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Produktdetails
  • Archiv für Sozialgeschichte, Beihefte
  • Verlag: Dietz, Bonn
  • Seitenzahl: 320
  • Deutsch
  • Abmessung: 235mm
  • Gewicht: 735g
  • ISBN-13: 9783801241162
  • ISBN-10: 3801241165
  • Artikelnr.: 09542763
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 09.10.2001

Braune Schleifspuren
Wie sich SD-Historiker im "Dritten Reich" verhielten und in die Bundesrepublik hinüberretteten

Joachim Lerchenmueller: Die Geschichtswissenschaft in den Planungen des Sicherheitsdienstes der SS. Der SD-Historiker Hermann Löffler und seine Denkschrift "Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland". Dietz Verlag, Bonn 2001. 320 Seiten, 68,- Mark.

Die deutsche Geschichtswissenschaft hat sich frühzeitig mit dem "Dritten Reich" befaßt, eine Positionsbestimmung des Faches unter dem Nationalsozialismus aber aus subjektiver Betroffenheit zunächst unterlassen. Von Ausnahmen abgesehen, gerieten die in der NS-Zeit wirkenden Historiker erst zu Beginn der neunziger Jahre ins Fadenkreuz geschichtlichen Interesses. Die Lektüre rund fünfzig Jahre unbeachteter, wenngleich öffentlich zugänglicher Schriften ließ die Identifikation mit beziehungsweise Partizipation an nationalsozialistischem Gedankengut erkennen - bis hin zum Rassismus zahlreicher in der Bundesrepublik zu Renommee gelangter Gelehrter. Da diese nach 1945 zumeist in repräsentativen Funktionen ihrer Standesorganisation, in bedeutsamen fachlichen Gremien und Gesellschaften und bisweilen auch politisch wirkten, lag die Suche nach tieferen Schleifspuren in der NS-Zeit nahe. Man wurde im institutionellen Archivgut vielfach fündig. Erinnert sei an die Denkschrift des Kölner Nachkriegshistorikers Theodor Schieder aus dem Jahr 1939 zur ethnischen Neugestaltung des polnischen Raumes. Doch Papier ist geduldig und sagt an sich nichts über seine Wirksamkeit aus, die das eigentliche Kriterium eines personenbezogenen historischen Befundes bildet.

Lerchenmueller ediert nun eine Reihe von Dokumenten über das Beziehungsgeflecht zwischen hauptamtlichen SS- und Hochschulhistorikern, die gemeinsam sogenannte "Gegenforschung" zur vermeintlich unzulänglich gleichgeschalteten universitären Geschichtswissenschaft betrieben. Es galt, verbindliche historische Interpretationsmuster zu entwickeln und ideologierelevante Problemfelder - beispielsweise zur Juden- und Freimaurerfrage - zu bearbeiten.

Im SD sowie dem kultur- und wissenschaftspolitischen Steuerungsorgan "Ahnenerbe" wirkende Wissenschaftler wurden gezielt mit solchen Themen promoviert und habilitiert, um sie sukzessiv in die Hochschulen einzuschleusen. Ihre Betreuung übernahmen außen- beziehungsweise der SS nahestehende oder angehörende Universitätslehrer, unter ihnen Günther Franz und Erich Maschke. Franz, der zahlreiche SS-Historiker mit antisemitischen Schriften promovierte, firmierte als Obergutachter der SS in historischen Fragen.

Im Mittelpunkt steht der SS-Historiker Hermann Löffler, der laut Urkunde bei Franz unter dem Dekanat von Maschke über den "Anteil der jüdischen Presse am Zusammenbruch Deutschlands" in Jena den Doktorgrad erwarb. Lerchenmueller bezweifelt, daß die Studie vorgelegt wurde, denn sie blieb unauffindbar. Löffler habilitierte bei Franz in Straßburg und wurde, weiter in Diensten der SS, dessen Assistent. Die Edition beinhaltet eine Denkschrift Löfflers über "Entwicklung und Aufgaben der Geschichtswissenschaft in Deutschland", die aus Sicht der SS richtungweisend für die Historikerzunft des "Dritten Reiches" sein sollte. In ihr werden in denunziatorischer Absicht die Universitätslehrer in systemkonforme und gegnerische aufgelistet. Der Krieg hat ein personelles Changement an den deutschen Hochschulen verhindert.

Lerchenmueller verdeutlicht, daß nach 1945 das von der SS geknüpfte Netzwerk zumindest partiell in der Bundesrepublik gespannt blieb. Franz erhielt nach einigen Warteschleifen eine Professur in Hohenheim, wo er es zum Rektor brachte. Sein Gutachten verschaffte Löffler eine Professur an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg, möglicherweise durch vorsätzliche Falschaussage: Er bestätigte die Promotion Löfflers und entideologisierte deren Titel, der nun "Die Haltung der deutschen Presse am Ende des I. Weltkrieges" lautete.

Wenn es der SD-Seilschaft aus überkommenen Nazi-Tagen auch nicht gelang, sich in gewünschter Zahl an den deutschen Hochschulen zu plazieren, so etablierte sie sich um so erfolgreicher im Bereich historisch-politischer Bildung und Wissensvermittlung im Segment des Bildungsbürgertums. Über die Ranke-Gesellschaft hat Franz mit ehemaligen Gesinnungsgenossen das Geschichtsbild der Nachkriegszeit durch Verharmlosung und Tabuisierung des "Dritten Reiches" mitgeprägt. Das "Historisch-Politische Buch" der Gesellschaft diente neben Franz auch zahlreichen ehemaligen NS- und SD-Historikern als Forum zur Verbreitung ihrer historischen Ansichten: zum Beispiel dem Breslauer Dozentenführer Ernst Birke, Nachkriegsprofessor einer Pädagogischen Hochschule, Löffler und Reinhard Höhn.

Der frühere SS-Oberführer Höhn leitete ab 1956 die Akademie für Führungskräfte der Wirtschaft als eine der größten europäischen Kaderschmieden für Manager, die auch von Generalstäblern der Bundeswehr durchlaufen wurde. Hier lehrte der ehemalige faktische Leiter des SD-Inland, der in Nürnberg zu 20 Jahren Haft verurteilte und 1952 begnadigte Historiker Alfred Six. Damit nicht genug: Ein weiterer SS-Historiker, einst Dekan und Dozentenführer in Straßburg, Ernst Anrich, gründete über Strohmänner die Wissenschaftliche Buchgemeinschaft (später: Gesellschaft).

Lerchenmueller hat Leben und Wirken aller namhaft zu machenden SD-Historiker und der ihnen in ideologischer Ausrichtung verbundenen, im Dunstkreis der SS sich bewegenden universitären Fachgenossen verfolgt und rekonstruiert. Er öffnet damit die Innenschau auf Einrichtungen des Himmlerschen SS-Imperiums, die Wissenschaftspolitik mit dem Ziel radikaler Nazifizierung des Hochschulwesens betrieben. Am Ende seiner verdienstvollen Studie fragt Lerchenmueller nach Relevanz und Beurteilung der von ihm vorgestellten SD-Historiker, um zu einem zurückhaltenden Urteil zu finden. Kein Zweifel, nach dem gescheiterten Anschlag auf die Historiographie des "Dritten Reiches" besaßen Renazifizierungsversuche nach 1945 an deutschen Hochschulen keine Chance. Kein Zweifel auch, daß zahlreiche tätige NS-Historiker über den Kreis von SS und SD hinaus an bundesdeutschen Hochschulen wieder Fuß faßten.

Lerchenmueller hat recht, wenn er darauf verweist, sie hätten keinen "wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der bundesdeutschen Geschichtswissenschaft zu nehmen" vermocht. Hinzugefügt werden muß aber, daß sie die Neuorientierung einer weitgehend nationalistischen Historiographie nachhaltig behindert haben, und daß sie, wie über Ranke-Gesellschaft und besagte Buchgemeinschaft, einer kritischen öffentlichen Reflexion jüngster deutscher Vergangenheit im Wege waren. Der von Lerchenmueller als Beurteilungskriterium zur Diskussion gestellte mögliche Gesinnungswandel ist insofern nicht zu konstatieren, als die genannten SS-Historiker es an politischer Selbstkritik haben fehlen lassen, bei zumindest formaler Loyalität gegenüber dem neuen demokratischen Staatswesen. Einzig Ernst Anrich von der Wissenschaftlichen Buchgemeinschaft trat der NPD bei, deren Parteivorstand er angehörte. Ungeachtet dieser verdienstvollen Schrift leidet die Historikerzunft unter den Defiziten geschichtlicher Selbsterkenntnis. Auch für sie gilt das Wort Roman Herzogs: "Sich dem bösen Teil der Geschichte nicht zu stellen, halte ich für die sublimste Art intellektueller Feigheit."

HANS-ERICH VOLKMANN

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Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension

Über die Verstrickungen der Geschichtswissenschaft mit dem Nationalsozialismus wurde lange genug geschwiegen, findet der Historiker und Rezensent Peter Schöttler und freut sich dass dieses Thema von Joachim Lerchenmüller in seinem Buch aufgegriffen wird. "Erschreckend, aber auch unfreiwillig komisch" findet Schöttler die um den Historiker Hermann Löffler kreisende Dokumentation über die Historiker im SD und ihre "Utopie einer reinen NS-Historie". Offensichtlich, schreibt Schöttler, sei es dabei vor allem um den Schacher mit Lehrstühlen gegangen. Kritisch anzumerken hat Schöttler, dass der Autor eine weitreichende Kontextualisierung vermissen lasse. Geschwollene "Parteilyrik" sowie Kollegen-Bewertungslisten gerieten so zum "Horrorkabinett einer kleinen fanatischen Mehrheit", zur "Verharmlosung" also. Und wenn der Autor nach "solchem Aufwand" bilanziert, die SD-Wissenschaftspolitik sei auf dem Gebiet der Geschichtswissenschaft gescheitert, so glaubt Schöttler gar, sich verlesen zu haben: Schließlich sei es "diesen Leuten" nach dem Krieg gelungen, sich gegenseitig auf Lehrstühle oder in einflussreiche Stellungen zu hieven. "Wer ist da wohl gescheitert?"

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