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Für Robert Bly ist unsere heutige Gesellschaft geprägt von der Weigerung des einzelnen, erwachsen zu werden. Politisches Bewußtsein, soziales Engagement, die Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln werden mehr und mehr zugunsten von schnellem Erfolg, Geld, Spaß, Entertainment aufgegeben. Wie schon in seinem Bestseller "Eisenhans" benutzt der Autor Gedichte und Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, um dieses beunruhigende Phänomen zu analysieren, und anhand der Texte auf mögliche Lösungen hinzuweisen.

Produktbeschreibung
Für Robert Bly ist unsere heutige Gesellschaft geprägt von der Weigerung des einzelnen, erwachsen zu werden. Politisches Bewußtsein, soziales Engagement, die Auseinandersetzung mit den eigenen kulturellen Wurzeln werden mehr und mehr zugunsten von schnellem Erfolg, Geld, Spaß, Entertainment aufgegeben. Wie schon in seinem Bestseller "Eisenhans" benutzt der Autor Gedichte und Märchen aus unterschiedlichen Kulturkreisen, um dieses beunruhigende Phänomen zu analysieren, und anhand der Texte auf mögliche Lösungen hinzuweisen.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 21.07.1997

Das Reich des Bösen beginnt vor der Haustür
Robert Bly hat das Gefühl, Amerika brauche den Rat eines erfahrenen Mannes

Allmählich verliert man den Überblick über derzeit gehandelte Gesellschaften. Wir hatten schon die Dienstleistungs-, Wegwerf-, Ego-, Teilzeit-, Risiko-, Konsens-, Konflikt-, Erlebnis-, Freizeit-, Kommunikations-, Informations-, Multioptions- und Wissensgesellschaft. Erst kürzlich erfuhren wir von der "Last-Minute-Gesellschaft" und der "Wegschau-Gesellschaft".

Vermutlich ist der Grund für dieses Heißlaufen der Produktion von Gesellschafts-Etiketten die Jahrtausendgrenze. Fabulieren die einen von der strahlenden Zukunft der "Zweiten Moderne", so offeriert uns der preisgekrönte Lyriker, Übersetzer von Neruda und Rilke und professionelle Geschichtenerzähler Robert Bly nun die "kindliche Gesellschaft" in düstersten Farben. Seitdem ihm 1990 mit seiner Überinterpretation des Grimmschen Märchens vom "Eisenhans" ein Kultbuch der Männerbewegung gelang, ist Bly auch bei uns kein Unbekannter mehr. Die ihm jetzt zugeschriebene "kindliche Gesellschaft" jedoch ist eine Schöpfung der deutschen Übersetzer, die diese aus dem Originaltitel "Geschwistergesellschaft" (The Sibling Society) bastelten und der sie dazu noch den tadelnden Untertitel "Über die Weigerung, erwachsen zu werden" anhängten.

Das Buch ist keine wissenschaftliche Arbeit. Obwohl der Autor Forschungsergebnisse aus Soziologie, Anthropologie, Psychologie und Hirnforschung ausschlachtet, sind Blys Einschätzungen empirisch nicht gesichert, seine Erklärungen nicht widerlegbar. Die Beurteilung seiner Aussagen wird zur Frage von Glauben oder Nichtglauben. Die Gefahr dieses Buches liegt darin, daß viele der Behauptungen und Alltagsbeobachtungen Robert Blys so fürchterlich plausibel zu sein scheinen.

Kulturkritik hat immer Konjunktur. Vor Bly profitierten Christopher Lasch, Neil Postman und Richard Sennett von der gleichen Masche. Bly offeriert aufgewärmte Kulturkritik an der (vermeintlich) permissiven "Massengesellschaft" mit ihren (vermeintlichen) Tendenzen der Gleichmacherei, des Konsumterrors, des allgemeinen Autoritäts- und Werteverlusts. Seine Trauer über den (vermeintlichen) Verlust der paternalistischen Gesellschaft mit ihrer (angeblich) ehrwürdigen horizontalen Hierarchie und der (vermeintlichen) Preisgabe des "indo-europäisch-islamisch-jüdischen Triebkontrollsystems" ist auch nicht gerade sehr originell.

Blys Erzählungen machen uns weis, daß die Gesellschaft der Vereinigten Staaten geprägt sei von der Infantilisierung ihrer Mitglieder. Diese Gesellschaft sei bestimmt durch Vaterlosigkeit, die Junk-Kultur, die Beförderung vorzeitiger und bedeutungsloser Sexualität, die Zerstörung der Höflichkeit und wirtschaftliche Unsicherheit. Keiner wolle mehr erwachsen sein, es gehe nur noch um das Ausleben der Triebimpulse, alle drückten sich vor Verantwortung. Es herrsche eine große Rangelei um die Angebote der "sinnentleerten Konsumgesellschaft". So entstehe eine Gesellschaft rivalisierender und neidischer Geschwister, ohne wirkliche Mütter und vor allem ohne echte Väter. Die wahren Leidenschaften würden vernichtet, die Spiritualität der Menschen sei zerstört, ihre Seelen seien beschädigt. "Authentisches Leben" werde unmöglich in dieser aus Halberwachsenen bestehenden Fun-Gesellschaft, die einem ewigen Jugendlichkeitswahn folge. Des Märchenerzählers Fazit: Die amerikanische Gesellschaft "versinkt langsam in Habsucht, Konsumgier und dem Verlust der Kontrolle über die niederen Hirnregionen".

Schuld an diesem Siegeszug der "kindlichen Gesellschaft" tragen für Bly Michael Jackson, Madonna und MTV. Oder, allgemeiner, das Fernsehen, die kommerzielle Werbung, die Computer-Kultur, das Internet, das Piercing, die "National Rifle Association", die Politik, und vor allem der "Konsumkapitalismus". Es fiele leicht, sich über dieses Buch eines politisch heimatlosen Reaktionärs lustig zu machen. Vor allem über seinen Multi-Kulti-Mix aus "westlicher" Hirnforschung, Verweisen auf die klassische Musik Persiens, psychoanalytischer Märcheninterpretation, aktuellen politischen Ereignissen, "Twin Peaks" und "Forrest Gump", Sigmund Freud und den Visionen der Sufis, Konrad Lorenz und Janis Joplin, Pablo Casals und der kompletten "Frauen- und Männerliteratur". Der verführerische Sog des bildhaften Denkens Blys in Kombination mit seinem grenzenlos naiven Antikapitalismus sollte aber nicht vorschnell unterschätzt werden. Gerade wegen seiner Unzahl banaler Wahrheiten, wie: "Wir Amerikaner haben als Nation keine Vorstellung, wie mit der Gier im allgemeinen umzugehen ist", oder: "Das Fernsehen stiehlt dem Menschen die Zeit", werden viele Leser seinen Thesen vermutlich zustimmen.

Daß die heutigen westlichen Gesellschaften krank sind, darüber sind sich derzeit viele einig, die mit ihren gedruckten Zerrbildern viel Geld machen. Blys neues Buch behauptete sich zehn Wochen lang auf Platz eins der Bestseller-Liste der "New York Times". Manchen Leser hat Bly wohl auch in den "dumpfen Wählermassen" gefunden, die der Minderheit der "hellsichtigen Wähler" ihren Einfluß aufzwangen, indem sie zwei vaterlose Männer, den "jugendlichen" Bill Clinton und seinen republikanischen Gegner Newt Gingrich, zu politischen Führern machten.

Die Kommunitarier diskutieren darüber, wie Rechte und Pflichten in einer demokratischen Bürgergesellschaft auszutarieren sind. Geschickt schaltet Bly sich in diese Debatten ein und offeriert eine pseudo-psychoanalytische Therapie: Das "vaterlose Amerika" braucht wieder Mentoren. "Es geht um die Wiedereinführung kluger Rituale, die sich nicht um patriarchalische Prinzipien der Männlichkeit drehen, vielmehr um Rituale, denen Männer wie Frauen zustimmen können." Jeder braucht seinen eigenen Eisenhans, und schon wird alles wieder gut.

Eigentlich gehört dieses Buch zur Gattung der Selbsthilfeliteratur. Der Witz dabei könnte sein, daß es wohl kaum die Twens, sondern eher die Fünfzigjährigen lesen werden. Vielleicht hilft es ihnen, erwachsen zu werden. Ansonsten kann man nur wünschen, daß Blys Zukunftsversion des wilden Mannes, der noch mehr Männer mit Rüstungen und Pferden für den Großen Kampf versorgt, nicht eintritt. DIRK KAESLER

Robert Bly: "Die kindliche Gesellschaft". Über die Weigerung, erwachsen zu werden. Aus dem Amerikanischen von Klaus Fritz und Reinhard Tiffert. Kindler Verlag, München 1997. 383 S., geb., 44,- DM.

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