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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2013

Keine Frage der Sterne
Stuttgarts "Hotel Silber" als Gestapo- und Polizeizentrale

Die Weiterbeschäftigung ehemaliger NS-Täter im Land Baden-Württemberg bleibt bedrückend.

Das "Dritte Reich" ist mit Sicherheit die am besten erforschte Epoche der deutschen Geschichte - inzwischen auch auf regionaler Ebene. Trotzdem gibt es immer noch überraschende Leerstellen. Während über die Geheime Staatspolizei in Baden Michael Stolle bereits 2001 eine grundlegende Arbeit vorgelegt hat, fehlte eine vergleichbare Studie zu Württemberg bisher. Auslöser für das verstärkte Interesse an der württembergischen Gestapo war ein Bauprojekt. Das Land Baden-Württemberg und das Kaufhaus Breuninger planten in Stuttgart gemeinsam einen großen innerstädtischen Neubaukomplex. In diesem Zusammenhang sollte auch das sogenannte "Hotel Silber" abgerissen werden.

Heinrich Silber hatte Ende des 19. Jahrhunderts in guter innerstädtischer Lage ein Hotel für die bessere Gesellschaft errichtet. Nach dem Ersten Weltkrieg zog die Post und 1928 das Polizeipräsidium mitsamt der Politischen Polizei in das Gebäude. 1933 zog das Polizeipräsidium wieder aus, und die Politische Polizei wurde, stark vergrößert, zur Gestapo. Das Hotel Silber - der Name blieb über all die Jahrzehnte - wurde zum Symbol der alltäglichen Normalität des Terrors und des Schreckens. Im September 1944 wurde der westliche Teil des Gebäudes zerstört. Im östlichen Teil wirkte die Gestapo bis zum bitteren Ende weiter.

1945 kehrte das Polizeipräsidium unmittelbar nach der Besetzung durch die Franzosen wieder in das Gebäude zurück, das, wiederaufgebaut, bis Mitte der achtziger Jahre polizeilich genutzt wurde. Die Abrisspläne lösten ein breites öffentliches Echo aus - nachdem die Jahrzehnte zuvor nur ein sehr mäßiges Interesse bestanden hatte. Nach dem Regierungswechsel 2011 wurden die Abrisspläne gestoppt. Derzeit laufen die Planungen für einen Erinnerungsort. Der Kampf gegen den Abriss wurde von einer Bürgerinitiative getragen, zu der auch die Autorinnen und Autoren des Buches gehören.

Die Gestapoleitstelle in Stuttgart war keine besondere Einrichtung mit reichsweiter Ausstrahlung. Wie in ein paar weiteren Dutzend Leitstellen in Deutschland und dem besetzten Europa wurde hier der "normale" Terror auf regionaler Ebene organisiert und exekutiert. Die Besonderheit des Ortes liegt in seiner kontinuierlichen, polizeilichen Nutzung von 1928 bis in die achtziger Jahre.

Nahezu jede Arbeit, die sich mit der Gestapo beschäftigt, hat mit einem Quellenproblem zu kämpfen, da die Gestapo bei Kriegsende alle Unterlagen vernichtete, soweit sie nicht schon Bombenangriffen zum Opfer gefallen waren. Da die Gestapo aber alle Lebensbereiche durchdrang, hinterließ sie auch entsprechende "Spuren" in zahlreichen anderen Quellenbeständen - im Land und im Reich. Das Buch teilt sich in vier Teile. Es beginnt mit der Politischen Polizei der Weimarer Republik und ihrem (erschreckend reibungslosen) Übergang in die Gestapo des Dritten Reiches. Nach einem allgemeinen Überblick über die Geheime Staatspolizei zwischen 1933 und 1945 werden - und dies umfasst etwa 80 Prozent des Buches - die Dienststellen, die Haftstätten, die "gegnergruppenspezifische Verfolgung" sowie die geheimen Referate, die Auslandseinsätze und das Ende der Gestapo dargestellt. Den Abschluss des Bandes bildet ein Beitrag über "Personal und Wahrnehmung der Gestapo nach 1945".

Es ist beeindruckend, wie viele Informationen über Struktur, Personal, Arbeitsweise und Opfer in den unterschiedlichsten Archiven zutage gefördert wurden. Auch die württembergische Gestapo prägten Polizeifachleute, die selten schon vor 1933 der NSDAP angehört hatten. Sie waren in alle Verbrechen des Dritten Reiches verstrickt. Gleichzeitig wird der individuelle Spielraum der einzelnen Gestapo-Mitarbeiter herausgearbeitet, der für die Betroffenen den Unterschied zwischen Verhaftung und Freiheit, Leben und Tod ausmachte. Mit dem Beginn des Krieges kamen einige Gestapo-Beamte in den besetzten europäischen Gebieten zu ihrem mörderischen Einsatz (dazu auch: www.geschichtsort-hotel-silber.de), der gleichzeitig die Voraussetzung für eine weitere Karriere im Reich war. Die zahlreichen freiwilligen Denunziationen als wesentliche Voraussetzung für die erfolgreiche Arbeit der Gestapo werden ebenso dargestellt wie die zum Teil brutale Behandlung der Zwangsarbeiter vor allem aus dem besetzten Osteuropa, die teilweise erpresste Spitzelarbeit und die Kooperation mit Vertretern aus allen gesellschaftlichen Bereichen.

Gegenüber den überzeugenden Kapiteln über die Gestapo fallen sowohl die Darstellung der Weimarer Republik als auch der Nachkriegszeit deutlich ab. Hier fehlt häufig die Sachkenntnis. Ideologische Schablonen treten an die Stelle seriöser Recherche und Darstellung. Trotzdem zeigt sich, dass dem reibungslosen Übergang von der Weimarer Republik in das "Dritte Reich" kein entsprechendes Weiterarbeiten nach 1945 entspricht. Selbst in der Bundesrepublik gelang es bei weitem nicht allen ehemaligen Gestapo-Beamten, wieder in den Öffentlichen Dienst zurückzukehren. Bedrückend bleibt die Beschäftigung ehemaliger Täter auch in Baden-Württemberg trotzdem, zumal die Verfolgung einiger Opfergruppen des "Dritten Reiches" nach 1945 weiterging, wie unter anderen bei Homosexuellen, Sinti und Roma oder bei sogenannten Asozialen. Insgesamt vergrößert das Buch - bei allen Schwächen im Einzelnen - unser Wissen über die Gestapo in Württemberg erheblich und ist ein beeindruckendes Beispiel für bürgerschaftliches Engagement.

THOMAS SCHNABEL

Ingrid Bauz/Sigrid Brüggemann/Roland Maier (Herausgeber): Die Geheime Staatspolizei in Württemberg und Hohenzollern. Schmetterling Verlag, Stuttgart 2013. 477 S., 29,80 [Euro].

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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Als beeindruckendes Beispiel bürgerlichen Engagements bezeichnet Thomas Schnabel diesen unter anderem von Mitgliedern der Bürgerinitiative gegen den Abriss des Hotels Silber in Stuttgart herausgegebenen Band über die Gestapo in Württemberg. Wie der "normale" Terror regional organisiert und exekutiert wurde, erfährt der Rezensent dank der beachtlichen Recherchearbeit der Autoren, wenngleich, wie er einräumt, in der Dokumentation nicht immer frei von ideologischen Schablonen. Das Wissen über die Gestapo, namentlich deren Struktur, Arbeitsweise und Personal sowie ihre Opfer, vergrößert der Band allemal, schreibt Schnabel. Auch kann er den individuellen Spielraum der Gestapo-Mitarbeiter nun besser einschätzen.

© Perlentaucher Medien GmbH