad der republikanischen Tugend.

Aber die Kritik des Siegers ist nur eine Möglichkeit, seinen Erfolg zu verwinden. Zum anderen nämlich sehen sich diejenigen vom schlimmen Kriegsausgang gestärkt, die zum Lernen bei der anderen Nation auffordern. Niederlagen rufen Erzieher auf den Plan. Dem preußischen Schulmeister, der bei Sedan gewann, wird 1871 überlegenes Wissen und größere Disziplin zugeschrieben. Frankreich beginnt, sein Schulsystem zu reformieren, Intellektuelle schwärmen aus, um in Berlin oder Heidelberg zu studieren. Deutschland seinerseits erlebt nach 1918 zwei erzieherische Nachahmungsschübe. Die Reformpädagogik befindet, "rastlose Hirn- und Tretmühlen" hätten jene "pädagogischen Angstprodukte" hervorgebracht, denen im ersten Weltkrieg das Durchhaltevermögen fehlte. Um 1920 bricht dann ein wahres Fieber an Amerika-Bewunderung aus, wenn man so will: eine erste reeducation. Wie die Vereinigten Staaten sei Deutschland eine "junge Nation", weshalb man "germanische Lehren aus Amerika" (Wichard von Moellendorff) zu ziehen suchte. Die Abschnitte, in denen Schivelbusch diese Lehrstunden in Betriebswirtschaftslehre, Industriepsychologie, Jazztanz und Propaganda beschreibt, gehören unter den durchweg anregenden Motivreihen des Buches zu den anregendsten. Denn sie zeigen, daß das Lernen der Verlierer vor allem ein Ziel hat: von allgemeinen Merkmalen der Moderne nachzuweisen, daß es nationale Eigentumsansprüche an ihnen gibt. "Ford-Methoden bedeuten nichts anderes als die Wiedererweckung des preußisch-deutschen Dienst- und Arbeitsgeistes".

Eine ähnliche Pseudomorphose lokaler Traditionen an Strukturmerkmalen der modernen Gesellschaft hatte auch der amerikanische Süden versucht. Der nordstaatliche Yankee erschien nach dem Krieg nicht nur als ein rücksichtsloser Händler, sondern auch als Repräsentant der Zukunft. In den Südstaaten nahm darum mancher die Niederlage als eine Chance wahr, endlich die Industrialisierung der Region zu betreiben und anstelle aristokratischen Gehabes eine merkantile Mentalität zu entwickeln. "Der Stolz auf unsere ruhmreiche Vergangenheit wird nicht nur dadurch eingeschränkt, daß sie endgültig vorüber ist, sondern auch durch die Erkenntnis, daß sie nur um den Preis materiellen Erfolges möglich war", befindet eine zeitgenössische Stimme. Aber aus der Industrialisierung wurde nichts. Auch später, als unter dem Titel "New South" die Möglichkeit beschworen wurde, den von der Natur verwöhnten Süden als Rohstofflager und "Industrie-Arkadien" zu nutzen, griff die Ideologie ins wirtschaftliche Nichts. Schivelbuschs Deutung: Der Süden hätte um seines Aufschwunges willen den Norden als Modell anerkennen müssen, was ihm unmöglich gewesen sei. Das größte Hemmnis für den ökonomischen Aufschwung des Südens sei dabei der anhaltende Rassismus gewesen.

Da der Autor für diesen Zusammenhang selber keine Argumente liefert, kann man seine Neigung, auch hier mentalitätsgeschichtliche Gründe für Strukturprobleme von Nachkriegsstaaten anzugeben, auf sich beruhen lassen. Worauf er zu Recht hinweist, ist der Nachahmungskonflikt, in den sich die Verlierer von Kriegen stets hineinmanövrieren. Stets wird dem Gegner zugestanden, irgendwie die Modernität auf seiner Seite gehabt zu haben - und sei es nur, weil eben dies zur Definition von Modernität gemacht wird: zu siegen. Stets wird aber auch gezögert, es ihm darin nun umstandslos gleich zu tun, ihn zu kopieren. Was stark ist an Deutschland, muß französisch interpretiert werden, um akzeptabel zu sein; Amerika wird zum Vorbild, aber nur was die Effizienzfreude, nicht was die Liberalität oder den Geschmack am starken Egoismus betrifft. Je deutlicher sich die Züge der modernen Gesellschaft weltweit ausprägen, desto empfindlicher scheinen die Nationalstaaten für ihre besonderen Merkmale zu werden. Man sieht sich allenthalben auf Sonderwegen, weil man stärker auf regionale Unterschiede als auf historische Parallelentwicklungen achtet. Und man neigt zugleich, unter dem modernen Druck zur Generalisierung aller Begriffe und Werte, auch anderen Nationen auf diesen Sonderweg zu zwingen, ihre Überlegenheit zu behaupten.

Der andere Name jenes Imitationskonfliktes, der sich hieraus ergibt, lautet "Revanche". Schivelbusch erörtert ausführlich die Herkunft dieses Begriffs, der für Frankreich nach Sedan so bedeutsam wurde. Damit wird deutlich, daß eine wichtige Variable zur Erklärung von Mythologien der Besiegten die Zahl der Gegner ist, denen sie unterlagen. An Alliierten kann man sich nicht revanchieren, die Atmosphäre des Duells ist dem Weltkrieg fremd. Man wird dann, wie es die Deutschen deuten mochten, zum Besiegten der ganzen Welt. Auch insofern nimmt der moderne Krieg leicht die Züge des Konfessionskrieges an, der Querschnittsgegnerschaften begünstigt.

Während die Südstaaten mit der Formel von der "Lost Cause" in der Niederlage Trost fanden und die Franzosen mit der "Revanche" ein Revitalisierungsmittel ergriffen, schlug die Mythenbildung in Deutschland nach 1918 fehl. Das Äquivalent für jene Formeln lautete damals "Im Felde unbesiegt". Schivelbusch weist darauf hin, daß dem tatsächlich so war und auch die Alliierten sich überrascht über den Zeitpunkt der deutschen Kapitulation zeigten. Eine Art Nervenzusammenbruch jener Generation von Befehlshabern und Politikern, die Größe im wilhelminischen Staat immer nur spielte anstatt zu beweisen, habe sich ereignet. Auch die reinigende Erhebung des Volkes blieb aus, "Packen Sie das Volk. Reißen Sie es hoch", forderte der unselige Ludendorff, um grotesk hinzuzufügen "Kann das nicht Herr Ebert tun?" Noch im November 1918 erdachte man die nicht minder absurde Idee des "Königstodes" für Wilhelm II.: "Ein kleiner Spezialangriff an geeigneter Stelle, für den Kaiser, an der Front den Heldentod zu finden, für seine Getreuen, ihm auf diesem Wege zu folgen." Aber der Kaiser wollte lieber doch kein Mythos werden.

Schivelbuschs Darstellung enthält sich jeder Sympathien für Sieger oder Besiegte. Dennoch gibt es in ihr einen Helden der Niederlage, ein Beispiel dafür, wie mit den Lasten des Verlorenhabens politisch vorbildlich umgegangen werden kann: Léon Gambetta. Das Kriterium dafür, Held einer Niederlage zu sein, ist dabei ein doppeltes: Er muß aus dem Mythologiegestrüpp herausführen wollen, aber ohne seine Bedeutung zu verkennen. Die Republik wurde in Frankreich am 4. September 1870 ausgerufen, die furchtbare Niederschlagung der Kommune ergänzte den Vorgang kathartisch. Nach 1918 scheint Walther Rathenau einen Moment lang die Rolle Gambettas übernehmen zu können. Doch die Bedingungen dafür, von der Niederlage zur Volkserhebung überzugehen, waren nicht gegeben. Es sind kurze Kriege mit hohem emotionalen Engagement der Bevölkerung, deren Verlust die Kollektivpsyche so überfordert, daß sie sich in Revolutionen Luft macht.

Sowohl im amerikanischen Süden wie in Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg ging der Niederlage aber ein Abnutzungskrieg voran. Ku-Klux-Klan, Spartakus und Freikorps spielten nur Revolution. Nicht zuletzt führt die zunehmend bedeutsame Existenz der Unterhaltungsindustrie dazu, daß emotionale Abfuhrreaktionen sich unpolitisch äußern. Schivelbuschs bemerkenswerte Skizze der "Tanzwut", die sich nach dem Ende des Ersten Weltkrieges in Europa breitmachte, zeigt insofern nicht nur das wiederholte Phänomen einer Befreiungstanzmanie: Walzer 1789, Cancan 1830, Jazztänze 1918/19. Sie dokumentiert auch, wie das gesamte Buch, daß das Gelingen von Mythenbildungen und rituellen Übungen, die von der Last der Niederlage befreien, immer unwahrscheinlicher wird. Immer komplexer werden die Rücksichtnahmen, die solche Mythen zu leisten hätten, immer weniger einleuchtend die Suche nach einfachen Ursachen und evidenten Gründen eigener Schwäche. Insofern war es wohl nicht nur den Komplikationen im historischen Verlauf und im Mythenarsenal der Deutschen geschuldet, wenn sie ihre Niederlage nach 1918 so trostlos verarbeitet haben.

Schivelbusch selber enthält sich jeder Auskunft über Trends im Wandel jener "Kultur der Niederlage". Warum, geht aus einer Wendung wie dieser hervor: "Daß die Niederlage, so beharrlich sie auf einer Ebene des Bewußtseins geleugnet wird, auf einer anderen eine derart überraschende Fügsamkeit gebiert, erklärt sich eben damit, daß sie im selben Moment, da sie von einer kollektiv erträumten Zukunft den Vorhang zuzieht, den Prospekt auf eine glorreiche nationale Vergangenheit eröffnet." Denn hier zeigt sich vielleicht die einzige Schwäche des Buches. Kann doch von einem Bewußtsein gar nicht die Rede sein, das hier jeweils verliert, Mythen bildet, sich fügt - und also auch nicht von "verschiedenen" Ebenen desselben, wenn innerhalb eines publizistischen Zusammenhanges einander entgegengesetzte Stimmen laut werden: die einen leugnen, was die anderen anerkennen und womit die dritten schon arbeiten. Schivelbusch neigt dazu, die Nationen als Kollektivsubjekte zu behandeln und mit einer Mentalität auszustatten. Das verleiht seiner Untersuchung ihre Einheit, wird aber auch dadurch nicht zutreffender, daß es bei ihm eine sehr differenziert und sehr farbenreich gezeichnete Mentalität oder "Kultur" ist. Wie bedeutend Schivelbuschs Darlegungen sind, bemerkt der Leser spätestens dann, wenn ihm auffällt, daß dieser äußerst grundsätzliche Mangel an keiner Stelle der Lektüre auch nur im geringsten verhindert, aus ihnen zu lernen.

Wolfgang Schivelbusch: "Die Kultur der Niederlage". Der amerikanische Süden 1865, Frankreich 1871, Deutschland 1918. Alexander Fest Verlag, Berlin 2001. 464 S., geb., 69,34 DM.

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