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  • Buch mit Leinen-Einband

Produktdetails
  • Verlag: WBG Academic
  • 1997.
  • Deutsch
  • Abmessung: 77mm x 159mm x 225mm
  • Gewicht: 2108g
  • ISBN-13: 9783534031023
  • ISBN-10: 3534031024
  • Artikelnr.: 05027674
Autorenporträt
Dr. Hanno Beck ist Wirtschaftsredakteuer bei der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.10.1997

Der kühle Kühne in der Hitze der Nacht
Sechs Jahre Einsamkeit: Alexander von Humboldts Reise ins tiefe Amerika / Von Gerrit Walther

Dem neunzehnten Jahrhundert galt Humboldts Expedition als zweite Entdeckung Amerikas. Doch zu den Klassikern der Reiseliteratur hat sein Bericht zumindest in Deutschland nie gehört - schon deshalb nicht, weil er ihn auf französisch schrieb: in der Sprache des Landes, das seine geistige und physische Wahlheimat wurde, weil es einem Naturwissenschaftler unendlich mehr bieten konnte als das heimatliche Preußen. Nur aus dürftigen Übersetzungen kannte das deutsche Publikum seine "Reise in die Aequinoctial-Gegenden in den Jahren 1799, 1800, 1801, 1802, 1803 und 1804".

Mehr noch minderte sein Stil die Wirkung des Werks. Denn einen konventionellen Reisebericht hatte er niemals geben wollen. Persönliche Erlebnisse zu schildern, hielt der Gelehrte für unsachlich, der Aristokrat für vulgär. Vielmehr wollte er am Beispiel Südamerikas (in das ihn eher Zufälle als Planung geführt hatten) das Modell einer Wissenschaft entwickeln, "die noch kaum skizziert ist und unbestimmt genug Physik der Erde, Theorie der Erde oder Physikalische Geographie genannt wird": eine systematische, streng empirische Analyse der gesetzhaften Wechselbeziehungen zwischen Pflanzen und Tieren "und der ewigen Bande, welche die Erscheinungen des Lebens mit denen der unbelebten Natur verknüpfen".

Deshalb hatte der junge Bergbauspezialist fünf Jahre lang die modernsten Methoden der Geologie, Meteorologie und Vermessungstechnik studiert. Deshalb hatte er auf reißenden Urwaldflüssen und vereisten Gebirgspfaden mehr als fünfzig zum Teil hochkomplizierte Meßgeräte mitgeführt und ganze Maultierkarawanen mit Gesteinsproben, Tier- und Pflanzenpräparaten beladen. Deshalb opferte er nach seiner Rückkehr den Rest seines Vermögens (und mehr noch), um die einzigartige Ausbeute möglichst vollständig zu publizieren. Hatten alle Entdecker vor ihm Waffenruhm, Handelswege oder Gold gesucht, war seine Reise die erste gewesen, die allein der Wissenschaft gewidmet war. In den Tropen Südamerikas hatte er jenes Ideal reiner, zweckfreier Forschung erprobt, das sein Bruder Wilhelm 1810 zum Leitprinzip der Musteruniversität Berlin erheben sollte.

Deshalb verstand es sich für ihn von selbst, daß der Ertrag der Reise in streng thematischer Ordnung veröffentlicht werden müsse. Erst 1812, als die teuren Reproduktionen der Karten, Meßreihen und der 5800 Pflanzen nicht mehr anders finanzierbar waren, entschloß er sich widerwillig, doch noch eine populäre "rélation historique" zu schreiben. In zahllosen Einzellieferungen schilderte er die Seefahrt von Spanien über Teneriffa nach Venezuela und die Expedition, die ihn von Caracas durch den Dschungel den Rio Negro hinauf und den Orinoco hinab geführt hatte. Doch 1834, nach 35 Bänden, brach er das Werk unvollendet ab. Was er in den Anden und in Mexiko erlebt und erforscht hatte - unter anderem den Chimborazo, dessen Besteigung ihn zum modernen Petrarca gemacht hatte - mußte das Publikum in früheren Veröffentlichungen nachlesen.

Die dreibändige Neuübersetzung des monumentalen Berichts, die erste einigermaßen zuverlässige, krönt jetzt die siebenbändige, noch als deutsch-deutsches Gemeinschaftsprojekt begonnene Studienausgabe. Auch sie ist das Verdienst des Mannes, der seit genau fünfzig Jahren nahezu allein das trägt, was man die deutsche "Humboldt-Forschung" nennen könnte: des Bonner Emeritus Hanno Beck. Die allgemeine deutsche Wissenschaftsgeschichte hingegen nimmt - über Einzelaspekte hinaus - von Humboldt keine Notiz. Gelegentliche Tagungen (siehe etwa F.A.Z. vom 18. Juni 1997) offenbaren eine peinliche Ratlosigkeit darüber, welche übergreifenden historischen Fragen an ein Werk zu richten sind, das in seiner beschämenden Vielseitigkeit selbst wie ein Urwald, wie eine Andenkette des Wissens vor dem eingeschüchterten Leser liegt. Wer also kann in dieser Studienausgabe was studieren?

Gewiß - wer Südamerika selbst bereist hat (oder auch nur Teneriffa, das Humboldt als Kurort für Schwermütige rühmt), wird Vergleiche anstellen: beklommen die Schilderung eines damals paradiesisch unberührten Kontinents verfolgen, dessen Apokalypse durch Menschenhand in wenigen Jahren vollendet sein wird. Für solche Leser werden Humboldts Landschaftsporträts gerade in ihrer überklaren Genauigkeit etwas von jener seltsam visionären Tönung annehmen, die der heutige Betrachter etwa an den Greifswald-Panoramen des fünf Jahre jüngeren Caspar David Friedrich wahrnimmt.

Doch ein Traumland war Humboldts Südamerika auch den Zeitgenossen. Man muß nur die unbeholfenen Vedouten betrachten, die sie nach seinen Skizzen schufen, um zu ermessen, wie sehr seine Schilderungen riesiger Räume, unüberschaubarer Urwälder, gigantischer, die Alpen um ein Vielfaches überragender Bergmassive ihre Vorstellungskraft überforderten. Derlei liege, erklärte der alte Goethe maliziös, "außer den Grenzen meines Kopfes, in den düsteren Regionen, wo die Transsubstantiation hauset", sei letztlich raffinierte Redekunst, die dem Leser "einbilden möchte, man begreife das Unmögliche". Eben die Verbindung von Gigantomanie und Präzision aber faszinierte die Romantiker. Kein kühneres Symbol wußte Hector Berlioz für Beethovens übermenschliches Genie zu erfinden als das des riesigen Kondors, der "gewaltig und einsam dahingleitet über die schneebedeckten Gipfel des Chimborazo", in Höhen, in denen andere Kreaturen nicht einmal mehr atmen könnten.

Das hatte Humboldt 1808 in den "Ansichten der Natur" beschrieben. Doch auch sein tropischer Reisebericht kulminiert immer wieder in Beschwörungen des Riesenhaften, in gewaltigen Panoramen von Berggipfeln hinab auf die Unendlichkeit des Ozeans oder immergrüner Urwälder. Allenfalls die Kunst kann eine Ahnung des Unermeßlichen evozieren, das ihn, der alles mißt, so sehr in den Bann zieht. Der überwältigende Fernblick vom Küstengebirge Venezuelas hinaus aufs Meer etwa erinnert ihn "an den Hintergrund der phantastischen Landschaft, mit der Leonardo da Vinci das berühmte Bild der Gioconda schmückte". So beglaubigt moderne Wissenschaft die Wahrheit genialer Vision. Humboldt, der Altersgenosse des Grenzzerschmetterers Napoleon, bestätigt seinen romantischen Zeitgenossen, daß das Grenzenlose keine revidierbare Utopie ist, sondern tatsächlich existiert.

Die Kehrseite des Unendlichen ist Einsamkeit. Hofmannsthal wußte, weshalb er 1922 von Humboldt gerade die Beschreibung der Indianer-Totenstadt Ataruipe in sein "Deutsches Lesebuch" aufnahm. Doch Humboldts Einsamkeit hat nichts von Melancholie. Es ist vielmehr das Pathos des Entdeckers, der seiner Mitwelt voraus beziehungsweise, wie er in der Chimborazo-Beschreibung sagt: der "überall zuerst" ist. Auch die gewaltigste Natur erschreckt ihn nicht, weil er analysierend über sie verfügt. Kaum haben die Boote am sumpfigen Ufer des Rio Negro angelegt, packt Humboldt die Instrumente aus. Unbeeindruckt von Jaguaren und Moskitos beginnt er zu zeichnen, zu messen, zu botanisieren. Der Urwald wird zum Laboratorium, die eigene Person zum Medium, neue, aufregende, aber doch rational erklärbare, daher versichernde Befunde festzuhalten.

Nirgends schont sich der Forscher. Während die Sohlen seiner Stiefel verschmoren, zieht er Luftproben aus dem Krater eines Vulkans. Während der Boden von Erdstößen bebt, ein heftiges Tropengewitter niedergeht, eilt er hinaus, um die Elektrizität der Blitze zu ermitteln. Furchtlos experimentiert er mit elektrischen Aalen, obwohl zwei der Pferde, die die Indianer ins Wasser getrieben haben, damit sich die Fische entladen und so überhaupt gefangen werden können, tot im Fluß versinken. Kühn kostet er vom tödlichen Kurare: Es schmecke angenehm bitter, nur dürfe man keine offene Wunde im Mund haben.

In tropischer Hitze triumphiert die Kälte dessen, der für die Wissenschaft bereit ist, sein Selbst gleichsam auszulöschen. Die Zähmung des Bedrohlichen durch exakte Messung und rationale Erklärung bestimmt das Bauprinzip des ganzen Buches. Sobald in Humboldts Schilderung ein neues Naturphänomen zur Sprache kommt - eine auffällige Gesteins- oder Wolkenformation, eine neue Pflanzen- oder Tierart, ein "malerischer" Ort -, unterbricht er den Erzählfluß, um das Phänomen in einem Exkurs wissenschaftlich zu erklären. So läutert sich jeder persönliche Eindruck zur Erkenntnis. Aber umgekehrt: Wer wissen will, braucht erlebte Eindrücke.

Menschen aber kleben an Theorien, tragen ihre Torheiten und Fanatismen noch hinaus in den Urwald. So zeichnet der Zyniker Humboldt sie oft genug als Karikaturen. Da ist der Missionar, der im Dauerrechtsstreit mit den übrigen Bewohnern der Station lebt und penetrant über Metaphysik räsoniert; der versprengte Deutsche, der in dumpfer Trägheit verblödet ist, aber auch der nackte schwarze Zambo, der seine Stammesgenossen verachtet, weil er sich für weißer hält; schließlich die Indianer, die sich statt der alten kunstvollen Muster lieber europäische Uniformen auf die Haut malen. Traurige Tropen hat nicht erst Claude Lévi-Strauss gesehen.

Unangepaßte Eingeborene beschreibt Humboldt respektvoller: so genau wie möglich, ohne Sympathie und Sentimentalität, deshalb gerecht. Er konstatiert ihre unüberwindliche Fremdheit, ihre traurige Lethargie, in der gelegentlich Tücke aufflammen kann. Doch nicht aus Klima oder Volkscharakter erklärt er dies, sondern aus einer kulturellen Entwurzelung, einer oberflächlichen Christianisierung, die sie ihren Traditionen entfremdet, ihre alten Religionen zur abergläubischen Magie herabgewürdigt habe. Sowenig er sonst in Tiraden gegen Missionare oder selbst Conquistadoren einstimmt, so sehr empört ihn die Misere der Indianer wie die der schwarzen Sklaven - weniger aus Mitleid als aus Zorn über die Unvernunft der Weißen, die, wie er meint, mit der Selbsttätigkeit dieser Menschen den Wohlstand des Landes verhinderten. "Man beredet sich gern, diese Eingeborenen, die um einen Feuerherd hocken, mit Erdöl und Fett bestrichen sind und stundenlang den dummen Blick auf das Getränk heften, dessen Zubereitung sie beschäftigt, seien keineswegs der Urtypus unseres Geschlechts, sondern vielmehr ein ausgearteter Stamm beziehungsweise die schwachen Überreste von Völkerschaften, die durch langen und verstreuten Aufenthalt in den Wäldern in Barbarei zurückgesunken sind."

Das ist die Dämonie der Natur: Unversehens kann sie sich das Zivilisierte, ihr Entzogene zurückholen. "Mitten in der Nacht", so erzählt Humboldt, diese Abschweifung ausdrücklich entschuldigend, über eine Rast am Ufer des Orinoco, "meldeten die Indianer, daß man das Gebrüll des Jaguars sehr nahe höre. Weil unsere Feuer gut brannten und man sich infolge längerer Gewöhnung endlich (ich möchte sagen, systematisch) auch über nicht bloß eingebildete Gefahren beruhigt, blieben wir ziemlich gleichgültig." Am Morgen jedoch ist sein großer Hund, eine kräftige Dogge, die unter seiner Hängematte schlief, verschwunden. "Es blieb kein Zweifel, daß die Jaguare ihn geraubt hatten. Vielleicht hatte er sich, als ihr Gebrüll aufhörte, vom Feuer gegen das Ufer hin entfernt. Doch die Anwohner des Orinoco hatten uns öfters versichert, die ältesten Jaguare seien listig genug, um Tiere aus der Mitte eines Biwaks zu entführen, indem sie durch Würgen ihr Schreien ersticken."

Nicht immer schützt das Licht der Vernunft gegen die List der Natur. Wer sich in ihre Schatten locken läßt, ist verloren. Humboldt, der Entdecker, den das Unterirdische fesselt, der am liebsten in Höhlen eindringt und vulkanischen Bewegungen nachforscht, weiß es. So erhält sein kluges Buch Unterströmungen, die nicht der geringste Grund dafür sind, daß es noch den heutigen Leser anlockt und festhält, wo immer er die Leseexpedition beginnt. Nicht allein dem Scharfsinn seiner Analysen, sondern gerade dem hellen Blick für Ambivalenzen verdankt es bewundernswürdige Zeitlosigkeit.

Alexander von Humboldt: "Die Forschungsreise in den Tropen Amerikas".Herausgegeben von Hanno Beck. Studienausgabe, Band II in drei Teilbänden. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1997. XI/ 441, VI/371, VII/494 S., geb., zus. 198,- DM. Gesamtpr. für alle 7 Bände 650,-, vom 1. 1. 1999 an 750,- DM.

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