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Friedrich Christian Delius greift in diesem Buch einen Vorfall auf, der 1997 durch die Presse ging. Ein Mitglied des Orchesters der Deutschen Oper Berlin hatte bei einem Gastspiel in Israel mit der Provokation seiner Unterschrift als 'Adolf Hitler' die deutsch-israelischen Beziehungen auf das empfindlichste gestört. Delius deutet dieses spektakuläre Ereignis auf seine Weise. Mit sprachlicher Präzision, feiner Psychologie und ironisch gefärbter politischer Aufmerksamkeit fragt er: Was führt einen, der kein Antisemit ist, zu solch einer Entgleisung?Die Erzählung ist in der lockeren Form eines…mehr

Produktbeschreibung
Friedrich Christian Delius greift in diesem Buch einen Vorfall auf, der 1997 durch die Presse ging. Ein Mitglied des Orchesters der Deutschen Oper Berlin hatte bei einem Gastspiel in Israel mit der Provokation seiner Unterschrift als 'Adolf Hitler' die deutsch-israelischen Beziehungen auf das empfindlichste gestört. Delius deutet dieses spektakuläre Ereignis auf seine Weise. Mit sprachlicher Präzision, feiner Psychologie und ironisch gefärbter politischer Aufmerksamkeit fragt er: Was führt einen, der kein Antisemit ist, zu solch einer Entgleisung?Die Erzählung ist in der lockeren Form eines Tagebuchs geschrieben. Der Musiker, ein Posaunist, versucht auf Anraten seines Anwalts alles Material zu sammeln und zu notieren, was er zu seiner Verteidigung vorbringen könnte: seine Karriere als Musiker, seine Ängste beim Flug nach Israel, seine Liebesbeziehung zu einer Bratschistin. Aus allen Bindungen entlassen, läuft er, Hitler-Monster und Philosemit, durch das swingende, bebende Berlin des Jahres 1998. Eine Erzählung mit dem Sog und der sprachlichen Spannung der besten Delius-Bücher.
Autorenporträt
Delius, Friedrich ChristianFriedrich Christian Delius, geboren 1943 in Rom, in Hessen aufgewachsen, lebt seit 1963 in Berlin. Zuletzt erschienen der Roman «Wenn die Chinesen Rügen kaufen, dann denkt an mich» (2019) und der Erzählungsband «Die sieben Sprachen des Schweigens» (2021). Delius wurde unter anderem mit dem Fontane-Preis, dem Joseph-Breitbach-Preis und dem Georg-Büchner-Preis geehrt. Seine Werkausgabe im Rowohlt Taschenbuch Verlag umfasst derzeit achtzehn Bände.
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 28.08.1999

Posaunen gegen Berlin
Friedrich Christian Delius' Erzählung "Die Flatterzunge"

Der Fall ist bekannt und sorgte weltweit für Schlagzeilen: Im Frühjahr 1997 unterschrieb ein Bassist der Deutschen Oper Berlin während einer Israel-Tournee seines Orchesters eine Hotelrechnung in Tel Aviv mit "Adolf Hitler". Der Mann, seit zwanzig Jahren Mitglied des Orchesters und rechtsradikaler Neigungen bis dahin nicht verdächtig, wurde sofort nach Hause geschickt und fristlos entlassen. Das Orchester hatte keine andere Wahl, um seinen Ruf zu retten und die Tournee fortzusetzen. Vergeblich versuchte der Musiker, vor Gericht seine Wiedereinstellung durchzusetzen.

Der Berliner Autor Friedrich Christian Delius hat aus dieser Geschichte nun eine Erzählung geschmiedet. Mit dem Bassisten hat er nicht gesprochen, sondern ausschließlich Zeitungsberichte und Archivmaterialien studiert. Delius nimmt sich die literarische Freiheit, zum authentischen Fall eine mögliche Figur zu erfinden und sie mit einer Musiker-Biografie voller beruflicher Kränkungen, beamtenhafter Frustrationen und erotischer Demütigungen auszustatten. Hannes, so der Name seines Helden, erinnert in seiner Getriebenheit und dem Gefühl, einer großen Ungerechtigkeit ausgesetzt zu sein, ein wenig an Martin Walsers amokhaften Beamten aus "Finks Krieg".

Hannes kämpft einen ähnlich vergeblichen Kampf auf verlorenem Posten und gerät - allein gegen alle - aus der Routine des Alltags in eine schmerzliche Isolation. Die Übereinstimmungen mit Walsers Roman sind kein Zufall, denn ein Orchester unterscheidet sich kaum von einem Verwaltungsapparat. Beamtenmentalität und das Bedürfnis nach einem lebenslangen Sitzplatz, am besten mit Solozulage, gibt es hier wie dort. Und das Tourneemotto des Musikers "Kirchen von außen, Kneipen von innen, Kollegen von weitem" ist ebenfalls leicht auf andere Berufszweige übertragbar.

Auf den ersten Blick mag es erstaunen, dass ein Autor wie Delius, der einst gegen "Institutionen der Macht" anschrieb, sich nun ausgerechnet zum Advokaten eines fragwürdigen Musikers aufschwingt. Hat sich die kritische Instanz "Literatur" endgültig in die bedingungslose Affirmation verabschiedet? Ist, wo früher Antifaschismus Pflicht war, heute die Parteinahme für einen Möchtegern-Hitler opportun?

Doch ganz so einfach ist es nicht. "Die Flatterzunge" fügt sich durchaus konsequent in Delius' langjährige Rolle als dokumentierender Chronist: die Erkundung deutscher Befindlichkeiten, die von seinen RAF-Romanen der achtziger Jahre bis zur Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung in der zuletzt erschienenen, autobiografischen Erzählung "Amerikahaus und der Kampf um die Frauen" (1997) reicht. "Die Flatterzunge" erschöpft sich keineswegs in Empathie für einen fragwürdigen Helden, sondern beschäftigt sich zugleich mit der moralischen Schieflage deutscher Erinnerungspolitik und den störenden Untertönen im deutschen Wohlbefinden. Was ist schon die Dummheit eines geschmacklosen Witzes gegen die Skrupellosigkeit der deutschen Unternehmer, die den Irak mit Raketenteilen belieferten - und straffrei ausgingen? Hat Hannes nicht Recht, wenn er sich als Opfer einer Öffentlichkeit fühlt, die es immer noch nötig hat, ihren Teufel auszutreiben? Sollten die Deutschen ihm nicht, wie er meint, "dankbar" dafür sein, dass er ihnen die Last abgenommen hat, Adolf Hitler zu sein? "Habe die Getränkerechnung, die Quittung für alle unterschrieben und krieg die Quittung dafür", notiert er. "So einfach ist das."

"Die Flatterzunge" ist ein monologischer, tagebuchartiger Text, eine Verteidigungsschrift, die der Ich-Erzähler im Auftrag seines Anwalts zur Verwendung vor dem Arbeitsgericht verfasst und die sich deshalb direkt an den "Herrn Richter" wendet. Die Gründe, die Hannes zu seiner Verteidigung vorbringt, reichen von "Trunkenheit" über "dummer Witz", Kellnerprüfung und "Kunstaktion" bis zur großen Opfergeste. Das "Verbrechen" selbst ist zwar Auslöser und Triebfeder der Erzählung, bleibt aber bis kurz vor ihrem Ende seltsam nebulös. Erst im letzten der drei Kapitel erfährt man den Gegenstand der Anschuldigungen. Doch da hat Hannes längst erklärt, "nur noch für mich" zu schreiben, da geht es längst um viel mehr als nur um "die Tat": um die Auseinandersetzung mit dem eigenen Leben, um den Verlust der Arbeit und den nun drohenden lebenslänglichen Beifallsentzug, um eine gescheiterte Liebe und um den Versuch, neuen Boden unter die Füße zu bekommen. Eine Existenz steht auf dem Prüfstand, von der es heißt: "Ich habe alles falsch gemacht, ich bin schuldig."

Trotzdem bedarf es einer Frau, um zu einer befriedigenderen Erklärung seiner Tat vorzudringen. Ihr gegenüber ist mehr Raum für Aufrichtigkeit als vor einer Öffentlichkeit, die nach dem Bösewicht giert. "Immer wenn ich in Israel bin, spüre ich den Holocaust im Gepäck", sagt Hannes zu ihr. "Jeder Atemzug ist politisch. Und wenn Sie Deutscher sind, dann wandeln Sie wie Jesus auf einem Pulverfass." Den Zwang, ständig nett sein zu müssen und versöhnungsdienlich, vergleicht er mit der erzwungenen Ruhe eines Konzertbesuchers, den ein Hustenreiz quält. Und der, je mehr er dagegen ankämpft, umso dringlicher husten muss. Hannes' Husten heißt Hitler. Es ist ein neurotischer Zwang, hervorgerufen durch den Druck, der nationalen Verantwortung nicht entkommen zu können. So ist Hannes' Hitler-Unterschrift ein psychotischer Reiz, ein Katarrh ohne Katharsis, eine Verstrickung in kollektive Verantwortung.

Im Unterschied zum historischen Vorbild hat Delius seinen Hannes als Posaunisten entworfen. Mit den Eigenheiten und technischen Schwierigkeiten der Posaune kennt der Autor sich aus, weil er in seiner Jugend selbst zwei Jahre lang auf diesem schwer zu spielenden Instrument übte. Außerdem macht es den schönen doppeldeutigen Titel "Die Flatterzunge" möglich: Die Bläser-Technik, durch ein rollendes Zungen-r ein Tremolo zu erzeugen, wird zum Symbol des atmenlosen, ratternden Sprechens. Dass Hannes auch mit Flatterzunge küsst, damit aber bloß die Frauen irritiert, ist nur ein kleiner Gag am Rande. Wichtiger ist die berufsbedingte Psychopathologie der mit einem gehörigen Minderwertigkeitsgefühl belasteten Posaunisten: Im Orchester gehören sie zu den "Tuttischweinen" und werden mancherorts respektlos "Sautrompeter" genannt. Ihr Bedürfnis nach Geltung muss sich in wenigen kraftvollen Akkorden jeden Abend austoben.

Eine große Qualität der Erzählung ist die Präzision, mit der Delius sich in das Berufsmusikerleben und seine Psyche einfühlt. Hannes' Reflexionsniveau pendelt zwischen sehr präziser Beobachtung und abgeschmackten Banalitäten, zwischen scharfer Wahrnehmung und weinerlichem Selbstmitleid. "Für einen Verbrecher nicht intelligent genug, für einen Nazi nicht dumm genug", so schätzt er sich selbst treffend ein. Aus seiner verzweifelten Lage im gesellschaftlichen Abseits flüchtet er sich ins Räsonnement. Weil er arbeitslos ist und viel Zeit hat, verbucht er nun all die kleinen Tätigkeiten des Alltags - Bankgeschäfte erledigen, telefonieren, einkaufen - großspurig als Aktivitäten. Aus Angst vor der Leere erhebt er das Spazierengehen zum Beruf, ein aus der Not geborener Flaneur.

Mit Hannes' Spaziergängen erhält "Die Flatterzunge" als Berlin-Buch eine weitere Ebene. Die Szene, in der Hannes auf der Infobox am Potsdamer Platz steht und sich wünscht, ein paar Fanfarenstöße aus der Posaune über das neue Berlin zu schmettern, ist eine der schönsten des Buches. Zuletzt sah man den philosophischen Helden aus Cees Nootebooms Roman "Allerseelen" hier stehen und das weite Gelände überblicken, das von den Resten des Führerbunkers und der Brachfläche des Holocaust-Mahnmals bis zum Sony-Glaspalast reicht. Diese einzigartige Schichtung von Vergangenheit und Zukunft übt auf die Literatur eine scheinbar unwiderstehliche Anziehungskraft aus. Der Potsdamer Platz: eine Metapher für die unbewältigte deutsche Geschichte, auf der sich die neue Berliner Republik erhebt. Hannes würde gerne "Jericho in Berlin" spielen. Doch die biblischen Posaunen, die angeblich die Mauern Jerichos zum Einsturz brachten, beruhen leider nur auf einem Übersetzungsfehler Luthers. So ist auch die Heldensaga der Posaunisten, die ihr Berufsethos begründen muss, bloß eine Legende.

JÖRG MAGENAU

Friedrich Christian Delius: "Die Flatterzunge". Erzählung. Rowohlt Verlag, Reinbek 1999, 142 Seiten, 29,80 DM.

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