Produktdetails
  • Verlag: Goldmann Verlag
  • ISBN-13: 9783442761425
  • ISBN-10: 3442761425
  • Artikelnr.: 21480901
Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 20.03.2001

Schwarzarbeit in Platons Höhle
Belichtung der Dunkelkammer: Roberto Casati zeigt, daß der Schatten lange Zeit im Finstern lag / Von Claudia Schmölders

Schlemihlische Mentoren der neuen Kulturwissenschaft werden an diesem Buch ihre Freude haben. Der gängigen "Schattenwirtschaft" wird, nach den Explorationen von Gombrich, Stoichiti und Baxandall, eine zunehmend greifbare "Schattenwissenschaft" zur Seite gestellt, auf dem Turnierfeld von Geistes- und Naturwissenschaft. Von der letzteren kommt der italienische Wissenschaftshistoriker Robert Casati her und behandelt nichts weniger als das Unbewußte des ganzen Feldes. Das verdient uneingeschränkte Bewunderung.

Dem Symbol aller Obskuranz, nein: der Quelle aller astronomischen Erkenntnis wird zuleibe gerückt, aufs genaueste interdisziplinär, liebevoll didaktisch und zugleich streng verfahrend mit den achtlosen Betrachtern unserer Erde. Als prominentesten nennt Casati Platon. Dessen berühmtes Höhlengleichnis liest er einleitend als irreführende Abwertung der Schatten. Casati nimmt den Ausdruck "Schatten" hier wörtlich; wohl ein Mißverständnis, doch gewiß in didaktischer Absicht. Manches an dieser Didaxe erinnert an "Sophies Welt": die fingierten Dialoge zwischen Platon und seinem Schatten, die kleinen "Zwickmühlen" für Denksportler - sind Schatten schneller als das Licht? - und das nachsichtige Festhalten am Ich-Erzähler als einer behutsamen, dem common sense angepaßten Weise der Hypothesenbildung und -untersuchung. Dem ganz normalen Leser kommen auch die vielen historischen Erzählungen entgegen, teils Anekdoten, teils Kriminalgeschichten, immer mit unglaublichen Momenten der Wissensgeschichte befaßt, dramatischen Entdeckungen von Astronomie und mathematischer Geometrie.

Nach dem Motto von Kepler "Alle Himmelsbeobachtungen erfolgen mit Hilfe von Licht und Schatten" waren planetarische Fragen das treibende Element seit der griechischen Antike. Ob die Nacht als Schatten der Erde zu betrachten sei; ob der Mond einem zyklischen Phasenverlauf folge; wie Mond- und Sonnenfinsternisse entstehen; ob die Erde rund oder flach sei; ob der Mond zu- und abnehme oder von der Sonne beleuchtet werde. Letzteres ist die erste planetarische Erkenntnis, die sich - vermutlich auf das Jahr 500 v. Chr. - datieren läßt und Parmenides zugeschrieben wird.

In welchem Ausmaß die Geschichte der Astronomie von der sorgfältigen Beobachtung und Evaluierung der Schatten abhing, dürfte kaum ein Laie vorher gewußt haben; hier kann man es lernen. Schon Aristoteles schloß aus der Beobachtung des Erdschattens auf dem Mond, daß die Erde größer als dieser und kugelförmig ist. Schon Aristarch von Samos wußte die Dynamik des Schattens, der länger und kürzer wird, mit der Stellung der Rotationsachse der Erde gegen die Sonne zu erklären. Schon Eratosthenes vermochte durch einen Schattenvergleich an zwei Punkten auf demselben Breitengrad den Erdumfang zu bestimmen.

Nach der Vermutung von Hipparch, die Sonne sei im Schnitt mindestens 490 Erdradien von der Erde entfernt, gibt es erst mehr als anderthalb Jahrtausende später, am Ende des Mittelalters, wieder eine entscheidende Schattenlektüre in rebus astronomicis. Die dramatische Entdeckung des wahren Mondgesichts durch Galileo - der Mond ist nicht glatt und blank, sondern pockennarbig und zerfurcht, hat Berge und Täler auf seiner Oberfläche - gewinnt in Casatis Beschreibung den Charakter einer weiteren Kränkung menschlichen Selbstbewußtseins, nach der kopernikanischen und vor jener durch Darwin und Freud. Aber der Fortschritt des Denkens ist unaufhaltsam. Entdeckt und vermessen wird die gesamte planetarische Besatzung des Himmels: die Saturnringe, die Größe des Merkur, die Erleuchtung der Venus und vieles andere.

Daß der Schatten etwas über die Form des Objekts aussagt, das ihn wirft, und zugleich natürlich etwas über die Lichtquelle und deren Bewegung oder Stillstand - diese ganz einfache Tatsache liegt den Entdeckungen im kosmischen Maßstab zugrunde. So gerüstet, nähert sich Casati dem unbedarften Erdenbewohner, der mehr auf den Boden als auf den Himmel schaut, und nimmt ihn an die Hand. Wie plausibel wirkt etwa das schönste Beispiel für die Kreuzung der Wissenswelten: die Sonnenuhr. Daß sie nicht bloß aus Schüssel, Zeiger und Schattenlinie besteht, sondern mit dem ganzen planetarischen System arbeitet, zusammen mit Sonne, Erde und den Bewegungen beider - diese Erkenntnis nennt Casati erst spät. Sie gilt aber natürlich für alle Schatten dieser Erde. Und hier liegt ein Problem. Es stammt aus der ethnokulturellen Betrachtung des Schattens.

Fast immer, vermerkt Casati zutreffend, sind Schatten negativ oder mindestens pejorativ konnotiert, als gäbe es keine Wüste, in der Schatten Leben bedeutet. Die Erzählungen und Glaubenssätze der Völker bekunden Angst und Sorge im Umgang mit Schatten. Wer seinen Schatten verliert, stirbt. Wer ein Schatten ist, lebt im Totenreich. Darüber will uns Casati trösten wie schon in seiner Lektüre vom platonischen Höhlengleichnis. Bei genügend astronomischer Neugier muß man einfach merken, was für großartige Erkenntnischancen der Schatten birgt, und daß alle Erzählungen trübsinnigen Inhalts bloß "Füllmaterial zur Anreicherung von Erzählungen" sind. "Folglich gibt es kein ,primitives' Denken, das Schatten für magische Dinge hält. Die ethnografischen Berichte über Schatten geben keine Überzeugungen, sondern Erzähltraditionen wieder; sie offenbaren ebensowenig eine absonderliche Psychologie bei den nichtwestlichen Völkern wie die Geschichten von Peter Schlemihl".

Wenn Kinder mit Schatten zunächst nichts anfangen können, so nur, weil die Evolution diese Wahrnehmung so tief verankert hat, daß wir unbewußt damit hantieren und es auch dabei lassen wollen. Tiere arbeiten mit den Schatten, um Beute zu machen; alle Geschöpfe nutzen Schatten, um sich einen Weg durch den euklidischen Raum zu bahnen. Offenbar liegt in der evolutionären Zielgeraden aber gleichzeitig auch ein mathematisch-planetarisches Raumbewußtsein, das zu einem bestimmten Zeitpunkt im griechischen Denken auftaucht und - jedenfalls in der westlichen Welt - Karriere macht.

In der Herleitung der Ikone westlichen Raumempfindens, der Zentralperspektive, aus dem Prinzip des Schattenwurfs, gipfelt Casatis Buch. Was immer an dieser These stimmt, sie will doch einmal mehr bestätigen, daß mit der Aufwertung des Schattens auch der Realitätssinn zunimmt, wohlgemerkt: der welträumliche Realitätssinn. Wenn die Schlagschatten in die Malerei eindringen, die sie seit Menschengedenken gemieden hat, wird der Blick der Fotografen anerkannt, die den Schatten nicht mehr ausblenden können, sondern selber eine Art Schattenkunst treiben und in der Exploration des Weltalls unentbehrliche Dienste leisten. Kurz, wer die Angst vor den Schatten überwindet, wird weltraumkompatibel. Er verliert die Angst, die aus den Volkserzählungen spricht.

Natürlich kennen alle Mythen planetarische Verhältnisse. Aber sie werden in aller Regel dramatisch familiarisiert. Sonne und Mond sind wie Mann und Frau, haben Kinder, bilden häusliche Verhältnisse ab. Der mythische Erzähler will die Angst vor dem offenen System vertreiben, denn es darf nicht bewußt werden, wovon der Schatten doch immerfort redet: das Bewußtsein, daß wir auf einer Kugel in einem irgendwie leeren Raum schweben. Daß die mathematische Planetographie dieses Bewußtsein zuläßt, kann als antimythische Position schlechthin gelten.

Gerade weil der Autor so denkt, liest er Platon falsch. Den allegorischen Schatten auf der Höhlenwand steht im Rücken der Betrachter keine höherdimensionale Wirklichkeit entgegen, sondern die wirklichkeitszeugende Idee. Und diese, als Idee des Guten, stammt aus dem System der Sprache. Ausgesprochen wird sie zu einem akustischen Phänomen. Auch Schallwellen werfen so etwas wie Schatten, wenn sie auf resonante Körper treffen. Aber wir nennen sie "Echo" und finden die so erwidernden Objekte vergleichsweise lebendig.

Roberto Casati: "Die Entdeckung des Schattens". Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag, Berlin 2001. 304 S., geb., 39,80 DM.

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 21.03.2001

Wir Schatten sind voller Gedanken
Einige davon bringt Roberto Casati ans Tageslicht, wenn er die faszinierende Karriere dieser rätselhaften Erscheinung beschreibt
Beim Schatten wird Philosophie, wird Wissenschaftsgeschichte zum Kinderspiel. Kein Wunder, angesichts eines Phänomens, das zu physikalischen Überlegungen genauso verlockt wie zu psychologischer Reflexion: „Wenn wir über das sonderbare Verhalten der Schatten nachdenken, machen sich beide, Geist und Materie, an die Arbeit. ”
Ein sonderbares Verhalten, in der Tat – schon immer war man geneigt, dem Schatten ein Eigenleben anzuerkennen. Weshalb Roberto Casati ihn, in der Gestalt des griechischen Skia, mit dem Schatten-Philosophen par excellence, mit Platon ins Gespräch kommen lässt, beim Spaziergang unterhalb der Akropolis, in grellem Mittagslicht und beim Zirpen der Zikaden. Mit dem Höhlengleichnis wurde der Schatten philosophiewürdig und -verdächtig, und bis heute spukt er deshalb auch durch alle Überlegungen zu Ästhetik, Semiotik, Psychologie.
Süffisant bewegt sich Casati zwischen Pathos und Ironie. Der Mailänder in Paris – er lehrt dort am CREA, am Centre de Recherche en Epistémologie Appliquée – hat sich offensichtlich den Kollegen Eco zum Vorbild genommen und wurde dafür damit belohnt, dass eben jener sich zum Casati-Fan erklärte. Wie Eco operiert auch Casati mit Verfremdungseffekten – jeder weiß schließlich aus eigenen Erfahrungen, was ein Schatten ist. Und jeder kennt jene Scheu, die einen befällt, wenn man seinen Schatten genauer unter Beobachtung stellt, ihn auf seine Substanz hin untersucht. So kommen denn auch die Kinder ausgiebig zu Wort, wenn Casati die Untersuchungen von Jean Piaget und seinen Kollegen behandelt.
Eine Erscheinung, die materiell und immateriell zugleich ist, das hat den Schatten für den Mythos prädestiniert und zum Objekt der exakten Wissenschaft gemacht. Er steht im Mittelpunkt der Dialektik von An- und Abwesenheit – mit einem Schattenriss wollte, anfangs, eine junge Frau das Bild des Geliebten, als er sie verließ, an der Mauer des Elternhauses fixieren – das erste Ab-Bild der Geschichte: als würde der vom lebenden Objekt gemachte Schatten sein Leben auch in der Abwesenheit bewahren. Wir werden diese Vorstellung wiederfinden in jenem Toten, dessen Schattenriss vom Blitz der Atombombenexplosion in Hiroshima an einer Wand verewigt wurde.
Der Schatten entsteht, wenn man dem Licht den Weg verbaut, mit dem Prinzip von Transparenz und Undurchdringlichkeit. Ein simples Prinzip, das dennoch Probleme bereitet – sieben Zwickmühlen, wie Casati das nennt. Was, fragt er, hat es zum Beispiel mit dem so genannten Schatten der Nacht auf sich? Oder was passiert mit einem Schatten, der von einem anderen geschluckt wird – wird er substantiell ausgelöscht, lebt er weiter? Wann, eine Fangfrage, gibt es eigentlich mehr Sonnenfinsternisse, bei vollem oder bei halbem Malbmond?
Das Buch ist ein Kompendium der Schattenspiele, und natürlich spielt die Astronomie die wichtigste Rolle, jene Wissenschaft, in der nüchterne Beobachtung und spekulative Erklärungssehnsucht am engsten sich vereinen. Am Ende aber wendet der Blick sich vom Himmel zur Realität zurück. In bildlicher Darstellung, erklärt Casati, braucht man den Schatten vor allem, um den Menschen in der Welt zu verankern – ohne Schatten, ohne Berührungspunkt würde er im Raum frei schweben. Lassen wir also dem treuen Skia das letzte Wort: „Wir sind ungewöhnliche Erscheinungen, weil wir uns auf halbem Wege zwischen Wahrnehmung und Denken aufhalten . . . Jeder Schatten enthält eine Botschaft, die er in seiner dunklen Hülle gut verwahrt. Wir Schatten sind voller Gedanken. Doch diese Gedanken sind für jedermann sichtbar. ”
FRITZ GÖTTLER
ROBERTO CASATI: Die Entdeckung des Schattens. Die faszinierende Karriere einer rätselhaften Erscheinung. Aus dem Italienischen von Barbara Schaden. Berlin Verlag 2001. 325 S. , 39,80 Mark.
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Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.diz-muenchen.de
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