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Rotarmisten, bestechliche Milizionäre, Deserteure, Banditen, Hunderttausende Kriegsversehrte, Waisen und Bettler. Sie prägten das Bild Nachkriegspolens. Marcin Zaremba nimmt den Leser mit auf die schockierende Reise in eine Zeit, die aus der Erinnerung der Polen verschwunden ist - in ein durch den Krieg entvölkertes Land der Angst, Armut und Unsicherheit. Die große Angst ist die Geschichte der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, bar aller Mythen und Legenden über die Befreiung vom Faschismus.Der Autor zeigt eine zerstörte Gesellschaft, in der Vergewaltigungen und Plünderungen an der…mehr

Produktbeschreibung
Rotarmisten, bestechliche Milizionäre, Deserteure, Banditen, Hunderttausende Kriegsversehrte, Waisen und Bettler. Sie prägten das Bild Nachkriegspolens. Marcin Zaremba nimmt den Leser mit auf die schockierende Reise in eine Zeit, die aus der Erinnerung der Polen verschwunden ist - in ein durch den Krieg entvölkertes Land der Angst, Armut und Unsicherheit. Die große Angst ist die Geschichte der ersten Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, bar aller Mythen und Legenden über die Befreiung vom Faschismus.Der Autor zeigt eine zerstörte Gesellschaft, in der Vergewaltigungen und Plünderungen an der Tagesordnung waren, in der die unsichere Zukunft die von fünf Jahren Besatzung geplagten Menschen um den Schlaf brachte. Gibt es einen neuen Krieg? Schaffe ich es, Hunger und Epidemien zu überstehen? Finde ich ein Heim und Arbeit in diesem Land, das nicht einmal feste Grenzen besitzt? Fragen wie diese stellten sich Millionen Menschen.Die große Angst ist nicht nur ein bahnbrechendes wissenschaftliches Werk über Gewaltgeschichte und Besatzungserfahrung, sondern auch die faszinierende Erzählung eines Historikers und Publizisten, dessen Beiträge in Zeitschriften und Zeitungen wie Polityka, Gazeta Wyborcza und Rzeczpospolita zu lesen sind.
Autorenporträt
Marcin Zaremba ist Dozent am Historischen Institut der Universität Warschau und am Institut für Politische Studien der Polnischen Akademie der Wissenschaften. Sein Interesse gilt vor allem der Gesellschaftsgeschichte der Volksrepublik Polen. Schon für seine Dissertation erhielt er den polnischen Historikerpreis »Klio« und wurde mit Preisen der Polityka und des Ministeriums für Kultur und Nationales Gedenken ausgezeichnet. "Die Große Angst" wurde 2013 in Polen mit dem Kazimierz Moczarski-Preis für das beste historische Buch des Jahres ausgezeichnet.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.06.2016

Zwischen Schrecken und Bangen
Marcin Zarembas fulminantes Buch über das unter der Roten Armee leidende Polen in den Jahren 1944 bis 1947

Dieses imposante Buch behandelt die Phase zwischen dem Einmarsch der Roten Armee in Polen und den ersten Wahlen 1947 - eine wilde Zeit, deren politische Konturen annähernd bekannt sind, deren sozialpsychologisches Profil jedoch bisher wenig erforscht wurde. Die methodischen Schwierigkeiten der Erfassung kollektiver Ängste einer Gesellschaft im Umbruch sind dem Autor, Historiker und Soziologen an der Universität Warschau, bewusst, und er erörtert sie daher eingehend. "Angst" als Schlüsselbegriff gibt semantisch nur ungenau die Bedeutung des polnischen Begriffs Trwoga wieder, der zwischen "Schrecken und Bangen" changiert, wie die Übersetzerin in einer Fußnote anmerkt. Angst ist hier als Umschreibung für einen kollektiven sozialen und psychischen Zustand zu verstehen. Zwar beginnt Marcin Zaremba mit einem Hinweis auf den überall zu beobachtenden "Feierwahnsinn" nach Kriegsende 1945, aber sein Thema ist eine mit dem vorrevolutionären Frankreich vergleichbare Grande Peur.

Die Studie fußt auf einer umfangreichen Bibliographie von Literatur und gedruckten Quellen sowie der Auswertung zahlreicher Archivalien. Sie bietet ein riesiges, bilder- und metaphernreiches Panorama des Chaos und des Grauens in einer aus allen Fugen geratenen, von diffusen Gewaltexzessen geprägten, aber Normalität suchenden Gesellschaft nach dem Ende einer furchtbaren Besatzung, die nicht zuletzt einen Großteil der Eliten das Leben kostete. Es ist damit auch eine "Gegenerzählung" zu vereinfachten Vorstellungen von Befreiung und (Wieder-)Aufbau nach 1945. Allein einige Überschriften der Kapitel und ihrer Abschnitte machen bereits deutlich, was hier als Träger und Objekte einer großen diffusen Angst vorgestellt wird: Rotarmisten, "Menschen aus Heeresbeständen" wie Demobilisierte, Invaliden, Deserteure, Bettler, Landstreicher, Arbeitslose, Spekulanten, böse Milizionäre, Plünderer und Banditen. Als die "drei Reiter der Apokalypse" werden Hunger, Überteuerung und Infektionskrankheiten, vor allem Typhus, charakterisiert. Vieles kam hinzu wie etwa die noch überall liegenden Minen (allein 1945 wurden über zehn Millionen Minen entschärft).

Die Systematik der Kapitel ist nicht immer überzeugend, aber vermutlich lässt sich das Chaos der hier vorgestellten Themen kaum in eine überzeugende Systematik zwingen. Hervorzuheben ist jedoch die Verbindung von höchst anschaulicher Darstellung mit einer Fülle plastischer, vielfach längerer Zitate aus verschiedensten Quellen und soziologischer Einordnung der Teilbefunde. Gleichwohl hätte sich die epische Breite mancher Passagen ohne Verlust etwas reduzieren lassen.

Zaremba beginnt nicht erst mit dem Inferno des Zweiten Weltkriegs und dessen Hinterlassenschaft, sondern greift weit zurück auf die Wahrnehmung der "bolschewistischen Hölle" nach der Oktoberrevolution und auf das Groteske und Horror verbindende Stereotyp der "Judäokommune" - beides Vorstellungen aus der Vorkriegszeit, die sich in Polen lange hielten und 1945 wieder oder immer noch präsent waren. Vor allem während des polnisch-sowjetischen Krieges 1919/20 konnten sie sich in der Propagandaliteratur wirksam entfalten und bald den erstarkenden Antisemitismus beflügeln. Schon Semjon Budjonnys Reiterarmee hatte 1920 Furcht und Schrecken ausgelöst und zur "großen Angst" vor einer unbestimmten Zukunft aus dem Osten beigetragen.

Bei Kriegsende 1944/45 war die polnische Gesellschaft zerrissen zwischen der Hoffnung auf Befreiung und Angst vor dem, was kam. Mit zahlreichen Beispielen belegt Zaremba, dass sich die Rote Armee mit Plünderungen, Vergewaltigungen, Raubüberfällen gegenüber den Polen nur graduell anders aufführte als in den hinreichend bekannten Horrorszenarien gegenüber den besiegten Deutschen, vor allem in und nach der Winteroffensive vom Januar 1945. Die Zahl der "Iwan-Kinder" und auch der Selbstmorde und der Abtreibungen hat niemand in Polen zu schätzen versucht, konstatiert Zaremba. Dass dieses heikle Thema - sehr ähnlich wie in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands - in "Volkspolen" offiziell nicht existierte, verschlimmerte die Situation nur noch. Die Folgen: "Das Unvermögen des neuen Regimes, auch nur elementaren Schutz vor Verbrechen durch Soldaten der ,Bruderarmee' zu gewährleisten, beeinflusste seine gesellschaftliche Delegitimierung enorm."

Besonders eindrucksvoll ist das Kapitel "Menschen aus Heeresbeständen". Darunter fielen alle, die bei Kriegsende irgendwie "entbehrlich" waren, Hunderttausende, die der Krieg an den Rand der Existenz gebracht hatte und die in ein halbwegs normales Leben zurückkehren wollten. Unter den "Entbehrlichen" fand sich auch ein großes Rekrutierungspotential für Stasi und Miliz. Das "Plünderfieber" und das als "Bauernkrieg verkommener Soldaten" eingehend behandelte Banditentum gehören ebenfalls in diesen Umkreis. Diese Passagen sind eine riesige Fundgrube für typische Phänomene der Umbruchs- und Nachkriegszeit, darüber hinaus aber für besonders schaurige Formen von Plünderungen im zerstörten Warschau, in den Gettos, in Wohnungen von Deutschen und sogar Massengräbern von Juden in Treblinka.

Die Darstellung der auch aus anderen Ländern bekannten gigantischen Ansammlung von Kriegsheimkehrern, Vertriebenen, Deportierten, Repatrianten und DPs und die Skizzierung dieser aus unterschiedlichen Richtungen aufeinandertreffenden Menschenströme mit ihren sozial- und individualpsychologischen Folgen und Traumata münden in einige Kapitel, die der "Politik der Angst", den Unklarheiten über Polens Zukunft und dem Gespenst der Vorläufigkeit des Territoriums und der neuen Grenzen gewidmet sind.

Zu den besonders schrecklichen Passagen gehört das umfangreiche letzte Kapitel "Phobien und ethnische Gewalt". Hier kommen kurz die "Rache der Opfer" an den Deutschen und besonders die blutigen Auseinandersetzungen mit den Ukrainern zu Wort. Dabei vermischten sich nun Kämpfe polnischer Untergrundverbände mit grausamen Überfällen von Bandera-Kämpfern auf die polnische Bevölkerung, wie es sie schon während des Krieges in Wolhynien gegeben hatte. Vor allem aber schildert Zaremba (im Anschluss an Jan Tomasz Gross' Aufsehen erregende Publikationen) das Elend des alten und neuen Antisemitismus. Den alten Mythos vom jüdischen Ritualmord an christlichen, polnischen Kindern mit den fassungslos machenden Pogromen von Kielce 1946 und - als weniger bekannten Beispielen - von Rzeszów, Krakau und Woclawek verfolgt der Autor minutiös anhand alter und neuer Quellen.

Zaremba hat keine Sozial- und Alltagsgeschichte "with politics left out" geschrieben, aber die Akzente liegen anders. Auf den früh einsetzenden Terror des NKWD und des neu geschaffenen polnischen Sicherheitsdienstes (UB) wird immer wieder hingewiesen. Zu den politischen Rahmenkonstellationen der "großen Angst" gehörten auch die bald bitter enttäuschten, anfangs aber hohen Erwartungen an den populären neuen stellvertretenden Ministerpräsidenten Stanislaw Mikolajczyk.

Man mag angesichts der Ausführlichkeit der Darstellung bedauern, dass eingehendere resümierende Überlegungen am Schluss fehlen. Kritisieren könnte man auch, dass es kaum Hinweise auf die Gegenkräfte zum Chaos gibt, so dass beim Leser ein überwältigend düsteres Gesamtbild zurückbleibt. Schließlich erholte sich das zerstörte und ruinierte Europa sowohl im Westen wie im Osten, zwar nicht so schnell wie Phoenix aus der Asche, aber doch in erstaunlichem Tempo. Wie auch immer - Zaremba hat ein fulminantes Buch vorgelegt über eine Phase, die in Polen im Vergleich mit anderen europäischen Ländern ohne Frage besonders dramatisch ausfiel.

CHRISTOPH KLESSMANN

Marcin Zaremba: Die große Angst. Polen 1944-1947: Leben im Ausnahmezustand. Verlag Ferdinand Schöningh, Paderborn 2016. 629 S., 49,90 [Euro].

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Fulminant findet Christoph Klessmann die Arbeit des Historikers und Soziologen Marcin Zaremba. Dass der Autor am Ende kein Resümee vorlegt und es in seinem düsteren Panorama keinen Lichtblick der "Gegenkräfte" gibt, wie Klessmann zu bedenken gibt, kann der Rezensent schließlich verschmerzen. Viel zu imposant erscheinen ihm Zarembas sozialpsychologische Ausführungen einer Gesellschaft im Chaos und im Umbruch, zwischen Schrecken und Bangen. Die umfangreiche Bibliografie und Zarembas Archivrecherchen ergeben laut Rezensent ein enormes, bilderreiches Szenario des Grauens als "Gegenerzählung" zu vereinfachten Vorstellungen von Befreiung und Wiederaufbau, in dem Milizionäre, Invaliden und Spekulanten das Personal abgeben, Typhus und Minen, meint Klessmann. Auch wenn ihm die Kapiteleinteilung nicht immer nachvollziehbar erscheint, der Mix aus plastischer Darstellung, Zitaten und soziologischer Deutung überzeugt Klessmann.

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