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Henry Roth wurde 1906 in Galizien geboren und kam als Zweijähriger mit seinen Eltern nach New York. Hier - vor dem Hintergrund des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts - spielt auch der vorliegende Roman. Im Mittelpunkt steht Ira, das Kind jüdischer Einwanderer. Meisterhaft schildert Roth die inneren Konflikte des Heranwachsenden, seine Erlebnisse und Erfahrungen mit Antisemitismus, Rassismus und kultureller Entwurzelung.

Produktbeschreibung
Henry Roth wurde 1906 in Galizien geboren und kam als Zweijähriger mit seinen Eltern nach New York. Hier - vor dem Hintergrund des zweiten Jahrzehnts unseres Jahrhunderts - spielt auch der vorliegende Roman. Im Mittelpunkt steht Ira, das Kind jüdischer Einwanderer. Meisterhaft schildert Roth die inneren Konflikte des Heranwachsenden, seine Erlebnisse und Erfahrungen mit Antisemitismus, Rassismus und kultureller Entwurzelung.
Autorenporträt
Henry Roth (1906-1995) kam mit seinen Eltern als zweijähriges Kind aus Galizien nach New York.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 01.10.1996

Das Vermächtnis eines radikalen Gänsefarmers
Henry Roth, Begründer der modernen jüdisch-amerikanischen Literatur / Von Peter Demetz

Henry Roth, ein amerikanischer Schriftsteller jüdischer Herkunft, publizierte zu Lebzeiten zwei Bücher, aber in einem Abstand von sechzig Jahren, das eine als ganz junger und das andere als ganz alter Mann; New Yorker Schriftsteller lieben es, an Schreibhemmungen zu leiden, aber sein writer's block war gewaltig wie King Kong. Mit achtundzwanzig Jahren veröffentlichte er seinen autobiographischen Roman "Nenn es Schlaf" (1934), den viele Kritiker, im Zeitalter der proletarischen Literatur, auch in Amerika, als allzu selbstbezogen oder gar "febril" ablehnten, und dann ging auch noch sein Verleger bankrott. Dreißig Jahre später war eine neue Auflage des Buches ein Millionen-Bestseller, aber der plötzlich berühmte Autor saß inzwischen auf einer kleinen Farm im Staate Maine und versorgte den Markt mit ofenfertigen Gänsen und Enten.

Die Verhältnisse waren durchaus nicht arkadisch; Henry Roth machte nie ein Geheimnis daraus, daß er siebzehn Jahre lang, von 1933 bis 1967, ein loyales Mitglied der Kommunistischen Partei gewesen war, und er mag gerade deshalb aufs Land geflüchtet sein, um dem "Terror" (sein Wort) der McCarthy-Untersuchungsausschüsse zu entgehen. Nicht das allein: Im Politischen war Roth folgsam, aber als Autor berief er sich auf sein Vorbild James Joyce oder, zuzeiten, auf T. S. Eliot, über dessen frühen Antisemitismus er sich hinwegsetzen zu können glaubte. Parteiforderungen und Modernismus stürzten ihn in fortgesetzte Konflikte, die ihn der jüdischen Tradition entfremdeten, in welcher er aufgewachsen war.

Ohne recht zu wissen, was er getan hatte, begründete Henry Roth in seinem Roman "Nenn es Schlaf" die neuere amerikanisch-jüdische Literatur. Er erzählte von seinem Leben als acht- und neunjähriger Junge in den New Yorker jüdischen Einwandererenklaven von Brownsville und Brooklyn, dem Sprachenbabel, der Armut, den Ängsten. Die Eltern sind epische Riesenfiguren; der Vater jähzornig und unberechenbar (der Sohn fürchtet die roten Zahlen im Kalender, denn an Feiertagen bleibt sein Vater zu Hause), die Mutter unendlich zärtlich, felsenfest und sanft in ihrem opferbereiten Gleichmut, aber jenseits der jüdischen Welt fast sprachlos, denn sie hat keine Chance, richtig Amerikanisch zu lernen. Das Kind ist geplagt von höllischen Ängsten und obsessiven Phantasien; ein verkrüppeltes halbwüchsiges Mädchen zieht ihn ins Dunkel, um ihre Spiele mit ihm zu treiben (die Scharniere ihrer Prothese knarren, während sie nach seinem Petzel greift), aus halbverstandenen Andeutungen reimt er sich die Möglichkeit zusammen, er sei gar nicht der Sohn seines fürchterlichen Vaters (die Mutter wollte als junges Mädchen, ehe sie sich in die arrangierte Heirat fügte, mit dem polnischen Kirchenorganisten "bis ans Ende der Welt ziehen"). In der Hebräisch-Schule hört er vom Propheten Jesaiah, dem ein Engel die Lippen mit glühender Kohle berührt, um ihn vor dem Allerhöchsten zu reinigen, und der Junge hält, um sich ähnlich zu purifizieren, eine metallene Milchkelle an die stromtragende Schiene der Trambahn, eine Stichflamme schlägt hoch, er verliert das Bewußtsein (ohne mehr Schaden zu nehmen als eine versengte Ferse) - ein Furioso, plötzlich in Versen und mit einem Chorus von Passanten, Polizisten, Trinkern, Straßenbahnschaffnern und Prostituierten, der ursprüngliche Naturalismus des Romans wird radikal negiert und aufgehoben in einer Moderne, die sich programmatisch an James Joyces "Ulysses", Kapitel 15 ("Bloom in Nighttown"), orientiert.

Der radikale Gänsefarmer, der die Literatur längst an den Nagel gehängt hatte (vorläufig), reagierte zunächst mit einiger Skepsis auf den um dreißig Jahre verspäteten Millionenerfolg des Buches, denn er glaubte, der Beifall käme aus der falschen Ecke, ohne sich Rechenschaft darüber abzulegen, wie rasch sich die amerikanische Welt, und mit ihr die jüdische, gewandelt hatte. Als ich in jener Zeit nach Amerika kam, las ich selbst noch in angesehenen Literaturzeitschriften kleine Anzeigen beliebter Ferienhotels, die ihre "Nähe zu Kirchen" (churches nearby, lies: Juden unerwünscht) betonten, und andere, die sich auf ihre "kultivierte Klientel" (lies: jüdische Feriengäste aus New York) beriefen; und in einer solchen kleinen Familienpension fand ich sogar Hermann-Broch-Erstausgaben mit handschriftlichen Widmungen in der Hausbibliothek.

Die Juden der zweiten und dritten Generation lebten anders als ihre Großmütter in Brooklyn, und nicht nur in den Ferien; das offene Bildungssystem, allen voran das New York City College, hatte es den Kindern und Kindeskindern der galizischen Immigranten ermöglicht, als Juristen, Ärzte, Finanzleute und (sogar) Verlagsleiter in die gutbürgerlichen Vorstädte zu übersiedeln (ein Prozeß, der sich immer wiederholt und immer neue Einwanderungsgruppen betrifft), und da waren das weißgetünchte Clapboard-Haus, der gepflegte Rasen und der Station-

Wagon, mit dem man die Kinder in die Ballettstunde spedierte. In den Suburbs las man anders; und als der Kritiker Alfred Kazin und Irving Howe, der Kulturhistoriker der jüdischen Immigration, "Nenn es Schlaf" als ein Jahrhundertepos bezeichneten (auf der ersten Seite der "New York Times Book Review", das erste Signal der Unsterblichkeit), war die neue Leserschaft längst bereit, Henry Roths Buch nostalgisch und mit einer schon anachronistischen Sehnsucht nach der verlorenen jiddischen Welt zu lesen - ungefähr wie Franz Kafka die jiddischen Schauspieler im Hinterzimmer des Prager Café Savoy bestaunt hatte.

Es war Leslie Fiedler, damals noch lange nicht Super-Guru, der die kombinatorische Sprachkunst des Buches hervorhob: das groteske street-Idiom, in dem sich die jiddischen und irischen Gassenjungen verständigten (zum Vergnügen der Leser und Entsetzen der Übersetzer: foinichu statt "furniture", tuck statt "talk" und so fort), und die Entscheidung des Autors, die jiddischen Gespräche in ein merkwürdiges Amerikanisch zu "übersetzen", dem das Jiddische noch eine zeremoniöse und affektive Gefühlswärme verlieh. Ein unwiederholbarer Augenblick des jiddischen Nicht-mehr und des amerikanischen Noch-nicht, in dem Sprachmangel und Sprachzauber nicht zu unterscheiden waren.

Ü ber Henry Roths Lebensweg und seine Konflikte hat uns der italienische Übersetzer Mario Materassi, Professor für amerikanische Literatur in Florenz, in einer Sammlung verstreuter Texte und Interviews genauer informiert, als es die üblichen Klappentexte wahrhaben wollen; viele italienische Intellektuelle, die ihre Probleme mit dem Niedergang des praktischen Marxismus haben, sind loyale Leser Roths, den man in Italien mit dem Nonnino-Preis auszeichnete. Mit James Joyce schlug sich Roth noch jahrzehntelang herum; bald warf er ihm vor, Bloom als Juden ohne deutlicheres Bewußtsein des Judentums charakterisiert zu haben, bald wieder klagte er ihn an, seine irische Herkunft leichthin geopfert zu haben. Selbstanklagen, maskiert als literarische Polemik. Mit der Emanzipation von der Partei war es nicht weniger schwierig; in der Zeit der Moskauer Schauprozesse veröffentlichte Roth eine Erklärung, in welcher er die Moskauer Justiz bejahte und seine "trotzkistischen" amerikanischen Kollegen verdammte, und noch in den sechziger Jahren verteidigte er Fidel Castros Experiment.

Der Sechstagekrieg Israels gegen die Araber nötigte ihn endlich, seine politischen Loyalitäten zu revidieren und andere, ältere zu erneuern. Es war ihm unmöglich, wie es die Partei anordnete, sich für die Araber und gegen Israel zu erklären; er fuhr allerdings fort, dem "Militarismus" Israels zu mißtrauen und nicht weniger dem "Imperialismus" Amerikas, der Israel unterstützte. Die kapillaren Gefühle für seine Herkunft triumphierten, und Roth bekannte sich wieder zur jüdischen Tradition und Geschichte, ohne seinen demonstrativen Atheismus und sein Zögern, den Staat Israel betreffend, aufzugeben. In den späteren siebziger Jahren war er auf Einladung Teddy Kolleks, des Bürgermeisters von Jerusalem, zu Gast in Israel, sprach mit dankbarem Respekt von seinen Gastgebern und gestand doch ein, er sei, auch in Israel, "ein Fremdling" geblieben. Die Landschaft war ihm fremd, und seine Lebenserfahrungen mit der amerikanischen Literatur und Gesellschaft waren zu tief, um sie vergessen zu können.

Die massiven Manuskripte, an denen Roth in seinem Wohnwagen in New Mexico vor seinem Tode 1995 arbeitete, waren sein letzter Versuch herauszufinden, wer er eigentlich gewesen war, und der Roman "Die Gnade seines wilden Stroms", der nun in der philologisch einleuchtenden und geglückten Übersetzung Heide Sommers vorliegt, ist nur der erste Band einer epischen Autobiographie, die seine Entwicklung als Schüler, Student und junger Schriftsteller umfassen wird - eine Geschichte ohne Angst vor intimen Geheimnissen, aber auch ohne jenen poetischen Expressionismus, der die Abenteuer in Brooklyn so deutlich charakterisierte. Roths Modernität hat sich aus den inneren Monologen in die Komposition verschoben, denn der alternde Erzähler hat sich entschlossen, in eigener Sache in die Vorgänge einzugreifen und im lockeren Dialog mit seinem Computer Möglichkeiten und Alternativen seiner Autorschaft zu erörtern. Das anfangs Kryptische und gelegentlich Redselige dieser Teile löst sich in der anhaltenden Lektüre, wir lernen endlich seine Familie kennen, Muriel, die Komponistin, und die Söhne, und die Schwierigkeiten, nach so langer Zeit etwas Authentisches über New York im Zeitalter des Ersten Weltkriegs zu sagen. Die panische Imagination hat sich jedenfalls gelockert. David, in "Nenn es Schlaf", lebte im gigantischen Schatten seines Vaters und seiner Mutter, aber der Schüler Ira (sein ein wenig älteres Selbst) beginnt sich, noch kindlich, aber schon streetwise, in einem nüchternen Horizont einzurichten, Mutter und Vater sind "Mom" und "Pop", und da sich noch viele Mitglieder der galizischen Familie in den letzten Tagen vor Kriegsausbruch nach New York retten, vereinen sich Onkel, Tanten, Kusinen und Neffen, jeder mit seinem Tick und seinem Selbstbehauptungswillen, zu einer wunderbaren Mischpochologie. Die dem Texte vorangehenden breit verästelten Familienstammbäume zeigen nur schematisch an, in welche Welt oder welches vitale Chaos wir Eingang finden.

Die Geschichte setzt mit einem gedämpften Paukenschlag ein, der plötzlichen Übersiedlung Iras aus dem jüdischen Brooklyn in eine (noch) irische Ecke Harlems, wo seine katholischen Mitschüler über ihn lachen, und erzählt dann, Schritt für Schritt, von seinen Schul- und Straßenabenteuern, dem ersten Job in einem noblen Delikatessenladen, Kaviar-Lieferungen in erste Häuser der Fifth Avenue (aber nicht viel Zucker, denn der ist rationiert), der Misere zu Hause, "Pop" immer noch jähzornig als Kellner, und Onkel Moses, der in den Krieg muß und als Sergeant heimkehrt. Ich finde den Mittelteil des Romans ein Kunstwerk erster Ordnung, aber eben anderer Art als "Nenn es Schlaf"; wie nämlich Onkel Louie, der begeisterte Sozialist (in frischgebügelter Briefträger-Uniform), Iras Mutter den Hof macht und darüber hinaus von seiner Enttäuschung in der eigenen Ehe und vom zukünftigen Zeitalter der freien Liebe spricht - ohne bei Iras Mutter, die ihn gerne und resigniert reden läßt, Gehör zu finden. "Ich bin ganz ausgebrennt", sagt sie in der jiddischen Herzenssprache und schickt den Verkünder der freien Liebe zurück zu seiner Frau.

Das Ganze ist, wie bei den besten Filmen Woody Allens, ein folgenreiches Kammerspiel an der labilen Grenze zwischen dem Komischen und der Tragödie; Louie sagt Kluges über die Unterschiede zwischen den galizischen und den "russischen" Juden (die aus Österreichisch-Galizien haben die politische Toleranz des Kaisers erfahren und wollen jetzt vor allem wirtschaftlichen Erfolg, die "Russen", aus dem Reiche des Zaren und der Kosaken, Freiheit, Recht und Würde); und Ira, in seinen pubertären Verwirrungen, beginnt wieder mit seinem ödipalen Lieblingsgedanken an einen anderen Vater zu spielen, sieht seine Mutter mit Louies Augen und drängt, als sie beisammen ruhen, seine Erektion gegen ihre festen Schenkel. Sie wehrt ihn gutmütig ab (und erinnert sich, einmal im Anblick ihres nackten Bruders einen Augenblick erregter Freude gefühlt zu haben), und der Erzähler muß gestehen, daß er uns Iras wildeste Geheimnisse noch vorenthält (ich habe vorausgelesen: der vierzehnjährige Ira, aus Furcht vor der Welt, ein Lehrer hat ihn mißbraucht, schläft jahrelang mit seiner jüngeren Schwester).

Roths außerordentlicher Mut besteht darin, die einst so visionäre Prosa seines ersten Romans, der längst zur klassischen College-Lektüre zählt, auf sich beruhen zu lassen und einen anderen Weg zu gehen. Wie es seinem Alter ansteht, wendet er sich souverän in eine Epoche zurück, die der Entwicklung der bedeutenden amerikanisch-jüdischen Literatur von Bernard Malamud bis auf Saul Bellow eigentlich vorangeht. Er erneuert einen lebhaften, verletzlichen und nervösen Realismus, ohne ihn zu vulgarisieren. Die postumen Bücher Henry Roths, aufrichtig schmerzliche Autobiographie und monumentale Zeitgeschichte zugleich, werden uns noch lange beschäftigen, und wie.

Henry Roth: "Die Gnade eines wilden Stroms". Roman. Aus dem Amerikanischen übersetzt von Heide Sommer. Quadriga Verlag, Weinheim 1996. 390 S., geb., 42,- DM.

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