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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.04.2011

Schock und schwere Not

Deftige Tabuverletzungen als Stilprinzip? Gerold Späths neu aufgelegter Roman "Die heile Hölle" wirkt aus der Zeit gefallen. Was ihn rettet, ist seine raffinierte Rhetorik.

Er orientierte sich am Barock und dem Schelmenroman. Rabelais war ihm gefühlsverwandt, Grimmelshausens tumber Simplicissimus hätte ohne weiteres auf seiner literarischen Weltenbühne auftreten können. In einer Mischung aus Überschwenglichkeit, Deftigkeit und ornamentaler Sprachwut näherte sich der Schweizer Gerold Späth, angefangen vom Erstling "Unschlecht" (1970) über den Familienroman "Balzapf oder Als ich auftauchte" (1977) bis zu "Barbarswila" (1988), thematisch immer jenen Faktoren, welche die Welt im Innersten zusammenhalten: Liebe und Macht, Gier, Gewalt und Vergänglichkeit.

Nun legt der Lenos Verlag anlässlich der Verleihung des Gottfried-Keller-Preises, den Gerold Späth für sein Gesamtwerk erhielt, mit "Die heile Hölle" sein viertes Buch wieder auf. Es erschien 1974 erstmals bei Artemis. Wenn der Roman durch seine statische Konstruktion auch nicht zu seinen stärksten zählt, lassen sich doch die für das Gesamtwerk charakteristischen Züge ablesen. Dem Schriftsteller ging es im Kern immer um die satirische Denunziation spießbürgerlicher Verhältnisse. Die pralle Sinnlichkeit verdeckt bei ihm nur eine grimmige Karikatur der Familie, die nach außen den schönen Schein pflegt, im Inneren aber wurmstichig ist.

Modellhaft arbeitet Späth in "Die heile Hölle" die Verbiegungen der Charaktere anhand von Vater, Mutter, Tochter, Sohn heraus. Das Erzählkonzept ergibt gleichzeitig den vierteiligen Grundriss. Aus ihrer je unterschiedlichen Perspektive blättert er im Fotoalbum des Familienlebens. Was er dabei zutage fördert, ist alles andere als eine fromme Idylle. Der Vater, ein verklemmter, stinkreicher "Sack", der die ehemalige, um einiges jüngere Sekretärin auch wegen des einflussreichen Schwiegervaters heiratete, entpuppt sich als Voyeur und Lüstling. Eines Tages erschlägt er im Wald eine Frau. Die Mutter kompensiert ihre Einsamkeit mit heimlichen Ausflügen zu einer lesbischen Freundin. Die Tochter ordert einen perversen Callboy. Der Sohn, ein erfolgloser Geschäftsmann, begeht angesichts der Sinnlosigkeit seiner Existenz Selbstmord.

Es geht abstrus, opulent und etwas klischiert zu in Gerold Späths frühem Werk. So viele Jahre nach der Erfindung der Psychoanalyse wirkt die literarische Versuchsanlage reichlich konstruiert. Zu deutlich schimmert die Absicht durch, Freuds Verdikt von der "Familienhölle" in ein konkretes Szenario umzusetzen. Verdrängte Triebe und verborgene Ängste, verbotene Phantasien und verhüllte Inzestwünsche - alles kommt in diesem Roman überdeutlich zur Sprache. Späth hat es mit den sexuellen Tabuverletzungen auf die skandalisierende Entlarvung des Spießerglücks abgesehen sowie auf die Aufdeckung verborgener Konflikte. Was anfangs der Siebziger überzeugend war, kann heute, im Zeitalter der popularisierten Psychoanalyse und erst recht nach der Bilderflut der digitalen Pornowelle, kaum mehr überraschen.

Unter literaturhistorischer Optik allerdings entdeckt man, dass Gerold Späth sechs Jahre nach der sexuellen Liberalisierung der Achtundsechziger durchaus unerschrocken neues Gelände betrat und hier mutwillig experimentierte. Dank der überbordenden Sprache und den eigenwilligen Einfällen liest sich dieser Roman dann doch wieder mit Genuss.

PIA REINACHER

Gerold Späth: "Die heile Hölle". Roman.

Lenos Verlag, Basel 2010. 260 S., geb., 19,50 [Euro].

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