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Faszinert lauscht Ranjit, ein junger Softwarespezialist, Abend für Abend den Geschichten, die ihm ein alter Mann in einer verrauchten Hafenbar erzählt. Jede von ihnen illustriert einen Zentralbegriff der hinduistischen Lebensphilosophie, für jede findet Chandra eine eigene Sprache. Er kostet alle Möglichkeiten aus und führt den Leser in "sein Bombay". "Am Anfang und Ende von allem ist die Ehe". So beginnt beispielsweise die Geschichte über "Shakti", die Macht der Natur: Zwei Frauen, die den alten und neuen Reichtum in der Stadt repräsentieren, führen über Jahre hinweg einen erbitterten…mehr

Produktbeschreibung
Faszinert lauscht Ranjit, ein junger Softwarespezialist, Abend für Abend den Geschichten, die ihm ein alter Mann in einer verrauchten Hafenbar erzählt. Jede von ihnen illustriert einen Zentralbegriff der hinduistischen Lebensphilosophie, für jede findet Chandra eine eigene Sprache. Er kostet alle Möglichkeiten aus und führt den Leser in "sein Bombay". "Am Anfang und Ende von allem ist die Ehe". So beginnt beispielsweise die Geschichte über "Shakti", die Macht der Natur: Zwei Frauen, die den alten und neuen Reichtum in der Stadt repräsentieren, führen über Jahre hinweg einen erbitterten Konkurrenzkampf, bis sie schließlich die Liebe ihrer beiden Kinder eint. In "Kama" - sinnliche Liebe - schildert Chandra die letzte, leidenschaftliche Begegnung eines Kriminalisten mit seiner Ehefrau.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.09.1999

Die Kraft der zwei Welten
Der Heimat abgelauscht: Vikram Chandras Bombay-Geschichten

Manche Geschichten haben nur deshalb Anfang und Ende, weil sie zwischen zwei Buchdeckel passen müssen. Doch nach innen vervielfältigen sie sich wie russische Matroschka-Puppen: In jeder ist noch eine kleinere verborgen. Vikram Chandras Erzählungen "Die fünf Seiten des Lebens" sind so ähnlich gebaut. Der deutsche Titel ist eine mutwillige Verkleinerung des aufs Ganze zielenden Originals: "Love and Longing in Bombay". Denn selbstverständlich hat das Leben nicht bloß deshalb fünf Seiten, weil in diesem Buch zufällig fünf "Bombay-Geschichten" versammelt sind. Wenn man die komplizierte Rahmenkonstruktion mitzählt, sind es ohnehin schon mehr.

Der Ich-Erzähler, der junge Softwarespezialist Ranjit, trifft in einer Hafenbar in Bombay auf einen seltsamen alten Mann. Subramaniam arbeitete früher im indischen Verteidigungsministerium, jetzt hockt er Abend für Abend in der Bar und erzählt Geschichten, umringt von Freunden und Bekannten. Ranjit sitzt am Nebentisch, gehört aber bald schon zum gebannten Auditorium. Obwohl er eher technisch veranlagt ist, faszinieren ihn Subramaniams Geschichten von Gespenstern und anderen wenig alltäglichen Begebenheiten so sehr, dass er sie aufschreiben muss. Zum Erzählen gehört das Weitererzählen dazu, das ist die erste Einsicht. Und das Erzählen verändert die Menschen. Am Ende nämlich ist Ranjit, der anfangs neu und einsam in Bombay war und an einem "gebrochenen Herzen" litt, in "seiner" Stadt angekommen. Subramaniams Geschichten haben sie ihm aufgeschlossen, und das Erzählen hat sich selbst als Thema gefunden.

Chandra schafft mit diesem Trick nicht nur Distanz zu seinen Geschichten. Recht unbescheiden zieht er eine Linie von seinem eigenen Erzählen zu den vorbildhaften indischen Großepen, dem Mahabharata und dem Ramayana. Subramaniam erscheint als eine geradezu mythische Verkörperung des lebenserfahrenen Weisen. Er steht in der Tradition des mündlichen Erzählens, die in einem Land mit weit verbreitetem Analphabetismus auch heute noch - trotz der Übermacht des Fernsehens - von großer Bedeutung ist. Doch auch er ist nur ein Glied in der unendlichen Kette der Erzähler und gibt weiter, was er von anderen gehört hat. Eine der fünf Geschichten wurde Subramaniam von einem Mitreisenden in einem finsteren Zug erzählt, "während wir uns über den nächtlichen Wahn unseres Landes hinweg in unser Zuhause zurücksehnten". In einer anderen Geschichte reist eine Witwe durch das Land, auf der Suche nach ihrem Mann, einem Flieger, der im Weltkrieg abgeschossen wurde und vermisst wird. Von ihm findet sie keine Spur, aber überall trägt man ihr seltsame Geschichten zu, die sie Shiv, einem jungen Mann an einer Bahnstation, weitergibt. Schließlich fasst auch Shiv den Mut, ihr mit einer eigenen Geschichte zu antworten. Das Erzählen wird so zum erotischen Akt und stellt eine Nähe her, wie sie zwischen Fremden sonst nicht zu erreichen wäre. Am Ende heiraten die beiden.

Vikram Chandra, 1961 in Neu-Delhi geboren, bezeichnet sich selbst als "storyteller" und lehnt den Titel eines Autors ab, weil er diesen Begriff, der originäres Erfinden und Authentizität meint, für zu romantisch hält. In seinen Büchern ist stets seine E-Mail-Adresse angegeben, denn er legt Wert darauf, mit seinem Publikum in Kontakt zu treten und zu erfahren, welchen Weg seine Geschichten durch die Welt nehmen. Chandra schrieb zunächst Filmdrehbücher, weil das in der Familie lag: Seine Mutter ist eine renommierte indische Drehbuchautorin. Er ging in die USA, studierte an der Filmhochschule der Columbia University in New York, begann dort aber, an seinem ersten Roman zu arbeiten: "Tanz der Götter", auf Deutsch 1997 erschienen. Sechs Jahre arbeitete er an diesem Buch und durchlief während dieser Zeit eine Reihe von Creative-Writing-Kursen. Selbst das hat ihm nicht geschadet. Heute unterrichtet er Creative Writing in Washington D.C., ein Brotberuf, der ein dauerndes Doppelleben zwischen den Vereinigten Staaten und Bombay zur Folge hat.

Vikram Chandra ist der glückliche Fall eines Autors, der die Vorzüge der literarischen Tradition zweier Länder zu verbinden weiß: den Reichtum und die Weisheit Indiens mit der Kunstfertigkeit amerikanischen Erzählhandwerks. "Die fünf Seiten des Lebens" sind eine Liebeserklärung an Bombay, vielleicht eine Art Heimatroman, und doch Teil der amerikanischen Literatur, Beispiel ihrer Weltoffenheit und Vielfalt. Spielerisch leicht erprobt Chandra unterschiedliche Genres und Milieus: Gespenstergeschichte, Detective-Story, Familiengeschichte, Arbeitsleben, Pornographie. Jedes Genre treibt er über seine konventionellen Grenzen hinaus und benutzt es als Medium der Selbsterkenntnis. Der alte Soldat, der im verlassenen Haus seiner Kindheit von einem Gespenst bedrängt wird, erkennt darin sein eigenes, zurückgelassenes Ich. Der melancholische Detektiv, der die Hintergründe eines Leidenschafts-Mordes recherchiert, muss selbst die Trennung von seiner Frau überwinden und - nach einer letzten erotischen Begegnung mit ihr - in ein neues Leben zurückfinden. Der schwule Computerexperte, der mit einem grundlegenden Systemfehler befasst ist, muss entdecken, dass sein Lover ein kriminelles Doppelleben führt.

Kein Wunder, dass es in diesen Geschichten immer wieder um die Liebe als Extremerfahrung geht, oder, wie die letzten Worte des Buches lauten, um "das Leben selbst". Das ist bei Vikram Chandra kräftig, überraschend, vielfältig. Und wem das nicht genug ist, der kann sich an der exotischen Würze freuen und im angefügten Glossar die eingestreuten indischen Begriffe studieren: Agarbatti sind Räucherstäbchen, Garara weite Hosen. Das weiß man dann auch.

JÖRG MAGENAU

Vikram Chandra: "Die fünf Seiten des Lebens. Bombay-Geschichten". Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Seeberger. Aufbau Verlag, Berlin 1999, 304 S., geb., 36,- DM.

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